Der Schatten des Nihilismus
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Der Nihilismus ist der autistische Sohn zweier Monster: Körper und Geist.
Nihilismus bedeutet sich von den Quellen des Sinns, die den Garten des Lebens bewässern, abgeschnitten zu fühlen oder die alltäglichen Bedeutungen des Tuns und Sagens als äußerliche, kontingente und leere Zeichen wie faule Blätter im Hinterhof des eigenen Daseins zu betrachten.
Der Nihilismus entspringt der Verkennung des notwendigen Zusammenhangs zwischen Wort und Bedeutung, Geste und Sinn, Leib und Seele.
Nihilismus ist die letzte folgerichtige Konsequenz einer Sicht der Welt, in der Gott als das höchste Wesen und der Mensch als animal rationale definiert wurden.
Wenn nur der Mensch redet, verstummen die Dinge.
Das rationalistische Weltbild, gemäß dem der menschliche Geist durch symbolische Repräsentationen die Realität abbildet, gipfelt im Projekt der künstlichen Intelligenz und scheitert an deren Unfähigkeit, sich selbst zu verstehen und der Idee der Wahrheit einen Sinn zu verleihen.
Die sokratische Frage „Was bedeutet das?“ und die kartesische Formel „Cogito ergo sum“ sind beide in den Abgrund des Nihilismus gesprochen.
Die sokratische Frage läßt nur die Antwort einer allgemeinen Definition oder Begriffsbestimmung zu, die allein ein animal rationale durch symbolische Repräsentation dessen zu geben vermöchte, was in allen möglichen Vorkommnissen als Verkörperung desselben Begriffs gesehen werden kann.
Doch diese Antwort greift nur bei Trivialitäten oder Tautologien.
Wir aber leben in einer Umwelt von Bedeutungen, die sich ähneln, überkreuzen, spiegeln und teilweise überlappen, teilweise verdecken, einer Welt, die dem animal rationale und seinem Abkömmling, der Symbole nach algorithmischen Regeln verarbeitenden, rationalen Maschine, nicht zugänglich ist.
Nihilismus ist das Gähnen angesichts des immer Gleichen unter der fahlen Sonne Kohelets.
Es wäre begrifflich unterbestimmt zu beklagen, daß die rationale Maschine keine Empathie und kein moralisches Bewußtsein entwickeln kann. Die Forderungen nach Empathie und moralischem Bewußtsein suchen vergebens eine Lücke oder einen Riß in der Welt der Bedeutsamkeit zu füllen, aus dem der Begriff des animal rationale, den sie ergänzen wollen, allererst hervorgegangen ist.
Roquentin, der Protagonist in Sartres Buch „Der Ekel“ ist eine nihilistische Maske auf der Bühne des kartesischen Dämons.
Unter der gleißenden Sonne Platons verfinstert sich der Sinn des Lebens.
Der Nihilist mäht als obskurer Vollstrecker der kartesischen Aufklärung mit der Sichel des wachen Bewußtseins die Gräser der Dämmerung, in deren Duft wir atmen und leben.
Unser Auge ist nicht das Instrument, mit dem das Bewußtsein sieht.
Wäre unser Auge das Instrument, mit dem das Bewußtsein sieht, sähen wir nur Mumien und hohle Masken.
So sieht Roquentin in Sartres Roman in der Wurzel einer abgeschlagenen Kastanie eine von aller Bedeutung abgeschnittene Mumie nackter Existenz.
Der Bildhauer wird eins mit dem Marmor und schlägt mit seinem Meißel die Stücke vom Block seines dunklen Selbstgefühls, das sich unter den Schlägen allmählich erhellt.
Der Bildhauer mißt nicht Schlag für Schlag an einem inneren Bild, was ihm unter der Hand entsteht.
Die Vorstellung vom Künstler als eines autonomen, kreativen Schöpfers mündet und erschöpft sich im Nihilismus der gegenstandslosen Kunst.
Die Vorstellung von Klang oder Farbe oder Stoff als bloßem Material, das sich dem Regelwerk des souverän schaltenden Künstlers zu fügen habe, mündet und erschöpft sich im Nihilismus serieller Kunst.
Der Töpfer, der den feuchten Leib des Tons unter seinen Händen wachsen und erwachen fühlt, bedarf keiner Idee, um ihm Leben einzuhauchen.
Nihilismus ist das als Freiheit mißverstandene Unglück, nicht dankbar sein zu können.
