Der Blick des anderen
Zur Philosophie der Wahrnehmung V
Wir sehen den Blick des anderen und erfassen intuitiv das, was wir den Blick-Modus nennen können; diesen bezeichnen wir näher durch Hinzufügung einer adverbiellen Bestimmung, wenn wir etwa davon reden, einer blicke uns freundlich, verwundert, prüfend, lauernd, mißtrauisch oder geringschätzig an.
Zu behaupten, wir würden im Blick des anderen zu einem Objekt oder Ding entfremdet und entwirklicht, hätten gar am Ende nur die Wahl zwischen aggressiver Selbstbehauptung oder masochistischer Selbstverleugnung, ist eine phänomenologisch unzureichende Beschreibung. Genauer besehen, geben wir in der konkreten Situation der Begegnung und des kommunikativen Austauschs dem anderen einen Anlaß oder zumindest einen Vorwand, seinen Blick auf uns in der Weise zu modifizieren, wie er es tut. Geben wir ihm einen Anlaß zu Verwunderung, Ärger oder Mißtrauen, ist es plausibel zu erwarten, daß er uns verwundert, verärgert oder mißtrauisch anblickt.
Der Blick-Modus spiegelt die jeweilige Situation des Nah-Kontakts und das soziale, familiäre oder intime Verhältnis der Beteiligten; so wird der Personalchef den Bewerber kritisch mustern, der Meister den Lehrling fachkundig-distanziert beobachten, das Kind, das heimlich genascht hat, die Mutter verstohlen anschauen, der Enkel den Großvater, während er sein Seemannsgarn abspult, mit großen, bewundernden Augen betrachten, der Liebhaber die flatterhafte Geliebte argwöhnisch ins Auge fassen, wenn sie sich allzu begeistert über den neuen Kollegen ausläßt.
So sagen wir von einem Blick, er sei offen oder verstohlen, verhangen oder glänzend, stechend oder lieblich, bewundernd oder abschätzig, gläubig oder skeptisch, fest oder irre, sinnend oder schweifend, hoheitsvoll oder hündisch.
Der Topos vom Auge und Blick als Spiegel der Seele kommt uns in den Sinn, denken wir an den leuchtenden Blick des Kindes, das sich zum ersten Mal im Spiegel erkennt, den erloschenen, dem wir pietätvoll die Lider verschließen.
Aufgrund der Wahrnehmung des Blicks betrachten wir unser Gegenüber nicht als etwas, sondern als jemand, nicht als seelenlosen Körper, sondern als leibhafte Person.
Am Blick des anderen gewahren wir einen Nullpunkt des Daseins, der mit dem unseren in der Kongruenz geteilter oder noch unentdeckter Perspektiven steht.
Der Blick enthüllt uns die Beseeltheit des Leibes; seine glänzende, doch undurchdringliche Präsenz ist jene Instanz, die uns vor der Versuchung des cartesischen Dualismus von Körper und Geist bewahrt. Denn im Antlitz und Blick des anderen ist uns die Realität der leibseelischen Monas intuitiv gegeben.
Wir fragen nicht, aufgrund welchen psychophysischen Mysteriums ein Körper eine Person sein kann; genausowenig wie wir fragen, aufgrund welcher semantischen Transsubstantiation sich physikalische Ereignisse wie bloße Laute zu Trägern von Bedeutung wandeln.
Betrachten wir ein soziales Phänomen wie Verlegenheit und Scham, enthüllt sich uns im Spiel der Blicke eine ethische Dimension, wenn wir unter den vorwurfsvollen Blicken dessen, den wir betrogen oder verraten haben, schuldbewußt den Blick senken.
Auf der anderen Seite ermessen wir am Blick des Perversen, der sich ungerührt auf die physischen oder seelischen Verletzungen seines Opfers richtet, die ethische Paradoxie des rechtlich nicht zurechenbaren Vergehens dessen, der unfähig ist, sich schuldig zu fühlen oder Scham zu empfinden.
