Den Nachtwind reden machen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Eine Frage, auf die es keine Antwort gibt, ist überhaupt keine Frage.
Ein unlösbares Problem ist gar kein Problem.
Sich unterhalten ist wie Walzer tanzen, nur daß nicht immer klar ist, wer führt, oder bisweilen klar wird, daß jetzt der andere führt; in jedem Falle sollte man sich hüten, dem anderen auf die Füße zu treten, auszuscheren oder plötzlich in einen expressionistischen Ausdruckstanz zu verfallen.
Die Schrittfolge können wir lernen, die Satzfolge nicht.
Der logische Schluß (die Logik überhaupt und alles, was wir intelligentes Handeln nennen) beruht auf Intuition; wäre dem nicht so und beruhte der logische Schluß auf der Anwendung einer Regel, müßten wir ihre logisch stimmige oder kluge Anwendung ihrerseits an einer anderen Regel überprüfen; ein Prozeß, der kein Ende nähme.
Der logische Schluß ist eine intelligente Handlung, aber nicht das Resultat einer Reflexion.
Der logische Schluß ist nicht das Ergebnis einer intelligenten Handlung, sondern verkörpert sie.
„Wenn die Sonne scheint, erhöht sich die Lufttemperatur.“ – „Die Sonne scheint“ – Jetzt müßtest du sagen: „Also erhöht sich die Lufttemperatur.“ – Freilich, es ist dir unbenommen, einfach den Mund zu halten.
Wir können von nichts und niemand reden, könnten wir nicht von uns reden.
Jemanden anzureden impliziert, angeredet werden zu können.
Wir müssen uns intuitiv und vorreflexiv in einer raumzeitlichen und sozialen Position verkörpern, wenn wir reden und mitreden wollen. Diese Position markieren wir durch das Pronomen der ersten Person Singular.
Wir müssen nicht reflexiv auf uns Bezug nehmen, wenn wir uns ins Gespräch einbringen oder dem Freund auf der anderen Straßenseite zuwinken und ihn auffordern, zu uns zu kommen.
Die Anwendung einer Regel auf den Einzelfall ist eine intuitive Ableitung und keine Form des Wissens; denn Wissen meint die Kenntnis der Regel, nicht aber, wie sie anzuwenden sei.
In der Kodifizierung des Gesetzes finden wir ein rechtliches Regelwerk, nicht aber die Regel, wie es auf den Einzelfall anzuwenden ist. Das ist Sache der Intuition und Urteilskraft des Richters.
Das Richtige tun heißt nicht, sich eine Reihe möglicher Handlungen vor Augen führen und aus ihr die richtige auswählen; es meint zumeist, ohne weiteres oder geistesgegenwärtig das der Situation Angemessene auszuführen, beispielsweise einen Umweg zu machen und den Schritt zu beschleunigen, wenn finstere Gestalten bedrohlich näherrücken, das Fenster vor dem Sturm zu schließen oder den Herd nach Gebrauch abzustellen.
Gelehrsamkeit schützt vor Dummheit nicht.
Es ist ein auch unter Philosophen weit verbreiteter Irrtum zu glauben, Wissen sei ein Maß für Klugheit und Intelligenz.
Wenn wir plausiblerweise davon ausgehen, daß Chinesen im Durchschnitt intelligenter sind als Deutsche oder Schwarzafrikaner, impliziert diese Annahme nicht, daß Hans nicht intelligenter reagiert hat als Li und Margarete weniger klug als Shari.
Die Zuordnung psychologischer Prädikate sowohl zu Personentypen oder Charakteren als auch ethnischen Gemeinschaften ist ein Erbteil der Antike. Waren also schon Herodot, Thukydides, Theophrast, Caesar, Tacitus, die alte und neue Komödie und tutti quanti vom Gift des Vorurteils oder gar des Rassismus verseucht?
Die sich und andere bis zum äußersten Grad geistiger Erschöpfung und Verblödung mit Informationen, Meinungen, Gesinnungen füttern, führen das große Wort in den Medien und der akademischen Welt.
Die Zuordnung psychologischer Prädikate wie freundlich, klug, heimtückisch ist keine Form des hypothetischen Schlusses von der Beobachtung des Verhaltens, das wir freundlich, klug, heimtückisch nennen, auf die Gesinnung und innere Haltung des Beobachteten, die wir als freundlich, klug, heimtückisch qualifizieren.
Wir sehen die Freude, die Erregung, die Scham, die Verlegenheit an der Miene, der Gestik, der Körperhaltung von anderen unmittelbar, wir schließen nicht von der Mimik und Gebärde auf geistige Zustände dieser Art, insofern wir ihren physiognomischen Ausdruck an uns selbst beobachtet hätten.
Wir wissen gar nicht, wie wir aussehen, wenn wir erfreut, erregt, beschämt oder verlegen sind.
„Mondtrübe Lache“, „Karstland versickerter Brunnen“, „Nachtgesang des Wassers“, „Schwebende Pagode leise tönenden Porzellans“ – die Bilder des beschädigten oder erfüllten Daseins, die uns in der Dichtung begegnen, sind Mythogramme des Lebens, die sich natürlicher Phänomene oder artifizieller Gegenstände als Chiffren bedienen.
Doch sind sie keine Vergleiche, die sich der Reflexion und dem Räsonnement restlos erschlössen.
Die wohlfeile Rede, wir könnten mit den Mitteln unserer dürftigen Sprache das angebliche Wesen der Dinge nicht erreichen und der Dichter sei unredlich, der nicht sein banges Schlottern am Abgrund des Schweigens, sein eitles Ringen mit der Sprachnot stammelnd exhibiere, ist ein geistiges Zerfallsprodukt des metaphysischen Mißverständnisses von der letztlichen Opazität sprachlicher Bedeutung, einer verfehlten Metaphysik über die vermeintlich unüberbrückbare Inkongruenz von Sprache und Welt.
