Das Urwort „Ich“
Sentenzen und Aphorismen zur Philosophie der Subjektivität
Können wir lernen, Ich zu sein? – Nein, wir können nur lernen, „ich“ zu sagen.
Wenn wir uns bewußt zu sein nicht erlernen können, ist das Ich deshalb angeboren? – Nein, die Alternative angeboren vs. erlernt, Natur vs. Kultur ist keine umfassende oder exklusive.
Das Ich oder Selbstbewußtsein ist ein Knotenpunkt im Netzwerk aller Begriffe und Satzfunktionen, mit denen wir die Welt beschreiben. Würden wir diesen Knoten auflösen, löste sich das ganze Netz auf.
Ist das Ich eine Vorstellung oder Repräsentation, die all meine Vorstellungen begleitet? – Nein, Vorstellungen zu haben setzt das Selbstbewußtsein oder die Instanz voraus, die sie hat.
„Vorstellung“, „Repräsentation“, „Bild“, „Idee“ oder „Modell“ – all diese Begriffe verstellen die kategoriale Bestimmtheit des Ich.
Ist der andere oder das Alter Ego der Gegensatz oder Gegenbegriff zum Ich oder Ego? – Nein, kategoriale Begriffe, die das Netzwerk verknoten, mit dem wir die Welt abbilden, haben keine Gegensätze oder Gegenbegriffe.
Das Ich oder das Bewußtsein kann nicht negiert werden – es ist daher Unsinn, vom Dasein eines Nicht-Ich zu sprechen.
Das Ich ist kein empirischer Begriff – es ist die Voraussetzung dafür, daß wir empirische Begriffe verwenden.
Das Ich ist „da“, wie die Welt „da“ ist – ebensowenig wie ein anderes Ich kann es daher für mich eine andere Welt geben.
Das Ich ist gleichursprünglich mit der Welt und der Sprache, mit der es über die Welt spricht.
Das Ich ist die erste und letzte Instanz, die spricht.
Ist das Ich ein Sachverhalt? – Nein, denn Sachverhalte sind die Gehalte einer (propositionalen) Aussage, daß etwas so und so ist. Aber es kann sein, daß etwas nicht so ist, wie die Aussage behauptet. Diese logisch-semantische Möglichkeit, daß etwas anders ist als angenommen, fehlt, wenn wir vom Ich sprechen. Denn ich kann kein anderer sein als der, der ich bin. Also ist das Ich kein Sachverhalt.
Die Sätze über das Ich sind Scheinaussagen, denn sie entbehren der propositionalen Form, die echten, wahren oder falschen, Aussagen und Behauptungen eignet.
Formbegriffe wie das Ich und die Welt scheint eine metaphysische Notwendigkeit auszuzeichnen, aber diese Notwendigkeit ist keine von Gesetzen, wie wenn wir uns kein Vorkommnis ohne Ursache denken können. Es ist eine semantische Notwendigkeit oder der Ausdruck unserer Art zu sprechen.
„Ich sage jemandem etwas“ – dies ist die einfachste Formel, die den Gehalt unserer Existenz zum Ausdruck bringt.
„Jemand sagt jemandem etwas“ – dies ist die einfachste Formel, die den Gehalt der menschlichen Existenz zum Ausdruck bringt.
Jemand ist immer einer, der das an ihn gerichtete Wort zurückgeben kann – beispielsweise als Antwort auf eine Frage oder als Frage auf eine Behauptung.
Dabei setzen wir voraus, daß jemand an meiner Stelle sprechen, wie auch ich an jemandes Stelle sprechen kann.
Der allgemeine Formbegriff des Ich ist demnach „jemand“ – wie der allgemeine Formbegriff der Welt „etwas“ ist.
Unter „sagen“ können wir die allgemeine Form der Mitteilung verstehen, die sich auch in nonverbalen Akten verwirklichen kann.
„Jemand zeigt jemandem etwas“ oder „Jemand bedeutet jemandem etwas“ sind die einfachsten Sätze, mit denen wir die genannten Formeln ersetzen können.
Wenn jemand jemandem den Weg mittels der ausgestreckten Hand weist, muß er die Wegrichtung meinen (und der andere die Bedeutung dieser Geste verstehen) und nicht die eigene Hand. Wir nennen dies den intentionalen Gehalt der Zeigegeste oder der Mitteilung.
Ich ist also jemand, der die Bedeutung eines Ausdrucks (einer Geste, eines Zeichens, einer Mitteilung) durch den intentionalen Gehalt bestimmt, den er ihr verleiht.
Ich ist auch jemand, der die Bedeutung eines Ausdrucks (einer Geste, eines Zeichens, einer Mitteilung) aufgrund des damit gemeinten intentionalen Gehalts versteht.
Wir können das Ich demzufolge durch die semantische Funktion definieren, eine Äußerung mittels eines intentionalen Gehalts zu einer Mitteilung zu machen oder dazu äquivalent, eine Äußerung mittels eines intentionalen Gehalts als Mitteilung zu identifizieren.
Objekte und Ereignisse sind „etwas“ oder Inhalte der Welt – demnach ist das Ich oder die semantische Funktion kein Inhalt der Welt.
Das Ich ist die Grenze der Welt – ähnlich der Grenze eines Landes, ohne die es nicht dieses Land wäre, nur daß die Welt nicht wie das Land von einem anderen Land durch eine andere Welt begrenzt wird.
Haben nur Menschen ein Ich? Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß Inhalte unserer Welt wie Steine, Sterne, Pflanzen oder Tiere kein Ich haben (wenn einige unter ihnen auch eine Seele haben mögen).
Wenn Gott existiert, ist er ein Ich – also wäre er kein Inhalt unserer Welt.