Unser Ethos gründet in unserer Fähigkeit, Verlegenheit, Scham und Schmerz zu empfinden; in einer Welt menschenähnlicher Roboter wäre ein Gebot wie dasjenige, dem anderen unter normalen Umständen nicht zu nahe zu treten und ihn nicht über Gebühr in Verlegenheit zu bringen, ihn nicht unnötig zu beschämen oder körperlich und seelisch zu verletzen, ohne Relevanz.
Wir lernen, uns selbst unter dem Blick des anderen zu sehen. Der Blick der Mutter, der das Kind mehr in Verlegenheit bringt als ermuntert, macht sein Selbstgefühl nach und nach unsicher und raubt ihm den inneren Halt.
Wir vermeiden es, uns vor den Blicken der anderen zu entblößen, in ernsten Situationen Grimassen zu schneiden, in ausgelassenen in der Ecke zu schmollen, im Liebesbett zu klagen, am Totenbett zu lachen.
Der Blick des anderen übt jene soziale Kontrolle aus, der den Dieb veranlaßt, heimlich vorzugehen, den Voyeur, hinterm Gebüsch zu lauern, den Paranoiker, sich unauffällig zu kleiden, leise zu reden und lautlos aufzutreten.
Wir kennen die Wendung, wonach wir es dem unbefugten Blick versagen, in die Falten unseres Herzens zu spähen. Wir könnten ergänzend bemerken, daß wir es dem intimen Blick erlauben.
Wir sehen nur das, was in unser Gesichtsfeld gerät; der Rand des Gesichtsfeldes bildet implizit, was wir in der Rede von Subjekt und Ich explizieren.
Daß unser Blick die Grenze des Sichtbaren konstituiert, ist uns nur selten bewußt; denn wir haben keine Vorstellung davon, wie es wäre, wenn seine Grenzen anders gezogen wären. Andererseits gehen wir davon aus, daß der Blick des anderen ein dem unseren ähnliches Gesichtsfeld aufbaut; diese wechselseitige Bestätigung unserer subjektiven Perspektiven zieht uns nicht in den Strudel eines skeptischen Relativismus, sondern führt uns zum Begriff einer gemeinsamen objektiven Welt.
Wenn wir in ein Teleskop blicken, entdecken wir in dem blassen Nebel, den wir mit bloßem Auge wahrnehmen, eine Vielzahl von Sternen und Galaxien. Auf verwandte Weise kann die schärfere Sicht des anderen unserer schwächeren aufhelfen, wenn er uns darüber belehrt, daß es sich bei den weißen Flecken in der Ferne, die wir für blühende Büsche hielten, um Schwäne handelt.
Der andere vermag uns darüber aufzuklären, daß was wir zu sehen uns einbilden, nicht real ist, wie es der Psychiater dem halluzinierenden Patienten gegenüber tut.
Was wir halluzinierend, imaginierend und träumend sehen, sind von uns anhand der Erinnerung an Reales konstruierte Bilder; was wir wirklich sehen, sind keine Bilder. – Daher können wir Träume interpretieren, aber keine Wahrnehmungen.
Bilder sind weder wahr noch falsch; Wahrnehmungen können anhand theoretischer Modelle richtig oder falsch erklärt werden, wie die Wahrnehmung der Sonnenbahn unter dem Horizont anhand des geozentrischen Weltmodells falsch, anhand des kopernikanischen richtig erklärt wird.
Wir lernen mit den Augen anderer sehen, nämlich den Augen von Kopernikus und Newton, wenn wir aufgrund des Schulunterrichts unser naturwüchsiges geozentrisches Weltbild in ein kopernikanisches transformieren.