Die großen Meister, nicht nur der Sprache wie Homer, Vergil und Goethe, sondern auch der Musik wie Bach, Mozart und Bruckner vermochten noch den sublimsten Regungen der Seele Gestalt zu verleihen, die feinsten Verästelungen der Blätter vom Baum des Lebens nachzuziehen.
Den Nachtwind reden machen von den Düften und Gerüchen, die er aus verborgenen Gärten und tropfenden Lauben, von der weißen Wäsche auf Balkonen und dem eingesunkenen Humus der Gräber mitbringt.
„Philosophie“ ist kein Euphemismus für Kopfschmerz.
Oft lassen wir uns von den falschen Bildern in die Irre führen, so von der Denker-Statue eines Rodin, als sei Denken eine Art verbissenen oder schweißgebadeten Grübelns.
Die Seele ist die ins helle Licht des Tages getauchte Physiognomie des Körpers, nicht sein Schatten.
Freilich, der vom Dunkel der physischen oder spirituellen Nacht umfangene Körper hat seine eigene Ausdruckswelt.
Jemanden ungeduldig, unzuverlässig oder jähzornig nennen heißt erwarten, daß er den Faden vor Hast nicht in die Öse einfädeln, uns nicht wie versprochen am nächsten Tag das Buch mitbringen, bei der leisesten Irritation aufspringen und die Tür hinter sich zuschlagen wird. Es heißt nicht, zu glauben, diese charakterlichen Dispositionen hausten gleich Kobolden im Verlies seiner Seele, bereit, bei jeder Gelegenheit hervorzupreschen.
Liebe ist kein mentaler Zustand, sondern die Neigung, auf gewisse Art und Weise zu reden und zu handeln, beispielsweise, den durch die Mißachtung der Kollegen aufgebrachten Geliebten zu begütigen, ihm die üble Laune aufzuheitern, sich in der Sonne seiner guten zu baden.
Die Substanz des dichterischen Wortes ist wie der Tee, der mit heißem Wasser aufgegossen nach einer Weile seinen köstlichen Geschmack in das feuchte Element transfiguriert – die Teeblätter sind wie die Zeichen der Worte, die wir, haben sie ihre Essenz und ihren Duft mitgeteilt, mit dem Sieb aus der Kanne nehmen.
Freilich, die einmal für den Aufguß verbrauchten Teeblätter sind schal geworden, nicht so die Blätter des Gedichts.
Der erlesene Wein muß lange im dunklen Keller reifen. So auch die köstlichen Trauben, die am Hang des Dichters in der Herbstsonne glühten; die Mühe, die es bereitete, sie im Tau der Dämmerung zu ernten und im Gleichtakt stampfend zu keltern, bleibt am vollendeten Werk verborgen.
Von der Traube bleiben im Wein die goldene Farbe und der sublime Duft.
Freilich, der vulgäre Geschmack findet seinen grauen Rausch vorzüglich in gepanschten Sorten.
Der Geschmack für das Sublime und das Verlangen nach überirdischer Harmonie und beseligendem Wohlklang sind wie die Neigung zur Herabsetzung und satirischen Verzerrung des Lebens angeborene Neigungen.
„Demokratische Bildung“ oder aalglatt und begriffsschlüpfrig „Bildung für alle“ ist nur ein Euphemismus für die Vulgarisierung des Geschmacks und die Verpanschung sublimer Werke mittels „Interpretation“.
Im Zug der flüchtigen Wolken, im Tau, der vom Blatt perlt, im Blumenschauer des Frühlings, im Flockentanz des Winters, dem Wechsel der Tage und Nächte, dem immer wieder sich drehenden Ring der Jahreszeiten, im goldenen Lichte der Locken, das an den herrischen Fels des jugendlichen Nackens brandet, in der grauen Strähne, die Falten der Stirn dürftig bedeckend, gewahren, sehen, erfühlen wir unser unentrinnbares Schicksal.
Wir sind nicht verpflichtet, uns in die Ismen und Schablonen, die Parolen und Tagesbefehle des Zeitgeistes zu schicken.
Am Verblassen alter Namen, an ihrer sie ins Mysteriöse verdunkelnden Patina ermessen wir das historische Schicksal des Sprachgeistes.
Interpretation als Aderlaß am wehrlosen Leib des Gedichts.
Rilkes lyrischer Klageton, synthetisiert zum Sound.
Während des Ersten Weltkriegs wollte der Philosoph Ludwig Wittgenstein, im Einsatz als Ingenieur bei der österreichischen Marine, den Dichter Georg Trakl, der traumatisiert von den Kämpfen im ostgalizischen Grodek (Alle Straßen münden in schwarze Verwesung) im Lazarett lag, besuchen. Er kam an, nur um vom Tod des Dichters zu erfahren. Worüber hätten sie sich unterhalten, der Philosoph, der damals auf der vergeblichen Suche nach der logischen Urform des Satzes war, und der Dichter, dem die wilde Klage aus zerbrochenem Munde floß?
Zum Glück hat noch kein Zeitgeistgeck und Modekünstler die Szene als Stoff eines düster-pazifistischen Dramas oder einer atonalen Oper verheizt.
Wir sind nicht verpflichtet, im trüben Laich des großen Geschwätzes mitzutreiben und unsererseits einen schlüpfrigen Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten. Doch sollten wir stets auf dem Sprung sein, um uns selbst vor dem faulen Atem und der Zudringlichkeit selbsternannter Welterlöser zu retten.
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