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Der Teppich der Sprache

14.06.2018

Sentenzen und Aphorismen

Eine wesentliche Asymmetrie besteht zwischen dem Bild, das wir von uns selbst, und dem, das wir von allem anderen haben.

Der Unterschied zwischen dem Gedicht und der Muschel ist ein gradueller, wenn wir die Macht und Kraft, die das eine wie das andere hervorbringt, als überpersönlichen Geist betrachten.

Wir sagen leichthin, ein Gedicht spreche uns an. Sagen wir auch, es blicke uns an.

Ein wesentliches Moment der Ikone ist der Blick, der uns anspricht, indem er uns anblickt.

Im Blick des anderen erfassen wir die Subjektivität vermittelt, die wir an uns selbst unmittelbar erfahren.

In den Kultbildern der frühen Zeit verkörperten sich echte Erfahrungen des Heils, denn ihre Augen schienen lebendig und trafen ins Herz.

Die Ikone auf dem Schweißtuch der Veronika hat, paradoxerweise, die Augen geöffnet.

Die biblischen Propheten verwarfen das Bild, sie vernahmen die Kundgabe der Gnade als Stimme. Der prophetische Glaube ist noch nicht von der Schrift gezeugt wie der nachexilische und talmudische.

Auch die pagane Offenbarung hörte göttliche Stimme und heiligen Laut: im Rauschen der Eichen von Dodona, im Geschrei der Wahrsagevögel, im silbernen Sinnspruch der Quelle.

Die Propheten sprechen dichterisch, anders nicht als Sappho, als Pindar.

Wir reden vom Traumbild, kaum einmal von Traumes Sang.

Ist Sprache ein Teppich, wird er am Webstuhl der Zeit geknüpft.

Erkennen wir zentrale Motive und Muster darauf! Wir haben sie gewebt, aber nach uns offenbarten Bildern.

Webend sind wir selbst verwoben.

Bild und Gegenbild. Tag und Nacht. Traum und Tat. Insel und Meer. Spruch und Widerspruch.

Die Blume, die sich ins Licht reckt, wurzelt in der Nacht der Erde.

Gott alles in allem. Sehen wir das Licht seiner Glorie, sind wir schon Schatten.

Leda und der Schwan. Maria und die Taube.

Schweigen. Knospe, die sich schließt.

Ja und nein, ich und du, Ankunft und Abschied, Glut und Asche, Liebe und Tod.

Die Negation ist die Kraft Gottes, in vielen Bildern und Sprachen sich zu offenbaren, den Teppich der Sprache mit immer neuen Mustern zu durchwirken.

Was wäre die Insel ohne das Meer? Der Fisch ohne Wasser? Der Flügel ohne Luft? Der Mensch ohne Sprache?

Wir sind gleichursprünglich und gleichzeitig mit unserem Nicht-Sein.

Das kleine Kind auf der vergilbten Fotografie, was hat es mit dir gemein?

Die aufgeplatzte Kirsche des jungen Munds und die vertrocknete Schale des alten.

Die faltige Hand, die zitternd den Becher faßt, weiß sie noch den Pfirsichflaum, um den sich die kindliche geschmiegt?

Die Liebe spricht: O steh! Die Welle: Ach vergeh!

Die Toten, die um Dasein betteln, sprechen uns, wenn wir vom eigenen opfern.

Rechts und links, nah und fern, eigen und fremd, Freund und Feind, gut und schlecht – Variationen des einen Spiels, das von dir und mir gespielt wird, sofern wir ich und du sind, verleibtes Selbst.

Ich reiche dir zur Begrüßung die rechte Hand, du mir deine; doch deine liegt aus meiner Warte links, wie umgekehrt.

So mit allem, was du mir sagst und bist, es erscheint mir gleichsam in der umgekehrten Richtung.

Was dir jetzt nah, ist mir fern. Für das, was ich jetzt sehe, hast du keine Augen.

Manche Muster und Motive bleichen aus, wie Gestalten der Höhlenmalerei, Bildnisse der Katakomben oder Schriftzüge auf dem Blatt, das zu lange in der Sonne lag.

Andere glühen wieder und heben sich wie neugeboren aus dem Schaum der Erinnerung, ruft alte Liebe sie herauf.

Manche Worte verwittern im Gebrauch. Doch Urworte, auch wenn sie wie „Herz“, „Liebe“, „Sehnsucht“ und „Himmel“ von Patina übergilbt und angegraut scheinen, können reanimiert werden – wenn wir das lebensrettende Blut spenden.

Die Frage ist wie der Schlüssel zur Antwort.

Eine Frage, die nicht als Schlüssel zur Antwort paßt, muß verworfen werden, wie ein Schlüssel, dem Zähne herausgebrochen sind.

Wir müssen alles verdauen, was wir zu uns nehmen. Früchte, Farben, Düfte, Bilder, Worte, Musik. Das Unverdauliche scheiden wir aus – oder erkranken und ersticken daran wie an Giften, die in uns kreisen.

Penelope löst am Abend die Muster und Motive auf, die sie am Tage gewirkt hat – um länger warten, sich weitere Atemschneisen bahnen zu können.

Beschriebenes Blatt, verwehtes Blatt. Doch dann liest du unverhofft deine Gedanken auf dem Blatt eines fremden Buchs.

Verworrene Muster, die wir auflösen müssen, um wieder den rechten Anschluß zu finden und weiterzuweben.

