Der beschlagene Spiegel
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Für die relative Differenz wie die zwischen Personen, Arten oder Kulturen bieten wir unsere Einbildungskraft oder unser poetisches Ingenium auf, nicht immer vergeblich; doch vor dem absoluten Unterschied, dem von Leben und Tod, Sein oder Nichtsein, müssen wir die Waffen begrifflichen und bildlichen Verstehens strecken. Wir haften am Modell einer Asymptote, die sich zwar immer mehr der zu erreichenden Grundlinie annähert, sie aber niemals berührt.
Das, was im Sterben den Atem, den Herzschlag stillstehen läßt, denken wir uns wie diese Asymptote, doch so, als berührte sie eben jetzt die Linie.
Oder wir entfernen aus dem imaginären Wohnzimmer der Erinnerung nach und nach jedes Möbelstück; jetzt steht es schon ganz leer; dann hängen wir auch die Bilder von den Wänden ab; jetzt ist es leer und ganz kahl; endlich löschen wir das Licht oder schließen die Läden; jetzt ist es leer, kahl und finster. Aber wir können mit diesem Verfahren sich steigernder Negation nicht zu einem Bild oder einer Metapher unserer Nichtexistenz gelangen, denn da ist immer noch etwas, was übrigbleibt, gleichsam die dünne Luft der Abwesenheit, ein fahler Schimmer, der durch die Ritzen der Fensterläden oder den winzigen Spalt eines Vorhanges fällt. – Und immer ist da noch einer, der könnte er sprechen, von der dünnen Luft der Abwesenheit spräche oder dem fahlen Schimmer, der von irgendwoher in die Erinnerung fällt.
Das abstruse philosophische Kauderwelsch, das mit Platon, wenn auch gemäßigt von dichterischem Ingenium, anhebt, gipfelt nirgend anders als im deutschen Idealismus. Waren es in der Frühzeit noch sprachliche Vexierbilder wie die als Namen mißverstandenen Begriffe von Zahlen und Pseudo-Entitäten wie Wahrheit, Schönheit, Tugend, ist es beim intellektuell zügellosen Hegel ein Höllenreich radebrechend sich begattender Wesenheiten vom Nichts über das Etwas bis zum Zentrum dieser logischen Hölle, Gott, der weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist, sondern ein dialektisches Monstrum ist.
Die wahren Erben Hegels, Marx, Lenin und tutti quanti, inthronisierten den Höllengeist als uniformierte Avantgarde und revolutionäre Parteielite über einem eschatologischen Reich, in dem das Glück der Massen sich ununterscheidbar mit dem Tugendterror der Politik vermengt.
Der prophetenbärtige Freud missionierte am erfolgreichsten im Land der Pilgerväter mit einer sexualisierten Version des Puritanismus, einer pantheistischen Erotik ohne Gott, einer gleichsam im Brutwasser schwimmenden puritanischen Moral; das machte ihn für Hollywood anziehend.
Im Laufe der Jahre blickt einen die eigene Seele aus einem von den Ausdünstungen des Geschwätzes beschlagenen Spiegel als Gespenst entgegen.
Der jugendliche Feuerkopf, besessen von dem, was er als Leidenschaft für die Wahrheit, die Gerechtigkeit oder ein sonstiges Ideal mißversteht, verspürt ein quälendes Kribbeln in den Fingern; es sind die Wörter, die, wenn er sie über die Seiten gehetzt aufschreibt, auf der Stelle neue hervorlocken, um die Folter nur noch zu verlängern und zu vergrößern. Doch die wirren Schriftzüge und schludrigen Chiffren eines losgelassenen Willens sind nichts weniger als sprossend, rankend und glühend; vielmehr hinterlassen sie, welk über Nacht, das matte Schimmern eines Leichentuchs. Alt, müde, resigniert, ist der Dichter des Schreibens überdrüssig; denn er hat nichts jemandem und keinem etwas mehr zu offenbaren oder zu verkünden. Schreibt er aber, halb dösend, noch etwas aus alter Gewohnheit nieder, rinnt ihm, er weiß nicht woher, ein unheimlicher Glanz in die Sätze, Glanz wie von nächtlichen Blitzen.
Das sprechende Wesen? Ach nein, lieber blumenstilles Dämmern, schöner die Blüte, die wie von allein, gekitzelt vom Strahl, duftend sich auftut, nicht einmal seufzt, wenn der unausbleibliche Eros sie heimsucht, Befruchtung und Bestäubung aber Wesen, fremd wie von einem anderen Stern, die sie in anderer Absicht besuchen, anheimstellt. Schöner das Blatt, worauf kein entwurzelter Wille herumkritzelt, sondern eingewurzelte Gene unbewußte Zeichen und Linien morsen und masern, Blatt, das ohne Mund und Ohr, ohne sich selbst inne zu werden und sich selbst und dem eitel-vereitelnden Publikum Zeugnis zu geben, vom anonymen Wind erregt, sanft vor sich hin rauscht.
