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Das Unscheinbare denken

01.06.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Die physikalische Tatsache, daß der Mond nicht aus Käse besteht, spielt für die symbolische Rolle des Monds in Mythos und Dichtung keine Rolle.

Die physiologische Tatsache, daß der Raum unter unserer Schädeldecke nicht leer oder mit Zuckerwatte gefüllt ist, spielt für die symbolische Wirklichkeit unseres Sagens und Zeigens keine Rolle.

Die semantische Besonderheit der Aussage und des Aussagesatzes beruht in ihrer Möglichkeit, verneint werden zu können.

Das semantisch abgeklärte Philosophieren kann nicht auf einer Phänomenologie der Wahrnehmung beruhen. Ich sehe die Lampe auf dem Tisch stehen. Doch kann ich ebenso feststellen, daß die Lampe NICHT (wie gewohnt) auf dem Tisch steht; sehen kann ich diese negative Tatsache allerdings nicht.

Fußspuren im Schnee brechen ab, doch zwei, drei Schritte weiter, und sie tauchen wieder auf. Wir setzen darauf, daß die Lücke zufällig, ephemer, kontingent ist; so pflegen wir die Annahme einer Kontinuität der Erfahrung ihrer gleichsam traumförmigen Zersplitterung vorzuziehen.

Wir gehen davon aus, daß der Mann, der vor einer Stunde über die Schwelle des nachbarlichen Hauses getreten ist, derselbe ist, der nun wieder aus der Türe tritt, zumal er genauso aussieht wie jener; freilich, es könnte sein Zwillingsbruder sein.

In der Formel y = x2 haben wir scheinbar eine Methode, den Verlauf der Kurve ins Unendliche abzuleiten und vorauszusagen; scheinbar, denn der Verlauf einer Kurve ist keine Abfolge von Ereignissen, die wir in den wenigsten Fällen voraussagen, schon gar nicht mittels einer Funktion oder Formel ableiten können.

Statistische Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen, die wir nur als Folge von Punkten darstellen können, erlangen den Anschein von gesetzesförmig ableitbaren und voraussagbaren Verläufen, wenn wir die Punkte zu Kurven vervollständigen. – Dies gilt zumal und a fortiori für historische Ereignisse, deren Verknüpfung uns den Anschein historischer Gesetzmäßigkeiten suggeriert.

Man muß keine höhere philosophische Moral konstruieren, um herauszufinden, weshalb wir uns bemüßigt, motiviert oder genötigt fühlen, etwas zu tun oder zu unterlassen; wir müssen nur den alltäglichen und korrekten Gebrauch der Modalverben wie dürfen, sollen, können, müssen und ihre Negationen studieren.

Betrachten wir die Situationen, Gelegenheiten und Umstände, unter denen wir ein Verhalten oder eine Äußerung mißbilligen, tadeln und korrigieren, und wir verstehen mehr vom ethischen Geschäft, als wenn wir nach einer abstrakten, allgemeinen Formel suchen, die das Richtmaß für untadeliges und moralisch korrektes Verhalten an die Hand geben soll.

Wir unterscheiden den physikalischen und den logischen Sinn von Modalausdrücken wie können und nicht können, müssen und sich möglicherweise so oder anders verhalten. Pferde können nicht sprechen; dies ist eine faktische Aussage. Menschen können nicht meinen, was sie nicht sagen oder durch einen Sprechakt oder eine sprachförmige Geste in einer spezifischen Umgebung kundtun (indem wir beispielsweise nichts sagen und beschämt, trotzig, hochmütig oder angewidert schweigen); dies ist eine logisch-semantische Aussage.

Cicero muß Atem holen, um zu einer seiner langen Perioden auszuholen; aber die Wucht seiner Argumente, und seien ihr Pathos und ihr logisches Gewicht noch so groß, kann die Hörer nicht zu einer bestimmten Annahme zwingen; während wir einer logisch korrekten Folgerung nur ausweichen können, wenn wir uns dumm stellen und sie in den Wind schlagen oder dumm sind und sie verkennen.

„Er muß wohl hier gewohnt haben“ ist eine Vermutung, die sich als falsch herausstellen kann. „Eine Primzahl kann man nicht durch andere Zahlen teilen“ ist weder eine Hypothese noch eine Aussage über eine physische oder reale Unmöglichkeit.

„Denken“ ist wie „sein“ kein univoker Begriff. „Er dachte an seinen Vater.“ – „Er dachte nicht, daß es schon so spät sei.“ – „Als er seinen Namen rufen hörte, dachte er unwillkürlich, er sei gemeint.“

Der Gebrauch von „denken“ changiert zwischen „sich erinnern“, „phantasieren“, „glauben“, „fühlen“ und „folgern“.

