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Der Regenschirm

28.12.2015

Unterwegs zu einer transzendentalen Semantik III
oder: Warum Roboter Bewegungen ausführen, aber keine Taten vollbringen

Wir haben gesehen, inwiefern die Zuschreibung eines mentalen Zustandes wie der Farbempfindung oder der Sehleistung oder des Gedankens „Dieser rote runde Fleck dort ist die Sonne“ zu demjenigen, der diesen mentalen Zustand hat, die transzendentale Grenze bezeichnet, an der wir als sprachliche Lebewesen wohnen.

Die Grenze unserer Welt zur Welt der Roboter ist der Unterschied zwischen der Einwirkung von Lichtquanten auf ein lichtempfindliches Medium wie die Netzhaut oder einen Bildsensor in einer Digitalkamera der Art, daß WIR das Ergebnis der Bildprojektion oder der digitalen Speicherung als „Sonnenuntergang“ lesen, verstehen oder verbalisieren, und der Aussage aufgrund derselben Sehwahrnehmung: „Dort: ein roter runder Fleck“ oder: „Ich sehe die Sonne untergehen“.

Wir verstehen unter dem Konzept Sehen die Fähigkeit, sagen zu können, was wir gesehen haben, indem wir mit dem Satz implizit zu verstehen geben, daß wir die Sehwahrnehmung mit der Wahrnehmungsleistung dessen identifizieren, der sie hat. Auch wenn der Roboter „sagen“ kann: „Dort: ein roter runder Fleck“, stellt er damit keineswegs unter Beweis, daß er etwas gesehen hat.

Wenn du aus dem Fenster schaust und angesichts der heraufziehenden Wolken zum Regenschirm greifst, gibst du mir, den du soeben zu einem Gang nach draußen aufgefordert hast, um einen gemeinsamen Freund aufzusuchen, der zu Hause das Bett hüten muß, zu verstehen, daß du annimmst, es werde Regen geben. Du könntest auch deine Sehwahrnehmung bündig in die Aussage packen: „Da ziehen Wolken auf“ und ohne daß du noch zum Regenschirm griffest, gäbest du mir damit zu verstehen, daß du annimmst oder befürchtest, es werde regnen.

Wir sehen in dieser erstaunlichen Leistung, ausgehend von einer Bemerkung oder Geste, wie der Bemerkung über das Wetter oder dem Griff nach dem Schirm, dem anderen einen indirekten, nicht direkt verbalisierten Hinweis auf den eigenen mentalen Zustand geben zu können, hier den mentalen Zustand der Überzeugung oder Befürchtung (es werde regnen), eine semantische Leistung, ohne die unsere Art der Verständigung nicht möglich wäre. Ein Bio-Roboter, der in seinem visuellen Medium das Bild eines Menschen registriert, von dem WIR sagen, er greife nach einem Regenschirm, kann nicht verstehen, daß diese Geste als Hinweis auf den mentalen Zustand des Menschen, auf seine Annahme oder Befürchtung, es werde regnen, transparent gemacht werden kann.

Gewiß kann der Griff nach dem Schirm nicht ohne weiteres und jederzeit als eine eindeutige Geste aufgefaßt werden, die auf einen ebenso eindeutig identifizierbaren oder individuierbaren mentalen Zustand wie deine Überzeugung oder Befürchtung, es werde regnen, hinweist. Du könntest flüchtig aus dem Fenster gesehen haben, ohne die heraufziehenden Wolken zu bemerken, und dennoch nach dem Requisit greifen, weil du gewohnheitsmäßig dich für einen Gang nach draußen damit bewaffnest oder weil du dich unsicher fühlst und gern etwas in der Hand halten magst, mit dem du herumspielen oder auf das du dich aufstützen kannst. Hier zur Klarheit zu kommen bedürfte einer Nahbelichtung weiterer Kontexte. Immerhin könnten Fragen dieser Art bei mir aufgerührt werden, auch wenn ich nicht zu einem eindeutigen Schluß käme.

