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Dein Leben, mein Leben

29.12.2015

Unterwegs zu einer transzendentalen Semantik IV
oder: Warum Roboter keine Fehler machen können

Wenn ich behaupte, daß der Naturalismus die philosophische Lehre darstellt, der gemäß alle wahren Sätze Sätze der Naturwissenschaft sind oder sein sollen, formuliere ich einen Satz, der kein Satz der Naturwissenschaft ist.

Wenn ich sage, daß alles, was sich sagen läßt, sich ohne Verwendung des Wortes „ich“ sagen lassen muß (und dies wären nur Sätze der Wissenschaft), sage ich etwas, dessen Gültigkeit ich zugleich bestreite.

Wenn ich sage, daß alles, was sich sagen läßt, auf Erfahrung beruht, der wahre Ausdruck der Erfahrung aber wissenschaftliche Aussagen sind, in denen keine indexikalischen Ausrücke wie „ich“ oder „mein“ vorkommen dürfen, impliziere ich damit, daß alles, was sich sagen läßt, auf einer Erfahrung beruht, die niemandes Erfahrung ist, oder auf einer Erfahrung beruht, die keiner gemacht hat, also keine ist.

Wenn alle sinnvollen Aussagen Sätze der Wissenschaft sind, ist meine Behauptung, daß alle sinnvollen Aussagen Sätze der Wissenschaft sind, keine sinnvolle Aussage.

Wenn es wahr ist, daß alle Erfahrung auf Sätze über physikalische Phänomene zurückgeführt werden kann, müßte die Tatsache, daß dieser Satz wahr ist, ein Satz über ein physikalisches Phänomen sein. Das Wahrsein von Sätzen aber ist kein physikalisches, sondern ein semantisches Phänomen.

Wenn es wahr ist, daß alle Erfahrung auf Sätze über physikalische Phänomene zurückgeführt werden kann, müßte die Erfahrung, diese Hand als meine Hand zu erfahren, in einem Satz über das physikalische Phänomen dieser Hand zurückgeführt werden können. Ich mache aber keine Erfahrung über diese Hand, sondern eine Erfahrung davon, daß diese Hand meine Hand ist.

Die Erfahrung, daß diese Hand meine Hand ist, kann nicht in einem Satz über ein physikalisches Phänomen ausgedrückt werden.

Die Bedeutung des Satzes, daß alle Sätze über Mentales auf Sätze über Physisches zurückgeführt werden können, ist etwas Mentales. Wenn der Satz wahr wäre, wäre er falsch. Also widerspricht er sich selbst und ist unsinnig.

Der Naturalismus widerspricht sich selbst und ist unsinnig.

Würde, wie der Naturalismus voraussetzt, die Naturwissenschaft alle Sätze enthalten oder formulieren können, die den gesamten Inhalt der Welt oder der Erfahrung ausmachen, fehlte darin der Satz, daß die Naturwissenschaft alle Sätze enthält, die das System der Erfahrung vollständig abdecken.

Daraus folgt, daß der Naturalismus sich selbst nicht verstehen oder die Möglichkeit einer Theorie der Erfahrung im Ganzen nicht erklären kann.

Wenn du eine vollständige wissenschaftliche Beschreibung deines Lebens von der Geburt bis zum heutigen Tage anfertigtest oder von Biologen, Medizinern, Soziologen und Psychologen anfertigen ließest, und du läsest diese gewiß eindrucksvolle wissenschaftliche Biographie dieses Menschen, woraus ginge hervor, daß es sich dabei um DEIN Leben und DEINE Biographie handelt, wo doch der in dem ganzen Bericht aus wohlerwogenen Gründen indexikalische Ausdrücke wie „mein“ und „dein“, „hier“ und „dort“, „jetzt“, „heute“ und „gestern“ fehlen und fehlen müssen, weil sie deine Perspektive auf dein Leben wiedergäben, die von den wissenschaftlich geforderten objektiven Koordinaten, Zahlen und sonstigen Informationen aus methodischen Gründen ausgeschlossen werden müssen?

In der wissenschaftlichen Beschreibung des Organismus, der da und dort als Nachkomme jener beiden anderen Organismen zur Welt gekommen ist, sich da und dort aufgehalten hat, diese und jene Erkrankung hatte und mit diesen und jenen anderen Organismen in näheren Kontakt kam, fehlt notwendig jeder Hinweis darauf, daß DU dieser Organismus bist.

