Der Kretin des Mitgefühls
Wenn reine Moral die politischen Entscheidungen beflügelt, sind Lug und Trug und Verantwortungslosigkeit die Folgen.
Wer die höhere Moral auf seiner Seite glaubt, watet bald durch das Blut der Anverwandten.
Der Kretin des Mitgefühls hievt den Schiffbrüchigen an Bord, der das Boot zum Kippen bringt.
Politische Dummheit ist Blindheit vor der Gefahr.
Die Selbstgerechten brechen als erste den Stab über den Zweifler und Zauderer.
Der Schnauzbart mästet eine faule Moral, die sich die Hände nicht schmutzig machen zu müssen wähnt.
Bei jedem kleinen Schnupfen rennen sie gleich zum Arzt; ist aber die Nation in toto infiziert, harren sie sehnsüchtig auf den Untergang im Delirium.
Die Gänse, die wie einst auf dem heiligen Hügel bei drohender Gefahr schnattern, werden hierzulande nicht kultisch verehrt, sondern geschlachtet.
Sie verwechseln Unachtsamkeit mit Offenheit und Gastlichkeit.
Sie glauben sich selbstlos, doch Eignes haben sie nicht.
Rom ging nicht an einem Tage unter, aber schon Sallust und Tacitus diagnostizierten die Krankheit am Symptom der Selbstherrlichkeit und Überheblichkeit.
Nur wenige Auserwählte wie Platon, Goethe und Stefan George erlebten den erfüllten Augenblick, in dem sich der Stern im stillen Wasser der Seele spiegelt.
Der Wert des Menschen bemißt sich an dem Wert der Sache, für die er sein Leben zu opfern bereit ist.
Sie aber wähnen, das nackte Vegetieren, ob in Schande oder am Tropf der Fremdbestimmung, sei der Güter höchstes.
Für die Menge zählt nur der warme Koben, in dem sie sich auch morgen noch suhlen können.
Wenn alle irren, halten sie den Irrtum für Wahrheit.
Wer am lautesten brüllt, wer am schamlosesten gestikuliert, wer am glänzendsten lügt, erhält den Haupt- und Ehrenpreis.
Sie verwischen die weiße Spur, Europas Würde, mit Palmenwedeln.
Der Dichter, der singt, läßt die Besseren erröten, denn sie schämen sich ihrer Harthörigkeit.
Der Dichter, der leise singt, wird bedauert, als sei er im Stimmbruch oder kastriert.
Die vornehme Seele malt sich in feinsten Graunuancen, der vulgären können die Farben nicht bunt genug schreien.
Die Stumpfen begleiten ihren Zug mit heiseren Parolen und dröhnenden Trommeln.
Hat ein Barbar eine Unschuld auf offener Straße erschlagen, bedauert ihn der Kretin des Mitgefühls ob der ihm versagten Fürsorge und Zuwendung.
Der Barbar will erregt werden, nicht gestillt.
Die Kunst hat sich selbst aufgegeben, wenn sie auf den Strich der öffentlichen Moral geht.
Die falschen Propheten lallen nicht, weil der Geist zu sehr braust, sondern aufgrund geschwollener Zungen und wässriger Herzen.
Sie halten die Liebe für eine diskretere Form der Ausscheidung.
Der verzweifelte Dichter sehnte sich nach der Vermischung des Urschlamms. Aber sein Herz tönte darüber fern und silbern, die gläsern-blaue Glocke adriatischer Luft.
Sie applaudieren dem Mund, der sie mit Unrat bespuckt, der am Licht der Gnade erblüht, stinkt ihnen.
Weil sie keine eigne Kultur haben, feiern sie den Karneval aller.
„Karneval der Kulturen“ – ein Ausdruck der geistigen Unzucht.
Reinheit des Ausdrucks, der Seele und ihres Akkords – das Feindbild des geistigen Mischlings.
Die hohe Orgel der Seele zieht von selbst ihre Register ein, da sie sich mit dem Gequengel und Geplärre der Mundorgel begnügen.
Ein tödlicher Einwand ist dem Straßenlärm die Stille im Elfenbeinturm.
Dem Götzen Babylons, der sich über Stahl und Beton wälzt, opfern sie die reine Jugend.
Selig, die ihre Ohren mit dem Wachs der Langmut und Demut verstopfen, sie vernehmen nicht mehr das nächtliche Gurren der Barbaren und das Blöken der geschächteten Lämmer.
Hoffnung ist bei dem reinen Kind, das zurückschrickt vor dem ersten Schritt auf den jungfräulichen Schleier des Schnees.