Das Ich, das zu sein wir jemandem zusprechen, ist kein Inhalt unserer Welt wie seine Seele oder sein Charakter, seine Persönlichkeit oder sein Leib.
Jemand, der sich erinnert, gestern dies und das getan zu haben, ist derselbe, der sich jetzt erinnert und gestern dies und das getan hat – wäre er nicht derselbe, würde er sich nicht daran erinnern oder sich an etwas erinnern, das ein anderer getan hat.
Das Ich ist demnach eine Voraussetzung des Zeiterlebens, aber kein Inhalt und Teil des Zeiterlebens.
Das Ich scheint weder jung noch alt zu sein oder neue Erfahrungen zu machen wie die Person, in der es sich gleichsam verkörpert.
Dies ist nur eine metaphysische Redeweise für die semantische Tatsache, daß ich von mir spreche, ohngeachtet meines Alters oder der Erfahrungen, die ich dabei zum Ausdruck bringe.
Wir können dem Ich oder der semantischen Funktion bestimmte Bilder oder Zeichen zuordnen – wie den Pfeil auf der Wanderkarte, der den Betrachter zu der Aussage animiert: „Hier stehe ich also.“
Das Ich ist aber nicht identisch mit dem Namen der Person, die von sich spricht – denn wir können uns den Fall denken, daß einer seinen Namen vergessen hat und weiterhin von sich spricht.
Man kann sich nicht mit einem anderen verwechseln – die Irritation und Täuschung, die entsteht, wenn einer in der spiegelenden Scheibe sein Abbild mit dem eines anderen verwechselt, ist keine Form der Selbsttäuschung.
Das Ich hat gewisse Kennzeichen, die Parmenides dem Sein zuspricht – es ist eines, ungeworden, unzeitlich, unkörperlich, kein Teil der physischen Umgebung und kann nicht negiert werden.
Wir übersetzen die Metaphysik in Semantik, wenn wir sagen, das Ich ist die einheitliche, gleichbleibende semantische Funktion, jemandem etwas mitzuteilen oder jemandes Mitteilung zu verstehen.
Zu leugnen, das und jenes getan oder gesagt zu haben, obwohl man es getan oder gesagt hat, ist vergleichbar mit der Unterschrift unter einem Schreiben, die sich als unecht oder gefälscht erweist.
Der Fälscher hat ja geschrieben, was geschrieben zu haben er leugnet, indem er es einem anderen zuweist; er hatte die Absicht etwas mitzuteilen, wenn er es auch unter der Maske eines fremden Namens tat.
Ich ist jemand, der jemandem etwas mitteilt und dabei die Absicht hat, es mitzuteilen.
Ich ist jemand, der die Absicht dessen, der etwas mitteilt, aus der Art der Mitteilung errät; erst wenn er die Intention des Sprechers versteht, versteht er das Mitgeteilte.
Die Absicht kann in der Art der Mitteilung oder in ihrem Kontext versteckt oder impliziert sein, so wenn wir große Worte um ein Nichts machen (Ironie) oder bei einem traurigen Anlaß derbe Witze reißen (Zynismus).
Die scheinbar absichtslosen Sätze der Wissenschaft, wie daß Wasser H2O ist, scheinen Mitteilungen aus anonymer Quelle an niemanden zu sein. Sie sehen aus wie Mitteilungen einer Gemeinschaft von Menschen, die sich bemüßigt fühlen, ausschließlich in der dritten Person zu reden. Die Aussage über die chemische Zusammensetzung von Wasser impliziert eine unbegrenzte Anzahl von Aussagen über das Periodensystem, den molekularen Aufbau der Materie von den interstellaren Gaswolken über Sternsysteme bis zur Physik und Biochemie des Planeten Erde, zu der auch „mein“ Körper gehört, in denen ich aber nicht vorkomme.
Daß ich aber selbstverständlich von meinem Körper spreche, weist darauf, daß unsere Welt primär die Welt der Wahrnehmung oder die sensible Welt ist, die nichts ist ohne den, der sie wahrnimmt.
In diese Welt bauen wir die objektive Sprache der Wissenschaften mittels unserer Handlungen ein, wenn wir Häuser, Autos oder Maschinen bauen – Handlungen freilich, die nichts sind ohne jemanden, der handelt.
So sind auch die Geräte und Meßinstrumente, die die Wissenschaften konstruieren und einsetzen, hochspezialisierte artifizielle Wahrnehmungs- und Beobachtungsorgane, die am äußerste Ende jemanden benötigen, der die mit ihnen gemachten Wahrnehmungen und Beobachtungen registriert und theoretisch ableitet. Wir können diese Instanz nicht wiederum durch eine von uns konstruierte Maschine oder einen Roboter ersetzen, der ohne Selbstbewußtsein Beobachtungen registrieren und theoretisch ableiten könnte.
Wenn wir der untilgbaren gleichsam transzendentalen Tatsache des Ich gerecht werden wollen, sind wir genötigt, Theorie und Praxis der Wissenschaften als operationale Funktionen zu beschreiben, die sich auf jene Tatsache – wie entfernt auch immer – rekursiv zurückbeziehen.
Die Aussage „Ich habe Schmerzen“ impliziert die Aussage „Jemand hat Schmerzen“, aber nicht umgekehrt – von der Aussage „Jemand hat Schmerzen“ kommen wir nicht ohne weiteres zu der Folgerung, daß du oder ich es bin, der Schmerzen hat.
Hier erfassen wir die offenkundige Asymmetrie zwischen der ersten und der dritten Person. Sie verweist uns auf den Grund des Scheiterns der Versuche, das Bewußtsein zu naturalisieren.
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