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Der Kobold und das Mädchen

30.11.2013

Es war schon spät und der kleine blonde Kobold immer noch auf den Beinen. Als es dann dämmerte und obendrein sogar nieselte, verzog er das Stupsnäschen und sträubte sein krauses Fell. Seine Beinchen waren so müde – denn er huschte, um den böses Menschentieren nicht ins Auge zu fallen, meist über die Regenrinnen der Dächer und wetzte die Abflussrohre rauf und runter. Und wie er sich jetzt ein letztes Mal ein dunkles Rohr mit seinen winzigen Koboldkrallen hinaufhievte, wurde er in der Mitte unsanft von einer kalten Dusche überrascht.

Als er endlich pudelnass den First des Daches erreicht hatte, war es bereits dunkel geworden. Er schüttelte so gut es ging die Tropfen aus dem Fell und rieb sich mit den zarten Tatzenballen die langen Schnurrhaare glatt. Ja gewiss, der kleine Kobold hatte etwas Katzenhaftes an sich, auch er wedelte, wenn er den abenteuerlichen Geschichten des Großvaters auf dem Sofa kuschelnd lauschte oder unterm Ofen hockte, wo die Großmutter Kuttelsuppe kochte, bedächtig oder aufgeregt mit der Spitze des Schweifs, buschig wie der eines Hasen, in den er sich zum Einschlafen behaglich einmummelte; doch war er kleinwüchsig, von der Größe etwa eines Hamsters, und seine Augen waren eher wie die kullernden Knöpfe der Maus als die hellen Lichter der Katze mit ihren scharfen Linsenspalten.

Jetzt lugte er in den weiten, fernen Abgrund der großen Stadt mit ihrem Gewimmel von Lichtern und Leuchten, den huschenden Scheinwerfern und dort drüben den phantastisch blinkenden Tausendaugen der Hochhäuser, an deren höchstem kleine beleuchtete Aufzüge aus Glas auf- und niedersausten wie weiße Mäuse in heller Panik. Und alles überragend, in der Ferne jenseits des Flusses die schwarze Pracht der Berge und Wälder, und darin verstreut die einsamen Hütten und Dörfer, von denen er vor Tagen aufgebrochen war, um in der Stadt der Menschen seine erste Koboldtat zu verüben.

Da überfloss das kleine Untier ein warmes Goldlicht, das aus dem Dachfenster gleich über ihm drang. Neugierig schlich der Kleine näher und lugte vorsichtig, was sich da wohl abspiele. Er sah ein kleines Mädchen, das gerade den dicken Knuddelbär mit dem ausgestreckten Zeigefinger ausschalt, weil er zu Boden gefallen war. Es legte den Bären auf den Schaukelstuhl neben seinem Kinderbett und deckte ihn liebevoll mit einer sternenübersäten Decke zu. Da durchschoss es das Tierchen: „Das ist das Menschenkind, das mir der Gott der Bolte mit dem goldenen Bart vorherbestimmt hat. Dazu hat mich Großvater oft ermahnt: An ihm soll ich meine erste Koboltiade verüben!“

Während er noch das runde Köpfchen hin- und herwiegend überlegte, wie er in das Zimmer des Mädchen gelangen mochte, sah er, wie eine junge Dame in einem rosa Mantel mit Rüschen den Raum betrat und flugs das Fenster öffnete – rasch barg der Kobold sein Köpfchen unter dem Fensterbrett und hörte, wie die Mutter sprach: „Liebes Sarahherz, es ist Schlafenszeit! Und denk daran, das Fenster nach fünf Minuten zu schließen – nicht dass mir nachts einer der Kobolde hineinschlüpft, von denen du mir erzählt hast!“

Der Kobold passte den Augenblick ab, da Sarahs Mutter verschwunden war, und husch – schon war er in das Zimmer des Mädchens geschlüpft und husch – in die Puppenwiege gehüpft, die er sich als vorläufiges Versteck vor dem Fenster ausgeguckt hatte. Da kroch er nun tief unter die Deckchen und Kissen. Er spitzte wohl die Ohren, doch vernahm er nur Rascheln und leises Kichern oder Summen, das Fenster fiel ins Schloss, es wurde still und Schlummer sank auf den kleinen Unhold.

Ähnlich wie Katzen sind Kobolde von Natur aus reinliche Wesen und pflegen sich einige Male am Tag, vorzüglich nach den Mahlzeiten, gründlich zu putzen: Sie belecken das Fell mit ihrer rauhen Zunge, reiben sich die schwarzen Knopfaugen und das ganze Gesicht mit kreisenden Bewegungen ihrer Pfötchen und striegeln und kämmen den prächtigen Goldschweif mit ihren bläulich schimmernden Krallen. Deshalb verströmen diese possierlichen Zeitgenossen anders als Hunde, Schweine oder Kühe keine üblen Gerüche, an denen man sie leicht erkennen könnte. So lag auch unser Kobold unbesehen und ohne jedes Wölkchen verräterischen Geruchs wohlig und sicher in der Wiege des Mädchens.