„Wenn Peter der Sohn von Hildegard ist und Hans der Bruder von Peter, muß Hans der Sohn von Hildegard sein.“ – Der logische Sinn des Modalwortes „müssen“ gibt uns den Anschein einer realen, gesetzesförmigen Notwendigkeit; wir vermeiden ihn, indem wir einfach sagen: „Peter ist der Sohn von Hildegard; Hans ist sein Bruder – also ist Hans ein Sohn von Hildegard.“

„Verstehen“ ist kein geheimnisvoller Vorgang in den von einer geheimnisvollen Instanz namens „Geist“, „Bewußtsein“ oder „Ich“ bewohnten Privatgemächern der Innerlichkeit. – Vor dem Bankschalter oder der Rezeption der Arztpraxis ist eine Inschrift in den Teppich eingeprägt, etwa: „Diskretion. Bitte Abstand halten“; der nächste Kunde oder Patient betritt den Schriftzug und bleibt wie angenagelt stehen, denn er sieht, daß ein anderer vor ihm an der Reihe ist. Er hat verstanden, was die Inschrift besagt, nämlich die Aufforderung, ihrem Sinn gemäß sich zu verhalten. Wir SEHEN, daß der sich korrekt Verhaltende das Gemeinte verstanden hat.

Wir sehen, lesen und verstehen auf ähnliche Weise ein Verkehrsschild, den Beipackzettel eines Medikaments, ein Kochrezept, die Bauanleitung zur Errichtung eines Regals oder die Hinweise zum Aufbau einer Rede im Rhetorikhandbuch.

Wir haben viele Gedichte gelesen; allmählich dämmerte es uns, peu à peu haben wir verstanden, was das ist, ein Gedicht.

Wir können keine sokratische Definition einer idealen Rede hernehmen oder konstruieren und daraus eine reale ableiten, die Beifall finden könnte.

Hinweise, Aufforderungen und Handlungsvorgaben, wie wir sie Verkehrsschildern, Rezepten oder den Rechtsvorschriften eines Vertrags entnehmen, nennen wir explizit; doch die meisten Regularien unseres alltäglichen Verhaltens und Gebarens sind implizit und nicht ausdrücklich formuliert; dies gilt für Konventionen und mehr oder weniger formalisiertes und ritualisiertes Handeln wie die Begrüßung und Verabschiedung, das Geplauder mit dem Nachbarn, das Schreiben von Einladungen oder Glückwünschen, die Ausrichtung einer Feier im privaten Kreis.

Implizite Handlungsvorgaben sind gleichsam an ihren Rändern ausgefranst; wir können sie nicht vollständig umgrenzen und definieren – eben aus diesem Grunde sind sie implizit. – Reichen wir dem ehemaligen Freund, der uns in einer schwierigen Situation die kalte Schulter gezeigt hat, beim unverhofften Wiedersehen, da er freundlich lächelnd auf uns zukommt, die Hand? In diesem Falle würde dieses alltägliche Begrüßungsritual zugleich eine Geste der Versöhnung darstellen. – Wen laden wir zur Feier ein und wen besser nicht? Halten wir eine Festansprache? Aber kommt nicht der hellhörige Philologe, der gerne mäkelnde Sprachkritiker? Welche Gerichte tischen wir auf? Ist jener Gast nicht ein Vegetarier?

Die Vagheit impliziter Handlungsvorgaben ist kein Grund, zu resignieren und die Hände in den Schoß zu legen.

Der Philosoph freilich, der es ganz genau nimmt und alles bis ins Letzte aufklären, ergründen und begründen will, ist zum Scheitern verurteilt.

Der Chemiker bestimmt die genaue Anzahl der Moleküle in einer Verbindung; der Mathematiker die Anzahl der gemeinsamen Teiler zweier Zahlen; der Geometer und Landvermesser den genauen Abstand zwischen zwei idealen Punkten in der Landschaft; dem Wanderer genügt die ungefähre Schätzung der Anzahl von Stunden, die er gehen muß, um sein Ziel zu erreichen; der Angabe von Minuten und Sekunden, so sie möglich wäre, bedarf er nicht.

Es gibt kein allgemeines oder allgemeingültiges Modell, Verfahren oder System des Denkens und Verstehens, und wir bedürfen seiner nicht, ohne daß wir dadurch Gefahr liefen, in Gedankenlosigkeit zu verfallen oder uns in einem Labyrinth von Rätseln zu verirren.

