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Der Weg des Lebens

23.01.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Relationen erfassen wir mittels des Gebrauchs von Präpositionen und adverbiellen Komparativen wie über, unter, zwischen, früher, später.

Es ist offensichtlich, daß wir zum Ausdruck zeitlicher Relationen den korrekten Umgang mit den Tempora des Verbs beherrschen müssen. Wenn das Kind durch den Mund der Mutter erfährt: „Vater kommt heute später“, weiß es, daß der Vater später als üblich und gewohnt nach Hause kommt. Der Sachverhalt, daß der Vater später als gewohnt heimkehrt, ist ein Gedanke, der von der Aussage der Mutter impliziert wird und den das Kind erfassen muß.

Mit dem Verstehen von Äußerungen wie „Die Puppe liegt auf dem Sofa“ oder „Der Ball ist unter den Schrank gerollt“ hat das Kind eine wesentliche Raumvorstellung mit den zugehörigen Koordinaten entwickelt, die im Fluchtpunkt seiner Beobachterposition zusammenlaufen.

Äußerungen wie „Die Katze sitzt rechts neben dem Gummibaum“ und „Die Katze sitzt links neben der Kommode“ können mittels Beherrschung des Relationsausdrucks in folgende Aussage umgeformt werden: „Die Katze sitzt zwischen dem Gummibaum und der Kommode.“

Nicht nur anhand von Zeitadverbien wie früher und später, sondern schon in der Verwendung einfacher Tätigkeitswörter wie gehen, laufen, fallen, springen entwickeln und differenzieren wir unseren Zeitbegriff.

Versteht das Kind die Äußerungen „Die Katze sitzt auf der Kommode“ und „Die Katze ist vom Sofa auf die Kommode gesprungen“, gelingt ihm die adäquate Integration von Raum- und Zeitvorstellungen, die sich in dem Satz ausdrücken läßt: „Nachdem die Katze vom Sofa auf die Kommode gesprungen ist, sitzt sie jetzt dort.“

Wir unterscheiden den Beginn eines Verlaufs oder Geschehens, seine Dauer und sein mehr oder weniger abruptes oder ausschleichendes Ende. Um die Dauer beispielsweise einer Melodie oder des Regens abzuschätzen, müssen wir uns bei dem Ausklingen und Enden solcher Ereignisse an ihren Beginn erinnern können.

Weil die adäquate Bildung des Zeitbegriffs auf die Leistungen des Gedächtnisses angewiesen ist, erweist sie sich als komplexer als diejenige des Raumbegriffs.

„Bevor es zu regnen begann, war die Straße trocken.“ – „Während es regnete, wurde die Straße naß.“ – „Nachdem es geregnet hatte, war die Straße naß.“ Mit der korrekten Verwendung temporaler Konjunktionen wie bevor, während, nachdem und der Markierung der Zeitstufen durch die korrekten Tempora des Verbs gelingt uns der sprachliche Zugriff auf die Darstellung der Verhältnisse von Vorzeitigkeit, Nachzeitigkeit und Gleichzeitigkeit.

Wir betrachten die deiktische Trias aus ich, jetzt, hier als primordiales Begriffsnetz. Manchmal genügt die elementare Deixis; so wenn wir auf der Parkbank sitzend zu dem Freund, der noch kurz eine Besorgung machen und dann wieder zu uns stoßen will, sagen: „Ich warte hier.“ Anhand der GPS-Daten den Schnittpunkt von Längen- und Breitengrad anzugeben, um unsere Aussage zu präzisieren, wäre mehr als übertrieben.

Die frühesten und zweckdienlichsten Maßstäbe, die wir hernehmen, um der Bildung unserer Raum- und Zeitbegriffe ein stabiles Gerüst zu verschaffen, entnehmen wir der Beobachtung der Maße und rhythmischen Abläufe unseres Körpers; Elle, Handspanne, Fingerbreite und Fuß sind urtümliche Längenmaße, der Wimpernschlag, der Herzrhythmus, die Dauer von Wachen und Schlaf, die leibgebundenen Phasen des Wachsens und Reifens, des Alterns und Siechens sind unsere ersten Zeitparameter, mit denen wir bei der Angabe von sehr kurzen, mittleren und langen Zeitdauern zurechtkommen.