Gerade eben war er eingeschlafen, da drang ein Lied an sein Ohr, lieblich von den Lippen des Kindes strömend:

Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all!
Zur Krippe her kommet, in Bethlehems Stall.
Und seht, was in dieser hochheiligen Nacht
der Vater im Himmel für Freude uns macht

Denn es war spät im Jahr und Weihnachten nahte. Doch davon wusste das Tierchen nichts, nur die süßen Klänge durchfegten und durchfächelten die Schatten seiner unruhigen Träume wie die Winde die zitternden Blätter der Pappel.

Und dem Kobold träumte, es sei ihm auf dem moosigen Waldweg zur Hütte der Großeltern, den er beinahe täglich ging, plötzlich hinter einem hohen Hinkelstein der große Bolten-Gott mit dem goldenen Bart entgegengetreten. Und wie er sich scheu aufgerichtet, den struppigen Schwanz durch die Hinterbeine gezogen und die Spitze des Schweifs brav zwischen die Pfötchen geklemmt hatte, hörte er den bärtigen Alten raunen: „Auf mein Söhnchen, das Herumtollen und die wilden Spiele mit den Freunden haben jetzt ein Ende. Und dir täglich bei der Großmutter das Mäulchen versüßen lassen ebenso. Kehr deinen Weg um und lauf flugs in die Stadt zu den Menschen. Da wirst du einem zarten Menschenkind begegnen, das dein Koboldtum auf die Probe stellen soll. Erst wenn du die Probe bestanden hast, darfst du in den Wald zu deinesgleichen zurückkehren.“

Mit diesen Worten erwachte der kleine Kerl und schaute verdutzt in ein paar leuchtend grüne Augen und fühlte, wie ihm eine liebe Hand durch das Fell im Nacken fuhr.

So wurde dem Kobold die Wiege das Bett und das Zimmer des Mädchen eine neue Bleibe, in die er allabendlich nach seinen Streifzügen, Abenteuern und Neckereien des Tages zurückkehrte. Dann ließ er sich zur hellen Freude der Kleinen dann und wann als Hanswurst, Clown oder Muselmane verkleiden – das Mädchen hat die hübschen Kostüme selbst aus alten Flicken und schimmernden Fetzen aus Seide, Taft und Atlas zusammengenäht, Stoffe, die sie unter Mutters Nähmaschine reichlich finden und aufraffen konnte. Wenn der Kobold auf dem Tisch eine alberne Hanswurstiade aufführte oder als Clown stolperte und über den Tischrand plumpste, wenn er mit strassbesetztem Turban die Pfötchen vor der Brust kreuzte und die Beinchen übereinanderschlug, klatschte das Kind in die Hände und lachte aus vollem Herzen.

Wenige Menschen wissen noch um all das Wunderbare, das sich in der Weihnachtszeit ereignet: So füllen sich Morgen- und Abendtau mit einer gnadenvollen Süße, und wenn die Tiere des Waldes die Tautropfen von den Blättern, Zweigen und Halmen lecken, erlangen sie um diese heilige Zeit die Gabe, mit den Menschen und ganz besonders mit den Kindern zu reden, wenn sie gutherzig angesprochen werden.

Das wusste auch der Kobold, und so beträufelte er emsig seine Zunge mit den kostbaren Tropfen, bevor er abends durch das Abflussrohr auf das Dach zum Fenster des Mädchens kletterte.

Was hatte der Kobold wohl zu erzählen? Natürlich von seinem abenteuerlichen Leben im Wald, der Hütte und dem knisternden Herd der Großeltern, denn die Eltern waren ihm durch einen bösen Übergriff der Jäger entrissen worden, von den Rehen und Hirschen, den Wildschweinen und Bibern, den Eulen und Uhus und den Singvögeln, den Wildkatzen und Waldmäusen, den Auherhähnen und Füchsen, den Wölfen und Luchsen und all den anderen Waldtieren. Aber er wusste auch erstaunliche Dinge von Elfen, Trollen und seinem eigenen Geschlecht, den Kobolden, zu berichten. Doch von dem großen Herrn und Gott der Bolte mit dem goldenen Bart zu erzählen traute er sich vor dem Mädchen nicht.