Kretins der Moral sind baß erstaunt und hell entrüstet, daß es im Krieg auch Tote gibt.
Sie können nicht urteilen, ohne zu werten, nicht das Wort auf die Lippen heben, ohne es mit dem widrigen Speichel des Moralisierens zu belecken. Gedenken wir in aller Still Max Webers und seiner Forderung nach Wertneutralität nüchternen Denkens.
Bekennt man sich nicht offen oder öffentlich für die Seite in einem Konflikt, die sie als die ihre einzig bekennen, gilt man bereits als Hochverräter. Aber nicht zu unterzeichnen, was einer deklariert, heißt nicht, für das Gegenteil eintreten. Doch für diese elementare logische Einsicht gebricht es ihnen entweder an Hirnschmalz oder an gutem Willen oder, höchstwahrscheinlich, an beidem.
Jüngst hat der Schelm auf dem Heiligen Stuhl die altehrwürdige Litanei auf Maria, die lauretanische, in der die sancta virgo virginum unter anderem turris eburnea und rosa mystica genannt wird, um die neue, dem Zeitgeschmack die Füße leckende Anrufung ergänzt: solacium migrantium, Trost der Migranten.
Ach, turris eburnea, Elfenbeinturm, als Schimpfwort für sich asketisch der Form und Sprachgestalt widmende Dichter mißbraucht, entstammt der Marienandacht?
Rosa mystica, dies Symbol der Gottesmutter inspirierte ganze Generationen von Dichtern und Künstlern, bis die dichterische Imagination angesichts der Massenproduktion von kitschigen Plastikrosen neben anderen Devotionalien für die Rummelplätze des Kults sie ihrer mystischen Aura und ihres betörenden Dufts beraubt fand.
Der große Physiologe Johannes Müller sei aufgrund der Entdeckung, daß jeder organische Sensor auch bei qualitativ unterschiedlichen Reizquellen jeweils mit der für ihn eigentümlichen, spezifischen Reizantwort aufwartet, so das Auge bei Druck durch seine Visualisierung in Funken und Sternchen, zur Annahme seines sogenannten physiologischen Idealismus inspiriert worden, wonach uns als sensorisch und mental (und, könnte man heutigentags ergänzen, sozial) geschlossenen lebenden Systemen die Realität auf immer verschlossen, ein Buch mit Sieben Siegeln bleibe. – Doch vermögen wir ohne weiteres zwischen Trugwahrnehmung und Realitätswahrnehmung, Wahn und Wirklichkeit zu unterscheiden, und zwar auf der Basis unserer Art, die Wahrheitsbedingungen derjenigen Sätze anzugeben und zu prüfen, mit denen wir unsere Wahrnehmungen beschreiben. Sicher liegst du immer richtig, wenn du sagst, dies da erscheine dir grün. Doch wenn du aufgrund einer solchen optischen Wahrnehmung über die Kreuzung gehst und von einem Auto erfaßt wirst, wissen wir, daß wir richtig liegen, wenn wir sagen: „Entweder hat die Anzeige der Ampel versagt oder du bist einer Trugwahrnehmung erlegen; und nur eines davon kann wahr sein.“
Um das, was wir richtig, korrekt, wahr nennen, zu begründen, können wir uns nicht auf natürliche Phänomene und Ereignisse berufen, sondern sind auf die Anwendung und Beurteilung deskriptiver Aussagen angewiesen. An der Tatsache, daß Wasser bei 100 Grad Celsius verdampft und bei Minusgraden gefriert, ist nichts Normatives aufzuspüren (ebensowenig wie aus der Tatsache, daß der Erdolchte verblutet, die moralische Forderung folgert, Blutvergießen sei in jedem Falle zu vermeiden); doch die Aussage, daß Wasser bei Minusgraden verdampft und bei 100 Grad Celsius gefriert, ist evidentermaßen unrichtig, inkorrekt, falsch.
Es gibt nichts Unwahres in der Natur, also auch nichts Wahres.
Es gibt nichts Heiliges in der Natur, also auch nichts Unheiliges.
Die Natur kennt keine Gnade, aber auch keine Verbrechen.
Mag die Welt alles sein, was der Fall ist; sicher aber ist sie nicht, wie es der erkenntnistheoretische Idealismus unterstellt, alles das oder die Summe dessen, was wir wahrnehmen, erfahren, erleben oder woran wir uns erinnern. Denn wäre die Welt nichts anderes als die sagen wir systematisch gegliederte und klassifizierte Summe, gleichsam die mentale Bilanz unserer Wahrnehmung, Erfahrung und Erinnerung, würden die Begriffe der Wahrnehmung, Erfahrung und Erinnerung sinnlos.
