Der versengte Flügel
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Der Kehle gönnen wir Champagner, die Seele halten wir mit billigem Fusel hin.
Zähle die Stunden, da du dich selbst willkommen heißt.
Die meisten sind stumpf, viele verwirrt, ein paar durch Leiden aber nicht bitter und grob, sondern sanft geworden.
Horaz ist ein klarer Quell, der aus tiefen Spalten bemooster Stille bricht, über harten, schimmernden Kieseln hell tönt und sich zu einem runden Weiher beruhigt, in dem die Fackeln der Feiernden und die einsamen Lichter der Nacht sich spiegeln.
Gefühl der Nähe, der Ankunft des Reiches Gottes, jener, der es mit Vollmacht verkündet, ja schon verkörpert, Zeichen und Wunder, die bezeugen, daß er erwählt ist und aus der Höhe gekommen, Aufruf zur Buße und Versprechen der großen Tröstung jenen, die in der Hoffnung und Liebe gelitten. Dies sind die Elemente messianischer Frömmigkeit.
Manche davon finden sich gleichsam als leichter verdauliche Hausmannskost oft zu herabgesetzten und Schleuderpreisen in den säkularen Heilsbewegungen der älteren und jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart wieder. – Bisweilen blieb nur die scheppernde Orgel des Jahrmarkts, die immer wieder den Gassenheuer leiert: „Ein Schiff wird kommen …“
Der liebende Blick sieht ein Pummelchen, wo der nüchterne Fettsucht wahrnimmt und der medizinische hormonelle Probleme diagnostiziert.
Der strenge und gesetzestreue Pharisäer sieht im Falle Jesus Gotteslästerung, der römische Statthalter Aufruhr, der Jünger das Lamm Gottes.
Sollen wir sagen, wer für den Zauberklang Mozarts taub ist, sei dem Wurm gleich, der sich tief in den Schlamm der Verzweiflung gebohrt hat?
Wenn der Wurm Ohren hätte, solchen Wohllaut zu vernehmen wie der in der Hölle der Liebeskälte Verbannte die fernen, flammenden Lieder der Engelchöre.
Es ist sinnlos, das Unkraut zu jäten, den üppig schwellenden Zweig des Rosenstocks abzustützen und die duftende Knospe zu pflücken, wenn es keinen gibt, dem du sie schenken magst, keinen, dem ihre Schönheit und ihr Wohlgeruch ein Lächeln aufs Gesicht zaubern.
Das bedruckte Papier bleibt störrisch und stumm, erst die seelenvolle Stimme, die dem Vers Flügel anlegt, das Wort zum Gesang entfaltet, öffnet die Landschaft des Gedichts, in dem der Rhythmus mit den Quellen und Strömen fließt, der Vers mit dem Blattwerk rauscht, in unverhofften Tropfen klingt und schäumt, unter Blitzen erschrickt und sich in die blaue Grotte der Waldnacht flüchtet.
Was gesehen, was gefühlt, was erlebt zu haben legte uns wie eine reine, weiße Hostie das Wort auf die Zunge: „Es ist genug!“?
Mißtrauen gebührt den Naseweisen, die gestern da und dort etwas erschnuppert und heute wieder dort und da etwas anderes gewittert haben.
Der Scharlatan schreibt einen dicken Wälzer mit dem Titel „Versuche“ – dabei hat er nicht einmal an die Tür geklopft, geschweige denn, daß er eingetreten wäre. Und fände er die Tür, er klopfte nicht an, denn er hat kein Gastgeschenk mitgebracht.
Ist uns bestimmt, ein Blatt zu sein im Wind, so machen wir uns nicht selber schwer.
Ein leichter Windhauch, und das welke Blatt fällt wie von selbst in die Tiefe.
Die synthetischen Sushi-Gerichte in der Auslage der japanischen Restaurants würdest du nicht essen, aber diese Bücher, die sich als geistige Nahrung ausgeben, verschlingst du.
Die Schauspieler, die Hamlet, King Lear oder Faust geben, scheinen geistreich und seelenvoll wie die Dinge, die sie sagen, auf der Straße aber sind sie Rüpel wie Hinz und Kunz.
Er garniert sein Kauderwelsch mit hochtönenden Namen – und kommt damit durch oder sogar bis vor die Akademie für deutsche Sprache und Dichtung.
In ein Haus, auf Moorschlamm errichtet, ziehst du nicht ein, Gedichten, die schon beim ersten Wort nachgeben und glucksen, vertraust du dich an.
Die frühen Werke sind vollendet, so steht der wundersam behauene Monolith Jesaia neben der wuchtigen und doch schwebenden Säule der archaischen griechischen Lyrik.
Die Einfältigen reden von Entwicklung, von unterschwelligen Einflüssen und dem Zusammenstückeln exotischer Bauteile.
Was im Literaturbetrieb die Intertextualität, ist in sexualibus das Zwittertum.