Warum kann ein Roboter unsere Gesten, geschweige denn die „Gesten“ anderer Roboter (die in Wahrheit natürlich keine Gesten, sondern ihnen selbst undurchsichtige oder opake Bewegungen sind) nicht auf den mentalen Zustand dessen hin verstehen, der sie macht? Warum kann ein Roboter durch das Verhalten eines Menschen nicht zu Fragen über dessen mentalen Zustand angeregt werden? Weil Roboter ihrerseits über keine mentalen Zustände wie eine Überzeugung oder eine Befürchtung verfügen. Eigene mentale Zustände gehabt zu haben, zu haben und voraussichtlich bis auf weiteres haben zu werden, ist indes die semantische Bedingung der Möglichkeit, solche Zustände anderen zuschreiben zu können.

Wir bemerken, daß unsere Empfindungen und Wahrnehmungen zumeist (wenn wir sie nicht ästhetischen Absichten und Zwecken unterordnen wie der Absicht, die heraufziehenden Wolkenmassen mittels einer Kamera als interessantes Bildmotiv festzuhalten) funktional in Handlungskreise eingebettet sind: Du blickst aus dem Fenster in der Absicht, dir Gewißheit über die Wetterlage zu verschaffen, um dich notfalls mit einem Regenschirm zu bewaffnen, da wir vorhaben, einen Gang nach draußen zu unternehmen. Wir sprechen vom Handlungskreis oder funktionalen Handlungszusammenhang, weil wir einer übergeordneten primären Handlungsabsicht wie der Absicht, gemeinsam zu Fuß zu einem bestimmten Ort zu gehen, eine oder mehrere sekundäre Absichten unterordnen wie die Absicht, einen Blick aus dem Fenster auf das Wetter zu werfen, und einer sekundären Absicht wiederum eine tertiäre wie die Absicht, einen Regenschirm mitzunehmen, und so weiter.

Wir können noch weitergehen: Der Handlungskreis oder funktionale Handlungszusammenhang, in den unsere verschiedenen Absichten, Zwecksetzungen und Handlungen hierarchisch ineinander geschachtelt sind, hier dein Griff nach dem Schirm in der Absicht, dich angesichts der heraufziehenden Wolken für unseren Besuch des kranken Freundes mit einem Regenschutz zu bewaffnen, ist wiederum einem gleichsam letzten Zweck integriert oder eingeschachtelt, einem Zweck, den wir mit dem Begriff der Freundschaft oder freundschaftlichen Neigung bezeichnen. Denn es ist ja der Zweck des ganzen Unterfangens, unseren kranken Freund zu besuchen.

Wir nennen Konzepte wie Freundschaft oder Liebe, aber auch ihre Gegenteile wie Feindschaft und Haß, letzte Zwecke oder Selbstzwecke in der Welt, in der wir leben. Sie haben freilich eine natürliche Basis und Ressource, wie die Liebe eine Basis und Ressource in der nährenden und pflegenden Liebe der Mutter und der hütenden und sorgenden Liebe der Eltern oder die Freundschaft in der Schutzgemeinschaft der Geschwister und Sippengenossen, sie sind aber von ihrem natürlichen Herkunftsort gleichsam so weit in den Raum der Kultur gewandert, daß sie auf beliebige Objekte unserer Zuneigung oder Abneigung anwendbar und modellierbar wurden. Mag nun die Freundschaft eine natürliche Basis und Ressource in der Schutzgemeinschaft der Geschwister oder Sippengenossen haben. Wir besuchen freilich unseren Freund, auch wenn er nicht im entferntesten mit uns verwandt ist.

Wie dem auch sei. Feststeht, daß Bio-Roboter keine Konzepte wie Freundschaft und Liebe entwickeln und in ihrem Reden und Tun implementieren können: Sie haben ja keine Eltern und Geschwister, deren sorgende Liebe und kameradschaftliche Zuneigung die natürliche Basis und Ressource unserer Konzepte von Freundschaft und Liebe darstellen. Es wäre bizarr, annehmen zu wollen, daß ein Roboter irgendwann beginnt, eine herzliche Dankbarkeit oder eine stille Zuneigung oder gar eine leidenschaftliche Liebe zu seinen „Erzeugern“ deshalb zu empfinden, weil sie ihn geschaffen und gewartet und repariert haben. Es wäre bizarr, annehmen zu wollen, daß ein Roboter sich mit einem Freund auf den Weg macht, um einen beschädigten „Kameraden“ zu besuchen und zu trösten.