Die Verwendung gegenständlich oder scheinbar rein objektiv fundierter Raum- und Zeitparameter wie des Metermaßes oder des Lichtjahres, der Drehung der Erde um sich selbst (Tag und Nacht), der Drehung der Erde um die Sonne (Jahreszeiten) oder des Isotopenzerfalls zur Altersbestimmung des fossilen Relikts läßt uns nicht in eine andere Kategorie springen oder von der deiktischen Trias des seiner selbst innegewordenen Lebewesens Mensch, also der subjektiv fundierten Raum- und Zeitbegriffe, zu vollständig objektiven Begriffen gelangen. Dies scheint eine von der transzendentalen Wendung des Denkens eingeholte wissenschaftsgläubige Illusion zu sein, die allerdings von ernstzunehmenden Teilen der Wissenschaft selbst, wie von Heisenbergs Überlegungen zur Quantenphysik, aufgegeben worden ist.

Wir können diesen Sachverhalt auch so ausdrücken: Die Begriffe von Raum und Zeit implizieren notwendig die Begriffe der Raum- und Zeitmessung, folglich das Dasein desjenigen, der solche Messungen mit mehr oder weniger fein eingestellten Meßgeräten, sei es das Metermaß oder die astronomische Einheit, sei es die Sonnenuhr oder die Atomuhr, vornimmt; also das subjektive Daseins des Beobachters.

Wir sind Riesen im Vergleich mit der Mücke, die sich auf das Vorgebirge unserer Nasenspitze gesetzt hat; wir sind winzige Mücken im Vergleich zu der ungeheuren Kugel unseres Planeten, auf der wir herumkrabbeln.

Wir sind uralte Methusalems im Vergleich mit der kurzen Lebensspanne einer Eintagsfliege, wir sind kümmerliche Eintagsfliegen im Vergleich mit dem Alter der Sonne, die schon auf die biblischen Urväter und Homer herabgeschienen hat.

Wenn wir mit Pascal in die ungeheuren Weiten des Kosmos blicken, scheinen wir in den Wirbeln des Unendlichen verlorenzugehen und unser Dasein dünkt uns hinfällig und eitel wie das Gras des Kohelet, das der Wind beugt und die Sonne dörrt; wenn wir mit Goethe in die nächste Nähe der Worte und Taten der Liebe und innigen Sorge wie in ein belebendes Wasser tauchen, kann sich die unscheinbare Knospe unseres beinahe nichtigen Daseins einmal auftun und diejenigen, die wir lieben, mit ihrem Wohlgeruch erfreuen.

Die Weiten des Universums und die unheimlichen Zeitfolgen bis zum Urknall sind kein absoluter Maßstab unseres Selbstgefühls und Selbstverständnisses. Die Physik ist nicht die alleinige Lehrmeisterin in der Schule unseres Lebens.

Unser nur allzu gewisser Tod und der allergewisseste Zusammenbruch unserer Galaxie sind keine Einwände gegen die uns vor Augen liegenden Möglichkeiten sinnvollen Tuns und Sagens.

Wir vertun unseren Sinnvorrat und unser Lebensgefühl, wenn wir sie heterogenen Maßstäben unterwerfen wie der Epoche oder der Gesellschaftsform, in der wir unser Dasein nun einmal zu fristen genötigt sind.

Die wir die archaischen oder die antiken Menschen nennen, dünkten sich weder archaisch noch antik.

Wir tun gut daran, unseren Blick auf den Nahraum des Daseins zurückzuwenden, den wir bewohnen, auf die Zeit des Lebenstages, an dem die unscheinbaren oder leuchtenden Früchte unseres einsichtsvollen Sagens und verantwortlichen Tuns heranreifen. Doch auch wenn sie noch vor der Fülle des Herbstes oder im ersten Frosthauch des neidischen Winters verkümmern, wenn sie auch die Made der Mißgunst und des Unverstands, auch des eigenen, befällt, wir können noch wie der kahle Baum unsere dürren Äste regungslos und gleichmütig in das Licht einer matten Sonne recken, von deren ferner Sommerglut wir nichts mehr erwarten.

Unser denkerischer Maßstab und das vollkommene Bild für den Raum und die Zeit unseres Daseins ist der Weg; der Weg von der Kindheit bis ins Alter, dessen Spuren und Wegmarken die Erinnerung festhält; der Weg, der sich mit den Wegen anderer an Orten eines Gesprächs, einer Leidenschaft, eines Kampfes kreuzt; der Weg des Sagens, der uns vom Ausdruck unseres Empfindens und Fühlens über das erregte und erregende Wechselspiel von Frage und Antwort, Sprechen und Schweigen, Hingabe und Empfang bis zur Ruhe stiller Betrachtung und besinnlicher Nennung der einfachen, der letzten Dinge führt.

 

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