Denken, reden, schweigen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Auch Zwerge können auf den Schultern von Riesen stehen, ja, diese besonders leicht.
Zwerge, die zitieren, was sie nicht gedacht haben.
Wenn wir von einem Einfall sprechen, meinen wir nicht, daß uns ein Wort einfällt, und wenn kein Wort, also auch kein Satz.
Wer glaubt, man könne Einfälle oder Gedanken finden und auflesen wie in der Sonne blinkende Münzen auf der Gasse, verkennt die Tatsache, daß es diese Münzen schon gibt, daß nicht wir sie geprägt haben.
Die Annahme, man könne während des Redens oder Schreibens und mittels des Redens oder Schreibens Einfälle und Gedanken entwickeln, sie gleichsam wie Perlen an den Schnüren der Sätze aufreihen, verkennt die Tatsache, daß an den Ranken der Sprache nicht ohne weiteres Gedanken erblühen.
Viel Gerede, wenig Sinn ist ja der Normalfall.
Auch das Dunkel kann fruchtbar sein, das Schweigen beredt, die Stille bedeutsam.
Wenn Licht einfällt, sprießen Keime nur, wenn sie dort hingeweht oder mit Bedacht gesetzt worden sind.
Er grübelte, dann ging ihm ein Licht auf. – Geschah das Grübeln oder Nachdenken gleichsam im Dunkeln, und liegt dieses Dunkel vor der Sprache?
Er sah, daß das Kind nur durch das beherzte Eingreifen der Frau vor dem Unfall durch das heranrasende Auto bewahrt werden konnte. – Es sieht so aus, als müsse der Beobachter einen spezifischen Gedanken in den konditionalen oder kontrafaktischen Satz fassen können: „Hätte die Frau nicht beherzt eingegriffen, wäre das Kind vielleicht durch einen Unfall ums Leben gekommen.“
Wir können gedankliche Bedingungsgefüge der genannten Art nicht ohne die grammatische Möglichkeit kontrafaktischer Satzgefüge zum Ausdruck bringen. – Heißt dies, daß wir ohne unsere Form der Grammatik den Gedanken, der im kontrafaktischen Satzgefüge ausgedrückt wird, nicht fassen könnten?
Imaginieren wir uns einen neurologischen Defekt im Sprachzentrum, der die Bildung von kontrafaktischen Sätzen verhindert: Dann könnte der Beobachter nur sagen: „Die Frau hat rechtzeitig und beherzt eingegriffen. Das Kind ist dadurch vor einem Unfall bewahrt worden.“ Könnte er, während er diesen Satz ausspricht, denken, das Kind wäre zu Schaden gekommen, hätte die Frau nicht rechtzeitig eingegriffen?
Die Möglichkeit, konditionale Gedankengefüge zu bilden, ist die grammatisch-logische Voraussetzung der Ethik; denn nur wenn wir annehmen, einer hätte anders handeln können, sind wir befugt, ihn zur Verantwortung zu ziehen, wenn er etwas Unerlaubtes oder Strafwürdiges getan hat.
Indes, eine große Kultur wie die chinesische hat im Konfuzianismus ein ausgeklügeltes System einer Verantwortungsethik entwickelt, ohne über die sprachliche Möglichkeit zu verfügen, konditionale Gedankengefüge in kontrafaktischen Satzgefügen darzustellen; die grammatischen Verbformen zur Bildung des Irrealis („wäre“, „hätte“) kennt die chinesische Sprache nicht.
Wenn der das Englische oder Deutsche lernende Chinese auch die Bildung irrealer Satzgefüge lernt, wird er ohne weiteres Gedanken Ausdruck geben, die ihm nicht völlig fremd sind.
Nichtflektierende Sprachen wie das Chinesische und Japanische bilden wohl eine höhere Schwelle, aber natürlich keine unübersteigliche Hürde für das Erfassen logischer Zusammenhänge, die uns die flektierenden Sprachen des Abendlandes wie das Griechische und Lateinische gleichsam im grammatischen Gepäck mitbringen. Denn auch hier gilt: Der des Englischen mächtige Japaner artikuliert mittels der grammatisch korrekten Bildung von Kausal- oder Konditionalsätzen keine Gedankengefüge, die ihm bisher gänzlich unbekannt gewesen wären.
Solche und ähnliche Beobachtungen veranlassen uns, die triviale, aber gewöhnliche Annahme, das Verhältnis von Sprache und Denken sei eines der bloßen Abbildung oder durchgehenden Determination, in Frage zu stellen.
Natürlich sehen Kaspar Hauser und der Taubstumme, daß die Sonnenblume eine goldgelbe Farbe hat, oder sie sehen das, was wir eine goldgelbe Farbe nennen; aber ohne in den kulturell kodierten sprachlichen Symbolismus der Farben, ein Erbe von Jahrtausenden, eingeübt und eingeweiht worden zu sein, entgeht ihnen seine Relevanz für die visuelle Wahrnehmung und Entschlüsselung der Sonnenblumen van Goghs.
Tausende Tote oder die Überlieferung und das Vermächtnis zahlloser Generationen sprechen mit, wenn wir simple Sätze bilden wie: „Es regnet“ oder „Das Wetter ist schön.“
Die irrationalen Zahlen oder die Kreiszahl Pi sind keine Einfälle, sondern Ergebnisse mathematischer Operationen, die gewiß die natürliche Sprache voraussetzen, aber sich in ihr nicht erschöpfen. – Im Gegenteil, sie erschöpfen die Möglichkeiten der natürlichen Sprache und treiben sie an ihre Grenze, an der an die Stelle von Namen für Gegenstände notwendig Symbole für Verfahren und Zeichen für das Virtuelle treten.
