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Der Abglanz des Vollkommenen

06.04.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Es ist unsinnig zu behaupten, die Amsel habe den rechten Ton nicht getroffen, sie habe sich versungen.

Einer stimmt ein Lied an, der Freund fährt ohne zu zögern fort. Würde er mit einem anderen Lied fortsetzen, sähen wir seine Reaktion als unangemessen oder doch befremdlich an.

Wir unterscheiden das spontane und natürliche Verhalten vom konventionellen Gebaren und künstlerischen Ausdruck anhand des Kriteriums der Normativität und Korrigierbarkeit.

Der Rechner spuckt immer wieder einen Fehlbetrag bei einer Addition aus; wir sagen, seine algorithmische Funktion ist gestört. Doch macht er keinen Fehler in dem Sinne, wie wir einen Fehler machen, wenn wir uns verrechnen; verrechnen wir uns, können wir uns auf unser Fehlverhalten besinnen und es korrigieren, nicht so der Rechner.

Das Eichhörnchen hat die Stelle vergessen, wo es eine Nuß vergraben hat, und gräbt vergebens an einer Stelle, wo keine versteckt ist. Es könnte sich nicht in dem Sinne darüber ärgern oder beunruhigt, gar beschämt sein wie ein Kind, das eine schöne Murmel vergraben hat und nicht wiederfindet. Das Kind sieht sich mit den ernsten Augen eines anderen, eines Freundes beispielsweise, vor denen es sich seines Versagens schämt, hatte es doch im Sinn, sie ihm zu zeigen oder zu schenken.

Das Tier, das sich nicht mit den Augen anderer sieht, ist gleichsam niemand; wir sind eben aus diesem Grunde jemand.

Wir nennen den Gesang der Nachtigall schön; doch hören wir den Naturlaut so, als ob es sich um ein Kunstlied handelte.

Die Nachtigall muß ihr Lied nicht einstudieren und proben; wir üben das Kunstlied so lange ein, bis wir oder der fachkundige Hörer den Eindruck haben, daß unser Vortrag richtig, stimmig, gut ist.

Anders als laut und leise, hoch und tief, weich und rauh, hell und dunkel sind richtig, stimmig und gut keine natürlichen Prädikate.

Finden wir auch kein absolutes Kriterium dafür, was ein Ding zu unserem Gebrauch, eine Handlung zu unseren Zwecken, eine Lebensform zu unserer Erfüllung gut macht, wissen wir doch, das scharfe Messer ist besser als das schartige, sich um der Verabredung willen zu sputen besser als zu trödeln, sich um Freundschaft zu bemühen besser als Feindschaft zu säen.

Das Leben der Tiere erscheint uns auf dem Hintergrund unserer Fehlbarkeit wie in sich gegründet und unversehrt.

Der Hahn auf dem Mist kann nicht glauben, ein großer Sänger zu sein, wir können unser Leben verfehlen, indem wir etwas zu sein glauben, was wir nicht sind.

Im Angesicht oder im Abglanz des Vollkommenen, den große Musik wie die Mozarts oder Bruckners im rechten Augenblicke uns gewährt, ahnen wir etwas vom Glück, das sein Maß nicht mehr an animalischer Sättigung hat.

Der Duft der Rose wirkt auf uns betörend nicht wie auf den Instinkt des Insekts, sondern weil er uns Erinnerungen an ein namenloses Glück erweckt.

Wir markieren den Unterschied zwischen Aufforderung und Frage in der Schriftform mittels Ausrufe- und Fragezeichen; und bei der mündlichen Verlautbarung den Unterschied zwischen „Gehen wir spazieren!“ und „Gehen wir spazieren?“ mittels Senken und Heben der Stimme. Wir erzeugen bei gleichbleibender syntaktischer und semantischer Satzstruktur einen gravierenden Unterschied der Bedeutung demnach durch Mittel, die weder syntaktisch noch semantisch signifikant sind.

Der Kristall leuchtet uns im Abglanz des Vollkommenen in dem Maße, wie wir in ihm die Idee der perfekten Ordnung erblicken.

Der zierliche Bau der Muschel, der wollüstige Rhythmus der Meduse, die zärtlichen Kadenzen der Regentropfen auf dem Blechdach, unter dem wir Unterschlupf fanden, sie scheinen uns unübertrefflich in ihrer Harmonie, Pracht und Distinktion, und ihnen gilt unsere Bewunderung, doch sie bleibt kalt gegen unsere Liebe für das schlichte Ornament der alten Vase, die uns die Großmutter vererbt hat, unsere Hingerissenheit angesichts des anmutigen Ganges der Geliebten, wenn sie sich unbeobachtet wähnt, und den Liebreiz der Erinnerung an das kleine Lied, das wir ehedem aus Kindermund von einem Garten eines südlichen Städtchens herüberwehen hörten, dessen Namen wir längst vergessen haben.

Wie am staubigen, matten Kiesel das Leben bunter Adern spricht, rinnt ein wenig Wasser über ihn hin; so auch wir, auch unsere Seele, wenn einer sanften Gnade Wasser das eingetrocknete Blatt ihres Mundes benetzt.

Wie der Bergkristall in den Schründen der Dämmerung funkelt, so der Kristall des Worts in der Nacht der Passion.

Die im alten Strom versanken, der Kindheit fromme Glocken, tönen, dunkle Sirenen, wider uns im Traum.

Sind die Trauben für der Erquickung Gesang schon reif? Und welcher Meister mag sie keltern? Das Dunkel, in dem ein solcher Most noch gären mag, es wartet im Verlies unsrer Herzen.

Weshalb das inständige Bemühen um die sapphische Ode bis hin zu Klopstock und Hölderlin? Aus Sehnsucht nach dem Lied, das uns für immer verloren ist.

Sind noch Blüten, sie zu streuen vorm Nahen des Heiligen?

Glossen zu einem ungeschriebenen Text.

Als sein Drang zur Mitteilung versiegte, sagte er en passant das eine und andere Wahre.

Man geht nicht mit vollem Magen zum Gastmahl.

Nicht lebensgierig sich sättigen, sondern abschiedswillig den wahren Durst empfinden.

Wir sind zum Ufer nicht gelangt, niedergesunken in Nacht hören in der Ferne wir das Rauschen.

Konnten das Gute wir nicht finden, eiferten doch dem Besseren wir nach.

Als fehlte, wie dem Auge der Glanz der Träne, die letzte Zeile zur Vollendung.

Erst ist es nur wie das dumpfe Knien vor dem Allerheiligsten, dann allmählich, wenn die Knie schmerzen, wird seine Gegenwart fühlbarer.

Wenn alles versinkt, bleibt nur das Leuchten der Wunden am Kreuz der Nacht.

Vor dem Morast: „Welch ein großer Mime muß mit mir die Bühne verlassen!“ – Auf der Schwelle: „Wir müssen dem Asklepios noch ein Huhn opfern!“ – Erhöht: „Es ist vollbracht!“

Erst entbehrt man den Kuß, dann wie die allmählich verkrustende Wunde der Erinnerung, den Schmerz.

 

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