Eine systematisch gegliederte und klassifizierte Summe unserer Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erinnerungen, in die auch all unsere Wahrnehmungstäuschungen, Illusionen und trügerischen Erinnerungen eingingen, sagt uns nichts über das, was wir Welt nennen könnten.
Welt ist nicht nur der Horizont, der stets mit unseren Schritten mitwandert, sondern der Horizont, der sich im Gefolge unserer Wanderungen und Expeditionen mehr oder weniger unmerklich verschiebt, erweitert oder verengt.
Das Thermometer mit seiner Quecksilbersäule hat keine qualitative Verwandtschaft mit dem Wasser, dessen Temperatur es mißt. Ähnlich der wahre oder falsche Satz: Er ist kein Abbild des Sachverhalts, über dessen Bestehen oder Nichtbestehen er wahrheitsgemäß oder fälschlicherweise Auskunft gibt.
Daß, solange es kulturelle Traditionen der Nationalsprachen gibt, jede Generation ihre eigentümliche Übersetzung von Homer, Sophokles und Horaz hervorbringt, weist darauf, daß es keine endgültige Version geben kann; doch es impliziert nicht, daß wir nicht zwischen weniger guten und guten oder hervorragenden Übersetzungen unterscheiden könnten.
Der Verfall des Deutschen, gemessen am sprachlichen Niveau eines Goethe, Thomas Mann oder Kafka, aufgrund seiner pervertierenden Indienstnahme durch Pädagogik, Politik und öffentliche Medien ist eklatant. Pars pro toto: der Untergang des Reflexivums; so liest man täglich Aufforderungen wie „Jetzt registrieren!“, „Heute noch bewerben!“ oder „Jetzt anmelden!“. Ist dies Ausdruck von Schlamperei, geistiger Verödung, Flucht vor der Wahrheit dessen, was Philosophen Selbstsein, Eigentlichkeit und Authentizität nannten, die sich ja am nachdrücklichsten in der Analyse des Gebrauchs reflexiver Wendungen offenbaren?
Sich an etwas zu erinnern ist etwas gänzlich anderes als jemanden an etwas zu erinnern.
Ähnliches gilt für den Verfall des Genetivs wie beispielsweise beim Genetivus partitivus, criminis oder memoriae: „Er hatte des Weines zuviel genossen“, „Er wurde des Verrats bezichtigt“ oder „Um seiner zu gedenken, ging er regelmäßig am Jahrestag von Vaters Tod zu seinem Grab“ – dies liest und vernimmt man heute nicht mehr; dafür aber groteske Formulierungen wie „Er erinnerte den verstorbenen Freund“ oder „Sie gedachten den Opfern.“ – Den Freund, den Gott habe ihn selig Mutter Erde bedeckt, an was auch immer erinnern zu wollen ist eine selten gelingende Sprachhandlung. Die den Opferkult pflegen, können, wessen sie mit Krokodilstränen gedenken, nicht mehr angemessen artikulieren. Vielleicht ist diese Form sprachlicher Vulgarisierung bereits eine Folge des Vordringens des Globalismus über das Englische, denn hier kann man ja sagen: „We rembered the victims.“
Des sog. Genderns nur weniges zu erwähnen, dieses staatlich verordneten, ansonsten auch vom medial gleichgeschalteten „mündigen Bürger“ in freiwillig vorauseilendem Gehorsam devot durchexerzierten Verbiegens des sprachlichen Rückgrats, das nicht nur entstellt, sondern auch die Verachtung und Verächtlichmachung der natürlichen Ordnung der Geschlechter zum Ausdruck bringt; nicht verwunderlich bei einem Volk, das die reproduktive und erzieherische Funktion der klassischen Familie diskreditiert und Frauen die angebliche Selbstverwirklichung ausschließlich in der Tretmühle des Acht-Stunden-Arbeitstages anempfiehlt, ja aufnötigt; hinzugerechnet der erkleckliche Anteil an Unbildung, Illiteratentum und Dummheit, der jene, die zwanghaft von Studierenden, Bürgerinnen, Ärztinnen oder Kolleginnen faseln, glauben zu machen scheint, die grammatische Grundform masculini generis stehe ausschließlich für die Benennung des natürlichen Geschlechts, während die Bedeutung von Wörtern wie „Student“, „Bürger“, „Arzt“ und „Kollege“ selbstredend sowohl Herrn Müller als auch Frau Meier umfaßt.
Comments are closed.