Warum gibt es keinen notwendigen oder begrifflichen Zusammenhang zwischen Sätzen, die von der Existenz eines bestimmten Organismus sprechen, und den Sätzen, mit denen du von diesem Organismus als deinem Körper sprichst? Weil es nicht möglich ist, aus Sätzen über einen bestimmten Organismus und von den Bewegungen dieses Organismus Sätze abzuleiten, die von diesem Organismus als deinem und meinem Körper und von diesem Leben als deinem und meinem Leben sprechen.

Wenn die Menge aller wahren Sätze über die Welt nicht nur Sätze über physikalische Entitäten, sondern auch Sätze enthält, die etwas über dein und mein Leben aussagen, muß die Welt so beschaffen sein, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit enthält, daß Sätze über dein und mein Leben wahr sein können. Das aber heißt: Die Welt ist so beschaffen ist, daß in ihr jemand existieren kann, der wahre Sätze über die Welt und sich selbst formulieren kann.

Wenn die Erfahrung nicht niemandes, sondern immer nur jemandes Erfahrung sein kann, sind die semantisch primären und ausgezeichneten Sätze solche Sätze, die jemand davon macht, was er erfährt, wie in dem Satz: „Ich sehe einen roten runden Fleck und dieser Fleck ist die Sonne“ oder in dem Satz: „Meine Hand schmerzt.“

Wir gelangen durch systematische Abstraktion von den subjektiven Bedingungen der Erfahrung zu einem wissenschaftlichen Begriff von Erfahrung überhaupt. Aber auch die Idee der Wissenschaft ist semantisch abgeleitet von der Möglichkeit, daß jemand sinnvolle Sätze über die Welt formulieren kann. Wenn es die semantische Letztinstanz des transzendentalen Jemand oder Ich, das spricht und Sätze über Erfahrungen formulieren kann, nicht gäbe, entzögen wir damit auch die Grundlagen allen wissenschaftlichen Forschens.

Wir können diese Sachlage auch so ausdrücken: Es ist vernünftiger anzunehmen, daß allem wissenschaftlichen Tun eine Form der Erfahrung zugrundeliegt, die semantisch auf der Wahrheitsfähigkeit von Sätzen beruht, die jemand, der Wissenschaftler oder die Gemeinschaft der Wissenschaftler, über diese Erfahrung formuliert, als anzunehmen, es gäbe keine erlebnisförmige Instanz der Erfahrung oder Erfahrung sei niemandes Erfahrung, und damit letztlich den sinnvollen Begriff der Erfahrung durchzustreichen.

Anzunehmen, etwas, ein Satz oder ein Argument, sei vernünftiger als ein anderer Satz oder ein anderes Argument, heißt in den logisch-semantischen Raum der Vernunft eintreten oder vielmehr bemerken, daß wir uns sprechend und argumentierend schon immer in ihm aufgehalten haben.

Vernunft ist der logisch-sinnvolle Zusammenhang unserer Aussagen. Dieser Zusammenhang kann kein physikalischer Zusammenhang in der Raum-Zeit sein, sondern nur ein semantischer Zusammenhang von Zeichen vor aller räumlich-zeitlichen Lokalisierbarkeit. Wären Gedanken identisch mit physikalischen Vorgängen, könnten wir keine gedanklichen Fehler machen, uns nicht verrechnen oder falsche Schlüsse ziehen. Wir könnten nur wie Roboter oder Rechenmaschinen ausfallen oder einen Schaden aufweisen.

Fehler machen zu können ist ein Zeichen dafür, im Raum der Vernunft zu leben, wo wir Kinder und unaufmerksame Schüler tadeln oder jedenfalls zurechtweisen, was manchmal genügt, sie auf die Quelle des Fehlers hinzulenken, ohne daß wir ihn explizit zu korrigieren brauchen, während Roboter Tadel und Zurechtweisungen unzugänglich bleiben und die Sequenz, an der der Algorithmus versagt hat, nicht als Fehler einsehen können – vielmehr müssen wir aktiv eingreifen und den Schaden beheben, indem wir die Stelle überschreiben.