Das Kind hörte genau zu und in ihm erwachte die Liebe zur geheimnisvollen Schönheit des Waldlebens. Da hieß sie ihren treuen Freund auf dem Bettchen Platz nehmen und begann zu erzählen:

„Es war einmal eine schöne, aber verlassene Frau, die war schwanger und durfte in der Stadt, wo sie lebte, das Kind nicht haben. Da lief sie eines Abends in ihrer Not in den großen Wald, ohne zu wissen, wie ihr dort Hilfe zuteil würde. Es war Schnee gefallen und der Weg, der sich immer weiter in die Höhe schlängelte, war vom Widerschein des Mondes seltsam erleuchtet. Die Frau war schon ganz erschöpft und zog sich keuchend an den Zweigen der jungen Buchen nach oben. Da glaubte sie in der Höhe über ihr ein freundliches Licht glimmen zu sehen. War es ein erleuchtetes Fenster in einer Berghütte, war es ein Stern? Sie wusste es nicht. Da zogen sie die einsetzenden Wehen zu Boden, sie kroch in eine Mulde aus Lehm und begann bitterlich zu weinen. Schließlich verspürte sie keine Schmerzen mehr, sie war ohnmächtig geworden.

Als sie erwachte, lag neben ihr in Blätter gehüllt und auf Stroh gebettet in einem aus Holzsplittern und Rinden und abgebrochenen Zweigen gezimmerten und gedrechselten Krippchen das neugeborene Kind, ein Junge mit sanft blickenden Augen. Vor ihr sah die Mutter kleine Kobolde hin- und herwuseln, die einen kämmten ihr Haar, andere zupften ihr Kleid zurecht und putzten ihre schmutzig gewordenen Schuhe mit Reisig und Blättern, wieder andere neckten das Kind liebevoll, welches sie mit seinem Händchen tätschelte.

Da erschien über ihnen eine leuchtende Wolke und die Wolke tat sich auf und Engel flatterten und schwangen sich hervor und sangen:

Heut ist das Heilige Kind geboren,
zum Heiland allen auserkoren,
die ihm ihr Liebstes schenken,
vor ihm die Knie senken.

Da war es recht possierlich anzuschauen, wie die kleinen Kobolde innehielten und vor dem lächelnden Kind einen Knicks machten. Und auch die anderen Tiere traten eines nach dem anderen aus dem Wald hervor, Reh und Schwein, Kauz und Kuckuck, Biber und Marder, Igel und Hase, und erwiesen dem lächelnden Kind ihre Reverenz, ja sogar Bienen, Hummeln und Schmetterlinge waren durch das Wunder dieser Schneenacht aus dem dunklen Tal wie hervorgezaubert und umflatterten und umsummten die Mutter und das Kind.“

Nur vor einem hatte der kleine Kobold Angst: vor den Eltern des Mädchens. Denn der Vater war ein schießwütiges Mitglied im Jagdverein und hasste kleine unnütze Tiere und Wesen, die missgestaltet waren und unnatürlich aussahen, und die Mutter war zwar eine Schönheitskönigin und trug einen zopfigen Turm blonden Haars auf dem Kopf, doch alles kleine Getier, das sich in die Häuser schlich, war ihr als Überträger böser Keime und krankmachender Viren verhasst. Deshalb versteckte sich der Kobold hurtig unter dem Bett, wenn die Treppe knarzte und die Mutter nach oben kam, um der Kleinen einen Gutenachtkuss zu geben, oder der Vater, um ihr eine Gutenachtgeschichte vorzulesen.

Sobald der Kobold am Fenster erschien und mit seinen Pfötchen sachte an die Scheibe trommelte, ließ sie ihren neuen Freund zum Abendessen herein. Alles hatte sie liebevoll vorbereitet: Aus Mutters Küche und gestopfte vollen Speisekammer hat sie Äpfel, Birnen, Nüsse und Rosinen abgezweigt; aber auch von ihrem Taschengeld erstand sie auf dem Markt ein paar frische Eier, Ananas oder Kiwis für das ungeduldige Leckermaul. Besonders die exotischen Früchte hatten es dem Kleinen angetan – kam er doch zum ersten Mal in seinem Leben in den Genuss mediterraner Süße und Lieblichkeit. Mit Mehl und Zucker und mancherlei Früchten buk das Mädchen nachmittags kleine Küchlein in der Küche, wenn die Eltern außer Haus waren; anschließend lüftete sie den Raum gründlich und beseitigte alle verdächtigen Spuren ihres kleinen Liebesdienstes. Es war allerliebst, dem Kobold bei seinen Naschereien zuzuschauen: wie er den köstlichen Duft der zugeschnittenen Küchlein mit bebenden Nüstern aufsog, die Stückchen manierlich in die Pfoten nahm und mit glänzenden Augen auf die rosarote Zunge schob. So manche Träne des Glücks kullerte ihm auf die Batistserviette aus Mutters Anrichte, die ihm die Freundin umgehängt hatte.