Descartes, einer der scharfsinnigsten Köpfe, blieb wie eine Fliege auf dem Sonnentau im Mythos des sprachlichen Bildes kleben, wonach wir Empfindungen, Gefühle und Gedanken als mentales Privateigentum haben, wie der Geizhals, der seine Juwelen und Diamanten im Tresor verschließt, und nur er hat den Schlüssel und nur er ergötzt sich an ihrem Funkeln. – Aber die rote Farbtönung, die du an der Tulpe siehst, ist dieselbe, die auch ich wahrnehme, sie ist weder im Tresor deines noch meines Kopfes; daß du verstimmt und verärgert bist wegen meiner dummen Frage, lese ich von deinem Gesicht unmittelbar ab, ich muß nicht raten, ob dein Gefühl in Wahrheit ist, was es scheint; und der Gedanke, daß wir nicht weit kommen, wenn wir zugleich von dem, was wir behaupten, das Gegenteil annehmen, gehört uns beiden an oder ist ein Gedanke für alle und keinen, der Luft gleich, die wir beide atmen.
Der französische Catull des 19. Jahrhunderts, Paul Verlaine, der seelische Abgründe zärtlich ins Korsett des Rokoko schnürte, zählt für den vulgären Geschmack nur als bisexueller Trunkenbold und Gefängnisinsasse.
Goethe, Nietzsche, George – Mäuse, die im Stroh ihrer Albträume fiepen.
Was echauffierst du dich, daß sie Barbaren ins Land lassen, die das Abendland mehr und mehr orientalisieren, wo sie doch selber was nicht niet- und nagelfest niederreißen oder mit der Jauche ihres Endzeit-Witzes beizen.
Kein Engel wird mehr auf Lämmer weisen, mit deren Blut sie die Balken und Schwellen der Türen bezeichnen könnten, vor denen die Heimsuchung innehält.
Bayer kann er nicht sein, der Ali, Friese nicht, der Achmet, nicht Schwabe, der Mohammed, aber Deutscher, Deutscher allemal.
Wir lesen ständig, was anderen Leuten durch den Kopf ging. – Doch die hermeneutische Kunst, nach den ersten Zeilen zu imaginieren, ob jene Köpfe uns als Fratzen entgegenblicken oder Licht in ihren Augen haben, geht verloren.
Links und rechts, vorn und hinten, oben und unten – dies verweist auf unsere natürlichen Orientierungen des Raumes, der Zeit und von Ordnungen des Maßes, der Klassifikation und der sozialen Hierarchie. Sind sie deshalb subjektiv? Das ist ein Philosophen-Mißverständnis, das sich so hartnäckig hält wie der Glaube, unsere Gefühle seien Privatangelegenheiten und eigentlich nur uns selber zugänglich und verständlich.
Ich kann ja statt „rechts von dir“ „so und so viel Grad östlich von deinem Standort“ sagen.
Mit dem Hinweis, du habest den Diebstahl mit eigenen Augen gesehen, bekräftigst du den Wahrheitsanspruch deiner Zeugenaussage. Zu betonen, man habe etwas selbst wahrgenommen, mindert die Aussage nicht zur bloß subjektiven Kundgabe herab, sondern verstärkt und besiegelt sie.
Je mehr ihrer offiziell gedacht wird, umso weniger sprechen die Toten.
Das verklärte Leben der Ahnen verkörperte sich den Römern in ihrer Totenmaske.
Der Morsche bietet sich zur Stütze an, das Falsett will den Falstaff singen, die Matrone die Ophelia geben und der Zwitter den Don Juan.
Zwei Arten von Jubel: Schüsse und das Gloria.
Überkandidelte deutsche Professoren, die sich am Blitzen des Schafotts und am Sausen des Fallbeils gütlich tun, um ihr épater le bourgeois an den plötzlich von Schauder gepackten Damen und Herren zu exerzieren.
Die dichterische Inspiration wurde als Aufflug (wie in Horaz, Carmen 4,2 nach der Imago Pindars) empfunden und besungen; in dem Maße, wie sie in Illustrierten blätternd und Videos gaffend tatsächlich über die Meere düsen, scheint die musische Macht dieser Inspiration dahinzuschwinden.
Das Sengen von Flügeln, insbesondere der Engel, an dem sie sich ergötzen.
Allerorten bohren sie die Erde an und werden fündig: Asche der Toten stäubt.
Wie wundersam, der weiße Flügel, der über das kristallklare Wasser schwebte, ruht oder zittert eng an den Leib geschmiegt, wenn der Schwan des Apollon sterbend am schönsten singt.
Das von Gesang umrahmte Festmahl ist der Herkunfts- und Zukunftsort der lyrischen Dichtung. – Die musikalisch erweiterte und vertiefte Liturgie des Abendmahls gibt uns den bleibend weitesten Horizont.
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