Die Seele ist kein Insasse eines mentalen oder neuronalen Gefängnisses.
Seele – das ist die Landschaft des Erlebens, unendlich nuanciert im Reichtum ihrer Farben und Düfte, ihrer bunten Auen und kargen Steppen, wetterleuchtende, stickige und stille Atmosphären, helles Zirpen und dunkles Rauschen, verwehtes Glockengeläute, gespenstisch über die Ebene jagende Wolkenschatten, flimmernde Luftspiegelungen der Sommerschwüle, von gelben, roten, schwarzen Blättern schmelzende Tropfen, zugefrorene Teiche, aus denen das erstarrte Leben von Schilf und Röhricht ragt.
Der Akrobat, der über das hohe Seil balanciert, achtet nicht des Schreckens der Tiefe, sondern gelangt in somnambuler Heiterkeit ans Ziel.
Der Meister der Tusche achtet nicht des Schreckens der weiß leuchtenden Leere, sondern hinterläßt seine gestische Spur wie der übers Schneefeld springende Hase.
Der Dichter achtet nicht auf das Dunkel der Schrift, sondern streicht ihre Chiffren auseinander wie der Hase die Gräser.
Der Prediger, der frei spricht, wählt nicht mit Vorbedacht Wort um Wort, sondern geht wie ein Heimkehrer erstaunt und bewegt durch den alten Garten der Gleichnisse.
Der Dichter kennt die Maserung, den Geruch, die Brüchigkeit und Biegsamkeit der Wörter wie der Holzschnitzer die Maserung, den Geruch, die Brüchigkeit und Biegsamkeit der Hölzer.
Der Nihilist ist die Seele, die ihre Landschaft verloren hat.
Seele, die den schwarzen Teer des Asphalts der versiegelten Stadt ausdünstet.
Seele, die der Dunst des Asphalts ermüdet.
Seele ohne die Stimmungen der Landschaft, der launischen Lüfte, der salzig-grünen Brandung des Morgens, des stürzenden Schreis der Schwalben vor dem Regen, der veilchendunklen Nacht.
Nihilismus ist der Stumpfsinn vor der Wahrheit der Geste, der Offenbarung des Augenaufschlags, der Geduld der Erwartung und der Passion der Liebe.
Die Verzweiflung des Nihilisten ist eitel wie der Scherbenhaufen des von ihm zertrümmerten Götzen.
Der Nihilist ist der abtrünnige Bruder des Rationalisten, der sein Erbe, das einsame Cogito, zurecht ausgeschlagen hat, ohne einen nichtreflexiven Grund seiner Existenz zu finden.
Der Rationalist hat vergessen, daß er geboren worden ist. Der Nihilist, daß er aufgrund seiner Geburt in die kulturelle Lebensform einer Gemeinschaft, ihre Sprache und Geschichte und ihre konventionellen Gepflogenheiten und Institutionen eingebunden ist.
Nihilismus resultiert aus der Blindheit für Wertmaßstäbe, nicht nur diejenigen einer lokalen kulturellen Überlieferung, sondern sogar diejenigen, die uns in den Knochen stecken. Denn selbst wenn wir etwas sehen, müssen wir unsere möglichen leiblichen Positionen als normative Einstellungen dem Bild oder Gegenstand gegenüber als mehr oder weniger gut und angemessen bewerten.
Nihilismus resultiert aus dem Ausblenden der konkreten Situation, in der sich unser Leben abspielt und nach der sich die Bestimmung dessen ausrichtet, was und wer wir sind; Mutter oder Kind, Lehrer oder Schüler, Meister oder Lehrling, Käufer oder Verkäufer, Schauspieler oder Zuschauer, Musiker oder Hörer.
Nihilismus ist das Erbe der kartesischen Ausblendung der Zeitlichkeit aus dem Cogito. Zeitlichkeit offenbart sich in der Sorge um uns und die uns Nahestehenden; denn um der Ungewißheiten dessen, was kommt, wegen sind wir um uns und die uns Nahestehenden besorgt, und unsere Sorge greift auf den immer neu nach seiner Haltbarkeit abzuklopfenden Bestand von Gewißheiten vergangener Erfahrungen zurück, um sie für heute und morgen zu nutzen.
Nihilismus ist das Erbe der rationalistischen Ausblendung der Praxis aus dem Cogito. Denn denken heißt etwas bedenken, und etwas bedenken ist eine Dienstleistung für den Menschen der Tat, der sich beispielsweise anhand einer Landkarte der Wege versichert, die ihn an sein Ziel bringen.