Wir machen Fehler, indem wir Gegenstände nicht richtig identifizieren oder indem wir logische Beziehungen nicht korrekt anwenden. Wenn ich dich gestern im Park gesehen zu haben glaube, dich aber mit einem Freund verwechselt habe, weiß ich, nachdem ich meinen Irrtum eingesehen habe, daß nicht du es warst, den ich zu sehen glaubte, sondern eine andere Person, während der Roboter vielleicht Gesichter in dem Sinne wiedererkennen kann, daß er das aktuelle Bild auf seinem visuellen Sensor mit den Bildern in seinem visuellen Speichermedium abgleicht und die Ähnlichkeit anzeigen kann. Aber er weiß dennoch nicht, daß dieses oder jenes Bild das Abbild deiner oder einer anderen Person ist.

Ebenso weißt du, daß du einen Fehler gemacht hast, wenn du die nichtsymmetrische Relation F (a, b) auf das geordnete Paar (b, a) angewandt hast, wenn F die Relation „früher als“ bezeichnet, während der Roboter nicht wissen kann, warum die Anwendung fehlerhaft ist, da er nicht in einer Welt lebt, in der die Relation „früher als“ einen Sinn ergibt, sondern in einer gleichsam zeitenthobenen und erinnerungslosen Welt.

Um die Relation „früher als“ verwenden zu können, mußt du nicht nur das geordnete Paar (a, b) zweier Ereignisse so definieren, daß a früher als b stattfand. Du mußt darüber hinaus jemand sein, von dem aus gesehen ein Ereignis früher als ein anderes Ereignis stattgefunden haben kann. Die Bedingung dafür ist die eigentümliche Tatsache, daß alle Ereignisse bis auf die künftigen von deinem und meinem Standpunkt aus stattgefunden haben und vergangen sind (denn auch das gegenwärtige Ereignis hat jetzt bereits stattgefunden).

Wenn unsere Erfahrung niemandes Erfahrung wäre, gäbe es keine Zeit. Nur wenn du selbsthaft da bist, ist es dir möglich, daß ich früher zu dir gekommen bin, als du erwartet hast. Die transzendentale Bedingung unserer Möglichkeit, Sätze mit der Relation „früher als“ zu bilden, ist das selbstbezügliche Dasein jemandes, der von sich und seiner Existenz weiß, zum Beispiel weiß und immer weiß, wenn er überhaupt etwas weiß, daß ER JETZT HIER ist. Daß jemand JETZT HIER ist, ist aber eine unmittelbare Ableitung der nicht weiter ableitbaren transzendentalen Tatsache, daß jemandes ICH jetzt hier ist.

Wir würden uns sehr wundern, sollte sich herausstellen, daß die Wanderameise, die übers Land gezogen ist und die es in die Stadt verschlagen hat, abends in ihr Tagebuch nostalgische Auslassungen über ihr früheres Landleben eintragen sollte. Mehr noch nähme uns allerdings wunder, sollten sich nach dem „Ableben“ unseres geschätzten Roboters unter seinen Speichermedien Notizen finden, in denen er von der Schlichtheit und Wahrhaftigkeit und Reinheit eines zukünftigen Daseins schreibt, das den lästigen und demütigenden und verunreinigenden Schatten des Menschen von sich abgeworfen haben wird.

Roboter machen demnach keine Fehler, sondern fallen aus oder funktionieren nicht befehlsgemäß. Wenn sie aber im epistemisch starken Sinn keine Fehler machen können, dann sind sie auch nicht in der Lage, im epistemisch starken Sinn etwas richtig zu machen, weil sie weder einsehen können, daß sie einen Fehler noch daß sie etwas fehlerlos gemacht haben.

Roboter erfüllen das wahre Ideal des Naturalisten, weil sie gleichsam niemand sind und über keine erlebnisförmige Instanz verfügen, von der her sie einen logisch-sinnvollen Zusammenhang von Sätzen bilden könnten. Wir können daher Robotern nicht den Status einer rationalen Person zuschreiben, der sie zu Mitgliedern des Vernunftzusammenhanges machen würde, in dem wir leben und sprechen.

Wir können mit Robotern nicht argumentieren, nicht weil sie wie etwa Fanatiker oder Verrückte keinen vernünftigen Argumenten zugänglich wären, sondern weil sie außerhalb der semantischen Dimension der Vernunft existieren, denn weder kennen sie sich selbst oder wissen um ihre Existenz noch können sie überhaupt etwas erfahren, geschweige denn, ihre Erfahrungen in sinnvollen Sätzen ausdrücken.

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