Wenn wir unseren kranken Freund besuchen, vollbringen wir eine Tat der Freundschaft. Wenn du deiner Freundin oder deinem Freund ein Gut zukommen läßt, auf das du selbst verzichtest oder für dessen Erbringung du Zeit und Geld aufwendest, die dir selbst abgehen, und wenn du dies tust, ohne damit unlautere Absichten zu verbinden, wie die Absicht, Eindruck zu schinden oder sie dir zu Dankesleistungen zu verpflichten, tust du eine Tat der Liebe.

Wir nennen Taten eine wesentliche Dimension der Welt, in der wir leben. Taten sind res gestae, die nicht nur demjenigen zugeschrieben werden, der sie vollbringt, der Art, daß er für sie verantwortlich zeichnet und für moralisch schlechte oder gesetzeswidrige Taten haftbar gemacht werden kann, sondern auch der Art, daß derjenige, der die Taten vollbringt, sich diese als Akteur und Ursache allererst selbst zuschreiben muß, sodaß er sich an der guten Tat erfreuen kann und für die schlechte Tat schuldig fühlen soll.

Roboter führen Bewegungen aus, sie vollbringen keine Taten. Denn sie können sich den Vollzug einer Bewegung nicht als handelnde Ursache zuschreiben, geschweige denn, daß moralische oder rechtliche Begriffe wie Verantwortung und Haftung, Schuld und Strafe, aber auch Vergebung und Verzeihung auf sie anwendbar wären.

Es ist nur die halbe Wahrheit anzunehmen, daß wir nur sogenannte willkürliche Bewegungen, wie die absichtsvoll kontrollierte Bewegung deiner Hand, mit der du nach dem Regenschirm greifst, demjenigen als verantwortlichen Akteur zuschreiben, der sie ausführt. Wenn du recht schwungvoll nach dem Schirm greifst und mich dabei versehentlich und ohne Absicht mit seiner Spitze empfindlich streifst oder gar verletzt, wirst du spontan „Verzeihung!“ ausrufen und mit diesem Sprechakt der Entschuldigung kundtun, daß du für diese unbeabsichtigte und unwillkürliche Folge deiner absichtsvollen und willkürlich vollzogenen Bewegung mit der Hand und dem Arm dennoch die Verantwortung übernimmst, denn ohne dies zu tun, wäre der Sprachakt sinnlos. In diesem Falle schreibst du dir nicht nur die absichtlich vollzogene Handlung, sondern auch deren nicht beabsichtigte Folge zu.

Robotern indes schreiben wir weder absichtsvoll vollzogene Willkürbewegungen noch unwillkürliche Bewegungen wie ein Zucken zu. Denn wenn wir vor Schreck zusammenzucken, geschieht dies als instinktive Reaktion auf eine wirklich wahrgenommene oder vorgestellte Bedrohung und Gefahr. Roboter indes erkennen keine Gefahren, auf die sie instinktiv mit unwillkürlichen Abwehrbewegungen reagieren, weil sie keine Lebewesen mit angeborenen Instinkten sind.

Wir bemerken, daß wir uns Bewegungen zuschreiben, für die wir Verantwortung übernehmen, und zwar im Falle, daß wir etwas absichtsvoll tun, wie im Falle, daß wir gewisse unbeabsichtigte Folgen unseres absichtsvollen Tuns verursachen, während wir Robotern weder intentionale Akte noch unwillkürliche Instinktreaktionen zuschreiben.