Wir bedürfen keines Wissens von allgemeinen oder allgemeingültigen moralischen Vorschriften und Gesetzen, keines formalen begrifflichen Wissens von dem, was man unter „Schuld“, „Gerechtigkeit“ oder „normativen Geltungsansprüchen“ auch immer verstehen mag, um die Nötigung zu empfinden, uns für einen Fauxpas zu entschuldigen, oder das Gefühl der Verpflichtung, uns für eine erhaltene Gunst dankbar zu erweisen oder uns für ein freundliche Entgegenkommen zu revanchieren.

Wir bedürfen keiner allgemeinen oder allgemeingültigen begrifflichen Grundlegung unseres Wissens und Verstehens, unseres alltäglichen Tuns und Redens, ohne daß wir damit Gefahr liefen, auf schwankenden Grund zu geraten und im Morast ungelöster Fragen zu versacken.

Die Art und Weise, wie Physiker und Meteorologen sich über Klimazonen, Meeresströmungen, Sonnenwinde, Mondphasen oder Hoch- und Tiefdruckgebiete verständigen, gibt uns kein präskriptives Modell für unsere alltägliche Unterhaltung über das Wetter. – Freilich, was wir heiteren Himmel, Meeresbrandung, Sonnenuntergang oder Vollmond nennen, entstammt den alltagssprachlichen Ressourcen, ohne die auch der Physiker und der Meteorologe keinen Zugang zu den von ihnen wissenschaftlich behandelten Phänomenen hätten.

Wenn wir erkennen, daß die Erde sich nicht im Zentrum unseres Sonnensystems und die Sonne sich nicht im Zentrum unserer Milchstraße befinden, müssen wir uns deshalb in irgendeiner Weise an den Rand gedrängt, zu einer inferioren oder mediokren Rolle im Weltendrama herabgewürdigt fühlen? Wie könnten wir uns an den Rand gedrängt fühlen, wenn wir erkennen, daß der Kosmos kein Zentrum hat?

Insofern wir uns nicht im Mittelpunkt befinden können, weil das Universum kein Zentrum hat, was sollen all die metaphysischen Erregungen und angeblich kränkenden Folgen der kopernikanischen Revolution? Nun, wir suchen und finden bei jeder Gelegenheit Stoff für die menschliche Komödie, das Theater der Eitelkeiten oder ihr Spiegelbild, die Tragikomödie der gekränkten Eitelkeiten.

Daß die kosmologische Weltzeit nicht mit der Zeitauffassung kongruiert, die sich in Floskeln kundtut wie „Es wird schon dunkel“, „Bitte entschuldigen Sie die Verspätung“ oder „Morgen in Jerusalem!“, ist ebensowenig verwunderlich wie die Tatsache, daß die raumzeitliche Umwelt von Spinnen weder in die von Löwen noch die von Menschen isomorph abgebildet werden kann.

Wenn wir darauf kommen, daß es keine allgemeine oder allgemeingültige Form der Vernunft (des Wissens, der Rationalität) gibt, müssen wir dann nicht die Bemühungen der abendländischen Philosophie von Platon über Descartes bis Kant, Fichte und Hegel (von Apel, Habermas et alt. zu schweigen) als gescheitert deklarieren und ad acta legen? Ja, wenn wir sie im Lichte eben der Bemühungen sehen, die logisch-begrifflich nicht exakt abgrenzbare Mannigfaltigkeit unseres Gebrauchs von Begriffen wie „denken“, „überlegen“, „sich erinnern“, „fragen“, „zweifeln“, „urteilen“, „folgern“ und etliche mehr auf das sichere Fundament dessen zu gründen, was jene Philosophen den Logos, die Vernunft, den Begriff und die Rationalität nannten und nennen.

Versinkt nicht, wenn wir den einheitlichen Begriff der Vernunft aufgeben, alles in einen Wirbel des Relativismus und einen Strudel der Beliebigkeit? Nein. Die Vielzahl der unterschiedlichen Kommunikationen und Interpretationen, die unser alltägliches Tun und Reden ausmachen oder unsere außeralltäglichen Höhenflüge inspirieren, sie haben Bestand, sie pflanzen sich fort und erfahren Variationen, Modulationen und Metamorphosen, auch wenn sie nicht von der einen Sonne der Vernunft überstrahlt werden. – Manche, wie die Kunst und die Dichtung, von der Politik nicht zu reden, wuchern sogar vortrefflich im Zwielicht und der Dämmerung von Zweideutigkeiten, Ambiguitäten und Paradoxien.