Die Knospe ist eine abgeschlossene Mannigfaltigkeit verschiedener Blätter, Kronblätter und Kelchblätter. Der Satz ist eine abgeschlossene Mannigfaltigkeit von distinkten phonetischen und semantischen Merkmalen.

Helena und ihre Sippe, Paris und seine Sippe bilden in den Erzählungen vom trojanischen Krieg eine abgeschlossene Mannigfaltigkeit mythischer Motive.

Überweben und Überblenden alter Muster auf dem Teppich der Sprache. Der bukolische Hirt und Christus der Hüter seiner Herde. Der Garten Eden und der Hortus conclusus. Der Baum des ewigen Lebens und das Kreuz. Und die dämonischen Mächte des Zorns und Aufruhrs, die unteren mythischen Götter im vereitelten Aufstand wider die Lichtgötter des Olymps tauchen als bizarre oder mitleiderregende Figuren in Dantes christlichem Infero auf.

Von Troja bis Golgatha. Von Golgatha bis …

Am Rand des zitternden Lichtflecks, mit dem die Dichtung wandert, bildet sich wie aus Traumresten und mythischen Schatten immer neu der Umriß eines fremden Munds, und es scheint uns, keiner der Lebenden, kein Wesen aus Fleisch und Blut spreche, sondern jener gespenstische Mund flüstere oder stammle oder singe. Immer neu und wieder alt sind die Namen, die wir dem Schemen und zweiten Gesicht verleihen, Muse, Engel, entrückte Seele oder junge Parze.

Es scheint dann, der Dichter spreche im Namen einer fremden Instanz, die ihn beansprucht oder in einen Trancezustand versetzt, um das ruhige dunkle Wasser seiner Seele wie der zitternde Schriftzug des Mondlichts zu durchqueren.

Nur in der Berührung des Winds erzittert das Blatt.

Im leeren, dunklen Spiegel funkelt ein Tropfen Licht.

Bebt und regt sich das Blatt, überronnen von jähem Glanz, gibt es seine dunklere Maserung und die Schrift seiner Herkunft preis.

Ihm wurde das Wort zugeworfen wie ein Ball. Seine instinktive Meisterschaft zeigte sich in der Leichtigkeit und Anmut, mit der er ihn auffing und zurückwarf.

Paris rollte der Purpurball vor die Füße und er reichte ihn Aphrodite. Der Ball, den der Dichter auffängt, kommt unvermutet aus dem Dunkel, und wo Aphrodite geweilt, flimmert nur ein Schatten.

Das Blut des Rubins pulst in der Dämmerung.

Mit den Schimmern auf dem Wasser erlöscht ihr Plätschern wie verhauchender Refrain des Lieds. Ist was da kaum vernehmlich rauscht, schon Gefieder des Schlafs?

Tropfen goldenen Lichts rinnen von Blatt zu Blatt, von Zweig zu Zweig, wie leiser Atem von Vers zu Vers sinkt, von Strophe zu Strophe, bis er im Nicht-mehr-Sagbaren vergeht.

Die Schönheit verachten, müssen selber häßlich sein.

Das Wort der Dichtung soll rein und frisch sein wie das Wasser des Brunnens, das den Wanderer erquickt.

Lüge frißt das Wort der Dichtung auf wie Lepra ein Gesicht.

Freilich, mit Grimassen oder selbst geritzten Wunden kann man eher Aufmerksamkeit erregen, gewinnbringender das entstellte Wort zu Markte tragen.

Den Narren hört man schon von weitem, wenn die Schellen an der Kappe klirren.

Sie verunstalten den Sinn, indem sie den Gegensinn wie einen Hundeschwanz kupieren.

Als könne es die Insel geben ohne Meer, Leben ohne Tod, Erlösung ohne Passion, den Fremden ohne das Eigene, den Gast ohne die behütete Schwelle des Hauses.

Die den Sinn der Begriffe veröden, gehen in eine neue transzendentale Heimatlosigkeit.

Der Mord verliert mehr und mehr den Charakter der Untat, wenn er ungesühnt bleibt.

Sühne aber verliert ihren Sinn ohne Vergeltung für die Tat zu sein. Sie wird dann eine vom Täter leicht hingenommene, ja belächelte Strafe, durch die das Opfer doppelt gedemütigt wird.

Recht, das den Gedanken der Sühne aus vorgeblich humaner Rücksichtnahme für den Täter aufgegeben hat, wird Unrecht.

Ohne Strafe wäre die Tat nicht mehr Tat. Ohne Sühne die Strafe eine Herabwürdigung des Opfers.

Die Strafe als Sühne und Vergeltung ist eine Transfiguration des mythischen Tathergangs, den Aischylos in der Einsicht gipfeln läßt πάθει μάθος – durch Leiden lernen.

Ohne Nacht wäre Tag nicht Tag, Nacht nicht Nacht ohne Tag. Glaubten wir das Leben zu träumen, dann nur in der seltsamen Hoffnung, daraus in ein Leben hellerer Tage zu erwachen.

Die da schänden und entweihen, müssen instinktiv um die Wahrheit des Reinen und Göttlichen wissen.

Die aber alles an das Licht des Tages zerren wollen, haben ihre Herkunft und ihren Ursprung vergessen, das Fruchtwasser in Schoßes Nacht.

Hat die Flutwelle den Damm durchbrochen, verebbt sie in der Ebene.

Nur das geweihte Wort bleibt Stern, wie die vergöttlichten Heroen, auch wenn es keinem Auge leuchtet.

 

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