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Der abgebrochene Wegweiser

23.01.2017

Sentenzen und Aphorismen

Wer den Pfad am Abgrund zurücklegte und erzählt in hohen Worten von dem, was er sah, mag ein Dichter sein; wer eine Wegeskarte von allen Windungen und Gefahren mitbringt, die er unterwegs angefertigt hat und sie dem Jüngeren aushändigt, ist der Meister.

Sehen zu können, welche Gabe! Sehen aber, daß wir sehen und wie, welche Kunst!

Vor ihm die klare Gestalt der Blume, doch sein Blick verfangen im Dunst der Ferne.

Was da kommt, ist Verfall; doch auf jeder Stufe abwärts, die Lockungen der Dämmerung.

Die göttlichen Urgewalten, die sich uns unter sich teilen, die sich in uns kreuzen, spiegeln sich in den trivialen Gesichten und Gesichtern unseres Alltags.

Was Dichtung, die ins Einfache zurück sich beugte, benannte mit Urworten wie Auge und Stern, Atem und Asche, Wehmut und Wind, Engel und Schmerz, Blume und Stein, war emporgesprudelt aus der Quelle unter dem Weltenbaum.

Ein Wahres einmal, das er gesagt, auf die Zunge gehoben, wie vom Schluckauf.

Die halb zerrissene Fahne, die eben noch am Mast baumelte, klatscht bebend nun im Sturm.

Wenn du dich verlaufen hast, kannst du zurückgehen bis zur Weggabelung und die andere Abzweigung nehmen. Doch wehe, hat Schicksal das Wegkreuz dir umgestürzt, den Wegweiser zerbrochen.

Der Blindgeborene ist nicht verzagt, weil er die Welt nicht erblickt, nicht die Schönheit der Blumen oder der Wolken wehen Zug; er wäre erstaunt über unsere Verstörtheit angesichts seines von uns empfundenen Mangels.

Wer Liebe nicht gekostet, wie eintönig lebt er, wie zufrieden.

Je weniger empfänglich für das Unglück, desto weniger für das Glück.

Nur geformt von schöpferischer Hand, rundet sich der Ton zum schönen Gefäß. Ja, noch die angedeutete Form und der Torso können uns entzücken oder unsere Sehnsucht vertiefen.

Die kindliche Lust am Können. So zählt die Kleine immer wieder die wenigen Zahlen auf, die sie kennt; der Junge bestimmt stolz vor seiner Mutter die Herkunft der Flaggen, die in der Illustrierten abgebildet sind. So ergötzt sich der Dichter, kindlich auch er, immer wieder am Glanz und der runden Form der geliebten Worte, die im Nest seiner Erinnerung liegen wie die Murmeln der Kinder in der Kuhle.

Je mehr Möglichkeiten des Gelingens, desto mehr Gefahren des Irrens.

Worauf ruht der Blick des Liebenden beim Abschied, auf ihrem Mund, ob er noch etwas sage, auf ihrem Auge, ob es ihm nachglänze, auf ihrer Hand, ob sie einmal noch winke? Auf dem Himmel hinter ihrer verblassenden Gestalt, ob er nicht zu glühen beginne?

Weckt der Tod einen mit leiser, versöhnlicher Stimme?

Wenn die lauten Stimmen des Welttheaters gedämpft werden wie die Schritte im hohen Schnee.

Mit so vielen Zungen gesagt haben „Wasser“ und „Wein“, „Seele“ und „Stein“, „Blume“ und „Kind“. Mit so vielen jubelnden, so vielen blutenden Herzen.

Die Dankbarkeit, wenn zwischen all dem Hetzen und Hecheln, dem Würgen und Witzeln das stille Gesicht eines Kindes auftaucht, und es sagt nichts, steht nur da und hebt den stummen Blick.

Wie auf dem Weg nach Emmaus im Augenblick, der das Wehen der Blätter zum Schweigen, das Rufen der Amsel zum Verstummen gebracht, er mit ihnen schritt, und sie erkannten ihn nicht, doch wollten, nachdem er ihnen die Schrift ausgelegt hatte, daß er bei ihnen bleibe, da es Abend wurde und der Tag sich neigte; und wie ihnen, als er das Brot brach, die Augen aufgingen.

All das ist geschehen, wir aber leben blind in den Tag.

Zu wissen, man hat sich verirrt und der Weg führt einen weiter und weiter ins Dunkel; doch ärger noch ist es, nicht zu wissen, daß man immer weiter in die Irre geht, und munter vor sich hin zu trällern.

Wie lagert sich über all die kleinen Schatten des Alltags, seinen Schlüssel nicht zu finden, den alten Bekannten nicht wiedererkannt, den Termin verpaßt zu haben, jener große Schatten.

Um das große Wort wächst wie um die hohe Eiche gewaltiger der Schatten, breitet sich dunkler die Stille.

Wie wir als Kinder Papierschiffchen am Ufer der Mosel auf die kleinen Wellen setzten, und sie trieben und glitten und schwankten dahin, und unsere Blicke wanderten mit ihnen, eine gute Weile, wie mit dem zarten Umriß einer ungeborenen Seele, bis sie eine jähe Woge verschlang.

Die einen verwässern die Quelle, die sie genährt, mit gelehrtem Geschwätz, die anderen vergiften sie mit üblen Verleumdungen; am ärgsten treiben es jene, die sie trockenlegen, um an ihrer Stelle eine Trinkhalle zu errichten.

Was den Knaben rührte, war die Einsamkeit und Verlorenheit des Großvaters, der seine Kriegerwunde mit sich herumschleppte und schweigsam blieb, wenn alle am warmen Herde plauderten.

Im Prolog der Prosa-Edda, einem einzigartigen Menschheitszeugnis, vermischen sich die Ströme der griechischen und germanischen Erinnerung; Odin, der einäugige Wanderer-Dichter, stammt aus Troja, seine Wanderung geht über das Mittelmeer zu den Sachsen und Franken und Nordmännern und erreicht den Gipfel im Norden, von dem er noch eben den Stern über der Krippe funkeln sieht.

Der germanische Dichtergeist, Odins Mitgift, liebt das kunstvolle Spiel wie in den bebenden Ranken der epischen Maße und den gewagten Fügungen der Kenninge, und den Zauberstab in den glitzernden Tau des jungfräulichen Morgens zu tunken.

Der sterbenden Mutter wischte er mit einem feuchten Tuch über die trockenen Lippen; ob sie Erleichterung verspürte, ist ungewiß; ungewiß auch, ob sie darin das einzig gebliebene Wort des Trostes vernehmen konnte, das er ihr noch geben konnte.

Wie die Knospe sich leise schließt, wenn Dämmerung fällt; wie Menschen still werden, wenn einer im Dunkeln eine Kerze anzündet; wie die Erinnerung eines Liedes tropft, wenn der Schnee vor dem Fenster schmilzt.

Aus dem Rauch der Ruinen flattert ein Vogel.

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