Wenn wir den Menschen nicht mehr als animal rationale definieren, droht er dann nicht im Morast des Irrationalen unterzugehen? Nein. Wir sagen: Jener kann ausgezeichnet rechnen; dieser sitzt prompt Fehlschlüssen auf. Wir sagen auch: Dieser ist wohl clever und schlau, handelt aber, wenn Not am Mann ist, unvernünftig; jener ist ein unverbesserlicher Phantast und Träumer, doch wenn es darauf ankommt, holt er die Kohlen aus dem Feuer oder übernimmt souverän das Steuerruder. – Wir bedürfen keiner allgemeinen Definition des Menschen, und daß die Begriffsbestimmung des Humanbiologen mit der Charakteristik des Romanciers nicht kongruiert, kümmert uns nicht.

Wenn wir Ballast abwerfen, steigt der Fesselballon und das Schiff nimmt Fahrt auf; freilich drohen beide auch von Wirbeln und unbeherrschbaren Strömungen fortgerissen zu werden. – Vielleicht war der schwere Ballast dessen, was sie als den Logos, die Vernunft, die Rationalität und die universelle Moral beschworen, den Philosophen eine Versicherung gegen die Angst vor der Gefahr, ihr schwankendes Boot oder flüchtiges Dasein solch reißenden Strömungen auszusetzen.

Als führte der Dompteur die Beste an einem langen, losen Seil; als höbe sie, knallt er mit der Peitsche, anmutig die ungeheure Tatze; doch wenn sie unversehens brüllt, weht Spreu auf in der Manege und die Reihen der Zuschauer fahren in einem erstickten Schrei zusammen.

Nun, sagen wir es etwas pathetisch, die Bestie ist das Leben, und der es am Seil führt und die Peitsche schwingt, sein Dompteur ein Sokrates, Platon, Descartes oder Kant. – Doch das wilde Tier läßt sich bekanntlich nicht vollständig zähmen, einmal mag es, der Vorstellung vor einem beindruckt-ehrfürchtigen Publikum überdrüssig, die Krallen ausfahren.

Was soll man in einem alten Gesicht lesen, das nicht die Falten des Grams, nicht die Narben des Kampfes, nicht die Furchen des Denkens zeigt?

Gipsernes Grinsen, geölte Blicke, blecherne Phrasen, so wähnen sie die Spuren der Erde zu tilgen.

Gefilterte Gene, stimulierte Ganglien, von Algorithmen gesteuerte Drüsen, mit Traummull verfüllte Eierstöcke und Hoden – die neuen Unsterblichen.

An van Goghs Bauernschuhen klebt noch der Dung der Wahrheit.

Denker oder Dichter, dem als letztes Wort das Wort „Dank“ zugesprochen wird.

Wie könnten sie dem danken, was sie selbst hervorgebracht, aus der Erde gestampft, dem Himmel abgetrotzt haben?

Die Griechen bezeigten religiöse Scheu vor den Blitzen des Zeus, die Römer immerhin vor dem Herdfeuer der Vesta.

Ewig grollen die Titanen dem reinen, unantastbaren Gipfelschnee des Olymps.

Dem Asphalt, den Glasbausteinen, den ölglänzenden Maschinen können wir nicht danken. Wie ihnen im Gedicht ein Andenken wahren?

Der auf der Party das große Wort geführt hatte, wankt nach Hause, öffnet das Fenster, sinkt aufs Kissen; und in der Stille der Nachtluft schöpft er ein wenig Atem.

Freilich, das nüchterne Gras ist unscheinbar gegen die betäubenden Düfte des wogenden Flieders; doch wie sein Duft vergeht, hat das Gras noch Glanz und Lust am Tau der Nacht.

Das Phänomen, das Augenfällige und Evidente, war das Faszinosum der abendländischen Philosophen; den Schatten, den der Baum wirft und ebenso der Mensch, den Duft, den die Rose unsichtbar im Dunkel des Zimmers verbreitet, ist auch ihr Glühen in der Dämmerung schon erloschen, das Schweigen, das zwischen das Gesagte rinnt wie der Tau auf die Blüte des Veilchens, die Träne auf die Wange des Glücks, das Zwielicht, das Verschwiegene, das Unscheinbare bedachten sie nicht.

Die in der Dämmerung, in der Erinnerung, heller zu leuchten beginnen, die Früchte im Garten der Kindheit, im längst gerodeten und asphaltierten Garten.

 

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