Nihilismus ist die letzte Konsequenz der Philosophie des Bewußtseins, der gemäß wir uns nur dessen bewußt sein können, was wir anhand der regelförmigen Verknüpfung von mentalen Symbolen oder Zeichen vergegenwärtigen. Doch wenn wir einem sprachlichen oder ikonischen Hinweis folgen, folgen wir keiner Regel, sondern gehen ohne weiteres nach links oder rechts.
Der Sinn für das Heilige stirbt nicht mit dem Tode Gottes, den vor Nietzsche Pascal verkündet hat, indem er die geistige Leere im Begriff eines höchsten Wesens oder dem Gott der Philosophen enthüllte. Vielmehr gibt uns Pascal zugleich den unter der Sonne Platons verdunkelten Begriff des deus absconditus zurück.
Die Person, die wir meinen, wenn wir sagen, daß wir morgen zu der Verabredung kommen, ist weder unser Körper (und also auch nicht ein Teil des Körpers wie das Gehirn) noch unser Geist. Denn ich kann nicht ankündigen, das unkörperliche Gespenst meines Geistes zu der Verabredung zu schicken noch den bewußtlosen Schemen meines Körpers.
Der Nihilismus ist das Erbe der Ausblendung des Begriffs der Person aus dem kartesischen Cogito, der sich in dem „Ich“ des „Ich denke“ verbirgt.
Personen verstehen heißt nicht aufgrund eines regelgeleiteten Kalküls ihr Verhalten bewerten; denn wenn uns jemand verspricht, morgen zu unserer Verabredung zu kommen, kann es geschehen, daß er nicht kommt, aus dem einfachen Grund, weil er es sich anders überlegt hat oder schlicht nicht kommen will.
Der Nihilist ist ein Mensch, der das Sensorium für die Stimmungen verloren hat, welche die Seele einer Person ernähren. Denn Personen wandern, mehr oder weniger weit, mutig oder verzagt, durch das Spannungsfeld zwischen ihrer leiblichen Gegenwart und ihrer Umwelt, das sie als Stimmung erleben.
Stimmungen sind ästhetischen Prädikaten oder Etiketten wie komisch, grotesk, heiter, ernst, schwermütig oder ausgelassen vergleichbar. Es sind lebensvolle Masken, die den Personen die Situation überstülpt, in die sie geraten, in der sie sich verfangen oder aus der sie entfliehen wollen.
Aus den basalen Stimmungen, die uns immer wieder überfallen und am meisten faszinieren wie die Angst oder der Mut, das Vertrauen oder das Mißtrauen, die erotische Leidenschaft oder der Haß, steigen wie aus einem Nebel die Bilder jener Idole und Götter hervor, die wir verehren oder die wir bekämpfen.
Der Nihilist kann diesen gleichsam natürlich wuchernden Polytheismus der Seele nur um den Preis der Verödung und innerlichen Abstumpfung mit der Sichel der Verneinung des Triebs zur Bezeichnung und Ikonographie auszujäten versuchen.
Der Nihilist entdeckt wider Willen, daß die Zeichen auf der weißen Oberfläche des Blatts schwimmen und ihre scheinbar greifbare und begreifbare Gegenwart immer wieder die unbegreifliche Ferne und Leere zwischen den Zeichen hervortreten läßt.
Der Nihilist entdeckt wider Willen die Grundlosigkeit des menschlichen Daseins, ähnlich der abendlichen Sicht Caspar David Friedrichs auf das im Seesturm und im Dämmer des Grenzenlosen treibende Schiffswrack.
Wie unter einem jähen Wetterleuchten wird die Landschaft der Seele in einem schicksalhaften Augenblick sichtbar, bevor sie wieder ins Dunkel versinkt.
Der Nihilismus ist Ausdruck der Verzweiflung des Willens angesichts der vergeblichen Landnahme des verfließenden Sinns und der Ausleuchtung des lebendigen Zwielichts.
Der Wille, der sich in der Technik manifestiert, die alle Länder mittels Schiffen und Flugzeugen und blitzschnellen Nachrichten verbindet, beruht auf der Verkennung der Tatsache, daß die Länder und wir selbst, ihre Bewohner, Inseln sind, die für eine Weile auf dem Wasser schwimmen, Wasser, das sich nicht begreifen und beruhigen oder eindämmen läßt.
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