Die Möglichkeiten, das physikalische Farbspektrum einzuteilen, sind unendlich; wir greifen mit den Namen unserer Grundfarben jene Teile heraus, die für unser Leben relevant sind. – Doch die Farbpalette der großen Maler erweitert, vertieft, verfeinert sie um neue Valeurs und Nuancen, die auch unser Lebensgefühl erweitern, vertiefen, verfeinern und um Nuancen des nur Andeutbaren, ja des Unaussprechlichen anreichern.
Gedanken wie die leibnizsche Monade, die kantische Selbstapperzeption oder die unendliche romantische Reflexion des Ich, das denkt, daß es denkt, können keine sprachlichen Erfindungen sein, denn sie erschöpfen oder übersteigen sogar die Möglichkeiten der sprachlichen Darstellung.
Gedanken, die das feine Gewebe der Sprache auftrennen, wie das Unendliche, das Virtuelle oder auch das Tao.
Der seltsame, denkwürdige Satz des großen Dichters, der in einer Fülle von Werken einen unerschöpflichen Reichtum an Figuren und Fühlweisen hinterlassen hat, er habe immer noch nicht sagen können, was er habe sagen wollen.
Einer, der glaubte, das Ganze der Welt in der isomorphen logischen Struktur des Satzes abbilden und erfassen zu können, erkennt und verwirft das Trügerische in der Abbildbeziehung zwischen Satz und Gedanke und löst sie in ein grenzenloses Spielfeld von Möglichkeiten des Sagens und Zeigens auf.
Was wir mit Worten tun oder uns antun; die Kränkung durch demütigende, entwertende, vernichtende Worte, die unverdaulich wir vergeblich zu verdauen suchen, indem wir sie um und um wälzen; Worte, an denen die einen krank oder verrückt werden, die anderen zu Verbrechern; Worte, die wieder andere, gleichsam von Stacheln vergifteter Worte starrend, mittels Beleidigungen, Verleumdungen, übler Nachrede oder Haßpamphleten zu rächen und vergebens ihrer betäubenden epidemischen Wirkung zu berauben trachten.
Der Gedanke, der Wunsch, die Obsession, zu entstellen, zu entweihen, zu töten, kann sich in die sprachliche Mißgestalt dessen hüllen, was die biblischen und die antiken Autoren Fluch und Verwünschung nennen; nur der Segensspruch mag ihm die Kraft rauben, ihn aus dem Besessenen entweichen lassen.
Worte, die Wunden aufreißen oder schon vernarbte wieder zum Bluten bringen; andere, Worte der Liebe, die sie uns manchmal, fast oder ganz vergessen machen.
Das Geheimnis oder nüchterner gesagt die Einzigartigkeit der menschlichen Existenz beruht auf dem Namen, mit dem wir gerufen werden; dem Namen, mit dem wir die anderen rufen; dem Namen, der unsere Unterschrift bildet; dem Namen, der auf dem Grabstein steht.
Wir führen den Rufnamen, der gleichsam die Gegenwart unserer Lebensmöglichkeiten stiftet, und den Vatersnamen, der uns mit der Vergangenheit und dem Reich der Toten verbindet. – Adam hieß nur Adam, und sein Weib nannte er Eva; die biblischen Propheten kennen wir nur in der Schlichtheit und Monumentalität des einen Namens.
Wir können an den anderen, den Freund, die Geliebte, den Feind, denken, indem wir ihre Namen vor uns hersagen.
Wir können den Namen des Menschen, der uns verraten hat, vor uns hersagen, als wäre er noch unser Freund, den Namen der Frau, die uns verlassen, hat als würde sie uns hören und gleich auf der Schwelle stehen, den Namen des Feindes, als hätten wir ihn versöhnt.
Figuren des Schweigens und Verstummens. Lange mit einer Frage ringen und sie als unlösbar verwerfen. Seinen Abschied nehmen oder vorbereiten und nicht mehr antworten (auf Briefe, Anrufe). Das trübe gewordene Wasser aus dem Brunnen der Erinnerung schöpfen und den kühlen Hauch der Leere einatmen. Die einseitige Kost der trügerischen Worte (einer Lehre, einer Ideologie) wie angeekelt beiseiteschieben. Die Namen aus dem Notizbuch des Daseins streichen, die Namen der Freunde, die Namen der Geliebten, die Namen der Feinde, und zuletzt den eigenen Namen. Die Nahrung des Wortes verweigern, die Bücher schließen, die Türen, und in den dämonischen Taumel dessen fallen, der sich geistig-leiblich zu Tode hungert.
Die Polyglotten und die Sprachvirtuosen, die mit tausend Zungen dasselbe sagen; die Einsilbigen, die viel mit wenig Worten meinen.
Gut, wenn dein intimer Feind, dein eigener Schatten, deinem Spruch den Widerspruch entgegenhält.
Zäher Klebstoff und faszinierend glänzender Schleim der Rede, dessentwegen man nicht von der Stelle kommt.
Gewiß, mit jeder Äußerung gebe ich meiner Position in der Welt Ausdruck, knüpfe ich einen Faden mit jenen an, die ich aus der Vergangenheit, in der Gegenwart oder der Zukunft anrede, stelle ich dar, was die von mir gebrauchten Begriffe hergeben oder implizieren. Diese Trias von Kundgabe, Appell und Darstellung kann uns vor der Monotonie und der einseitigen Diät eines Themas, und sei es ein faszinierendes wie die kommunikative Funktion der Sprache, bewahren.
Wir können den Gedanken im Haus der Sprache nicht bewirten, wenn er nicht als fremder Gast an die Türe geklopft hat und wir ihm nicht Einlaß gewährten.
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