Sarah und ihr Freund teilten einen großen Spaß: Wenn das Mädchen in das wohlig-schäumige Wasser der Badewanne eingetaucht war, schlich sich leise, leise, der kleine Kobold herzu. Da gab es nun die lustigsten Wasserspiele, wenn die Kleine die Seife hinabgleiten ließ und der Kobold nach ihr tauchte, wenn das Tierchen sein Pläsierchen darin fand, den Schwamm auf der Nasenspitze zu balancieren und den Waschlappen herumzuwirbeln oder zwischen den Pfötchen auszuwringen, oder wenn die beiden Freunde sich einer sportlichen Betätigung hingaben, die nicht ohne Tücken und auch Gefahren war: Wer konnte wohl länger unter Wasser tauchen?

So geschah es eines Tages, dass die ehrgeizige Sarah nicht länger hinter dem stets siegreichen Meistertaucher und Schwimmstar Kobold hintanstehen wollte. Sie nahm also einen tiefen Atemzug, klemmte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand die Nasenflügel aneinander und tauchte abwärts. Koboldchen tat desgleichen – freilich ohne die Nase zuzukneifen, das brauchte er nicht –, doch diesmal kam er als erster, ein wenig prustend, an die Oberfläche. O weh, was war mit dem Kind geschehen? Die Hände schwebten beide unter der Wasserfläche und die Augen waren so seltsam starr geöffnet.

Da fing unser Kobold, denn das sind die Naturlaute der Kobolde, ein panisch-grelles Schnattern an, das immer wieder von einem hohen und gellenden Fiepen abgelöst wurde – schon waren die Eltern alarmiert und gleich zur Stelle, der Vater riss das Mädchen aus der Wanne und trug es ins Wohnzimmer, um es auf das Sofa zu betten. Er klopfte dem Töchterchen kräftig auf den Rücken, da prustet das Kind und erbricht Wasser. Alles war erleichtert und froh.

Doch dem Kobold wusste man keinen Dank. Im Gegenteil, die Mutter brach bei seinem Anblick in hysterisches Geschrei aus, schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und rief Zeter und Mordio, was für ein Ungeheuer, was für ein kleiner hässlicher Teufel sich in ihren reinlichen Haushalt eingeschlichen habe, um nichts als Unrat und böse, giftige Keime zu hinterlassen. Der Vater fackelte nicht lange und hetzte das verschreckte Tierchen und brachte es in der Zimmerecke zur Strecke, wo es ausweglos das Köpfchen hin- und herwandte: Ein Griff an das wulstige Nackenfell, und alles Schnattern und Fiepen war umsonst. Jetzt hockte der Kleine in einem Käfig, den die Mutter auf Geheiß des Vaters schnell aus dem Keller hervorgeholt hatte. Wollten sie den Kobold etwa in den Wald zurückbringen und in seiner Heimat wieder aussetzen? O nein, ins naturhistorische Museum sollte er morgen, denn für heute war es schon zu spät, verbracht werden, da sollten sie ihn ausstopfen und der Sammlung all der Monster und Ungeheure in Menschen- und Tiergestalt hinzufügen, für die das Museum berühmt war.

Das Mädchen war wohl sehr erschöpft, noch war es ihm ganz bang ums Herz. Doch das Schicksal ihres Freundes war ihm nicht gleichgültig und die Gefahr, in der er schwebte, spornte es zu mutiger Tat. Also öffnete sie spät, als die Eltern schon lange schliefen, den Käfig, hob das Tierchen auf die Arme und trug es an das Fenster seines Zimmers. Der kleine Kobold zögerte nicht lange, denn der Schrecken saß ihm in den Gliedern. Auch hatte er die Gabe, nach Menschenart zu reden, eingebüßt. So ließ er ein letztes leises Schnattern, ein letztes süßes Fiepen vernehmen – und husch entschwand er in die Nacht.

Auch nachdem es längst seine Puppenstube verschlossen, den Teddy an ihre jüngere Cousine verschenkt und die lustigen Koboldkostüme tief in der Schublade verwahrt hatte, öffnete das Mädchen noch viele Jahre, wenn der erste Schnee in den Lichtern der Nacht glitzerte, das Fenster unter dem Dach und schaute mit warmer Sehnsucht in die Ferne, hinüber zum dunklen Wald, dorthin, wo das seltsame Völkchen der Kobolde haust. Denn wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

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