Indes hat es nicht einmal einen metaphorischen Sinn, von einem Roboter zu sagen, er greife nach etwas, wenn seine Greifhand sich aufgrund von Algorithmen, die sein motorisches System steuern, um einen Ball legt, oder er begrüße jemanden, wenn der Umriß eines Menschen auf seine visuellen Sensoren projiziert und dadurch ein Sprachautomat ausgelöst wird, der eine Begrüßungsformel initialisiert. Die Bewegungen eines Roboters sind und bleiben mechanische und sinnfreie Bewegungen, insofern sinnvoll vollzogene Bewegungen die semantische Dimension der Welt voraussetzen, in der wir leben.

Oder wollen wir demnächst einen Roboter, dessen schadhafte Software dazu führte, daß er einem Techniker mit seiner Greifhand in den Arm gezwickt hat, Vorwürfe machen oder ihn von jeder Schuld entlasten, weil er bei diesem Vorfall einmal abgelenkt und unaufmerksam war? Oder wollen wir ihn in den Karzer stecken oder ihn sonstwie bestrafen (vielleicht durch demütigendes Ignorieren seiner Zustände auf eine gewisse Zeit), weil wir leider davon ausgehen müssen, daß er die schlechte Tat bei wachem Bewußtsein, bei voller Zurechnungsfähigkeit und Aufmerksamkeit begangen hat?

Wir gewinnen aus diesen absurden Fragestellungen die richtige Intuition über das Lebenselement, das den Humus oder die Atemluft der Welt ausmacht, in der wir wohnen. Nennen wir es das ethisch-kulturelle Lebenselement.

Das ethisch-kulturelle Leben hat zur Bedingung seiner Möglichkeit die eigentümliche semantische Tatsache (die natürlich keine Tatsache wie die Tatsache ist, daß Frankfurt am Main liegt), daß wir als sprachfähige Personen auf der transzendentalen Grenze der Welt wohnen oder als die transzendentale Grenze der Welt existieren, die deshalb unsere Welt ist.

Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt der Taten, und damit eine geschichtliche Welt, eine kulturell geprägte geschichtliche Welt, keine rein naturgeschichtliche Welt. Denn unter allen Taten ragen solche Taten heraus, die bedeutsam oder groß deshalb zu nennen sind, weil sie einschneidende Entscheidungen umsetzen. Die Entscheidung Cäsars, den Rubikon zu überschreiten, und diese Entscheidung am 10. Januar 49 vor Christus in die Tat umzusetzen, zählt deshalb zu den bedeutsamen Taten, weil ihre Folgen gravierend waren und wie sich zeigen sollte welthistorische Relevanz hatten. Die Tat Cäsars hatte nicht nur die faktische Bedeutung, durch die Flußquerung mit seinen Legionen ohne Legitimation des herrschenden Senats den engeren römischen Machtbereich gesetzwidrig zu betreten, sondern auch die symbolische Bedeutung, mit seiner Armee den Staat der römischen Republik herauszufordern und einen Bürgerkrieg anzuzetteln, der ihn, Cäsar, wie er beabsichtigte und zurecht hoffte, schließlich an die Alleinherrschaft bringen sollte, wodurch der Weg der Umwandlung der römischen Republik in eine Monarchie gebahnt war.

Die Welt, in der wir leben, ist solcherart eine Welt historischer Taten, die zu mehr oder weniger beabsichtigten und weitgreifenden Folgen führen. Wir können nun einmal nicht davon absehen, daß diese Taten von Personen vollbracht werden, denen wir nicht nur die Absicht zuschreiben, die sie mit ihren Taten verbinden, sondern auch das Wissen davon, daß sie es sind, die sie vollbringen.

Robotern ist die Welt der Taten und ganz und gar die Welt historisch bedeutsamer Taten, kurz die geschichtliche Welt, in der wir leben, verschlossen. Wer wähnt, annehmen zu können, daß sich demnächst oder dermaleinst bei fortgeschrittener KI-Technik Roboter zusammenrotten und verbünden mit dem Ziel, eine geschichtliche Tat zu vollbringen, indem sie in die historische Welt, in der wir leben, eindringen und einbrechen, um die Macht an sich zu reißen, hat zu viel Science Fiction aufgesogen oder will in eitler Weise skandalisieren oder ist nicht mehr ganz bei Trost.

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