Wir lernen mit den Augen der anderen sehen, insbesondere der Eltern und Lehrer, wenn wir den Unterschied bei der Wahrnehmung des Konkreten und des Abstrakten, von Token und Type, Einzelding und Universale bemerken. Wir sehen nicht nur die Hand, sondern zählen fünf Finger, und nicht nur bei uns, sondern an den Händen der anderen Kinder. Man legt uns Blätter der Buche vor Augen, und wir erfahren, daß sie von den Bäumen auf dem Schulhof stammen, doch könnten sie an diesem Baum oder jenem gewachsen sein. Wir wissen, daß dieses Glas Wasser enthält, und verstehen, daß es sich um denselben Stoff handelt, der die Flüsse, Seen und Meere füllt.
Wir lernen an der Form dieser singulären Tanne die allgemeine Eigenschaft, dreieckig zu sein, kennen, die wir an allen möglichen Objekten identifizieren, aber auch losgelöst von ihrer physischen Instantiierung als abstrakte geometrische Figur betrachten, konstruieren und berechnen.
Wir lernen die logische Form (x)F an einem roten Ball sehen, wenn wir bemerken, daß wir die generelle Farbeigenschaft F allen möglichen Dingen oder Einsetzungen für x zusprechen können.
Wir lernen die logische Form der Relation xRy am Verhältnis von Vater und Sohn oder von Bruder und Schwester sehen, wenn wir bemerken, daß wir die generelle Relationseigenschaft R allen Einsetzungen für x und y zusprechen können, die in einem solchen oder ähnlichen Verhältnis zueinander stehen.
Der Blick und die Sichtweise des anderen üben demnach nicht nur eine soziale Kontrollfunktion auf uns aus, sondern sind auch die Instanz, die uns peu à peu mit den allgemeinen Eigenschaften und Strukturen der Welt, in der wir leben, bekannt macht.
Wir erfahren aus dem Mund des Freundes, wie er die Sache sieht; wir können seine Sichtweise und seinen Blickwinkel probeweise und als Variante unserer Sichtweise übernehmen. Wir sehen in dem Bild eine Ente, er weist uns darauf hin, daß wir es auch als Hasen sehen könnten. Wir sehen in dem Verhalten der Frau eine uns beschämende Zurückweisung; er macht uns darauf aufmerksam, daß es auch ein Ausdruck der Unsicherheit aufgrund der Erfahrung eigener beschämender Zurückweisung sein könnte.
Das eine ist, allgemeine Züge und Merkmale mittels Variation unserer Perspektiven und Blickwinkel aufzufinden und zu beschreiben, wie etwa jene Züge und Merkmale, die wir jemandem als Person zusprechen; etwas anderes, die individuellen Züge und Merkmale einer bestimmten Person zu beschreiben. So erfassen wir in den Schriften Platons Beschreibungen des Sokrates; doch vergleichen wir sie mit jenen Xenophons, erkennen wir die spezifische Tönung der jeweiligen Ansichten, die wir in vielem nicht zur Deckung bringen können.
Wir können allgemeine Züge und Merkmale biologischer und psychologischer Natur eines Mannes und einer Frau beschreiben; doch es scheint nur eine leere Phrase, uns aufzufordern, einmal den Blickwinkel und die Sichtweise dieses bestimmten Mannes, dieser bestimmten Frau zu übernehmen.
Freilich können wir die Sichtweise eines anderen erfinden, doch dann schreiben wir einen Roman oder ein Gedicht.
Wie andere die Welt und das Leben sehen, entnehmen wir ihren Äußerungen, besonders den Werken der Dichter, Maler und Musiker. Dabei stoßen wir auf eine irreduzible Mannigfaltigkeit von Sichtweisen, weil ihnen das Moment des Imaginären und Fiktiven innewohnt. Dies gilt auch für Autobiographien, wie es Goethes Benennung der seinen als Dichtung und Wahrheit sinnfällig macht.
Individuum est ineffabile, und, könnten wir hinzufügen, in gewisser Weise auch invisibile.
Da wir in einer Welt leben, die größtenteils von Individuen, seien es Dinge oder Personen, bevölkert ist, müssen wir eingestehen, daß wir auf weiten Strecken im Dunkeln tappen.
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