Das Spiel des Lebens
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die Welt nimmt eine blassere und flüchtigere Färbung an, wenn wir warten; das im Park um unsere Bank gestreute Licht ist schon getrübt vom Schatten der erwarteten Ankunft des Freundes.
Unsere Sicht auf zeitliche Abläufe und Horizonte ist von gewissen propositionalen Einstellungen imprägniert; so hat unser Warten auf das Erwartete eine andere Temperatur und Stimmung, je nachdem, ob wir seinen Eintritt erhoffen oder befürchten, ersehnen oder verhindert sehen möchten, oder ob wir ihm gleichmütig und gleichgültig gegenüberstehen.
Wir hoffen, daß der Freund pünktlich zu unserer Verabredung kommt; wir befürchten, er könne wieder einmal trödeln und sich verspäten. Wir bekommen kein gleichsam reines und jungfräuliches intentionales Objekt dessen, was wir Erwartung nennen, zu fassen, weil diese stets die wechselnde Farbe unserer propositionalen Einstellungen zu diesem Objekt widerspiegelt.
Kann der Hund befürchten, sein Herrchen werde wieder einmal trödeln und zu spät nach Hause kommen?
Wir sagen mit recht, der Hund erwarte die Heimkehr seines Herrchen, wenn er die Ohren spitzt und seine Schritte im Treppenhaus vernimmt; ja, wir können sagen, der Hund erwarte die Rückkehr seines Herrchens mit freudiger Ungeduld. Aber wir zögern zu behaupten, der Hund erwarte die abendliche Heimkehr seines Herrchens, weil es anfängt dunkel zu werden.
Der Hund kann wohl ungeduldig und panisch auf seinen Besitzer zustürzen, der allzu spät nach Hause zurückkehrt. Aber er kann nicht mit Bedauern und vorwurfsvoll an den gestrigen Abend zurückdenken, als sein Herrchen ihn so lange hat warten lassen.
Die intentionalen Objekte unserer Erinnerung sind ebenso wie diejenigen unserer Erwartung von propositionalen Einstellungen imprägniert; denn wir gedenken der gestrigen Verspätung oder des Ausbleibens unseres Freundes mit Bedauern oder Empörung, die Erinnerung an das von ihm eingelöste Versprechen erfüllt uns mit Genugtuung und bestärkt uns in den freundlichen Gefühlen der Treue und Verbundenheit.
Der Freund nimmt die Verabredung wahr, indem er etwas tut, seine Schuhe anzieht, aus dem Tor tritt und aufs Fahrrad steigt; der auf ihn Wartende scheint untätig und das Warten gleichsam passiv und inhaltsleer. Doch dies ist nur der Reflex einer ungenauen Beobachtung, denn der Wartende läßt seine Blicke schweifen, liest im Buch und klappt es wieder zu, schaut auf die Uhr, geht unruhig auf und ab.
Wir können unsere Art zu warten dadurch zum Ausdruck bringen, daß wir im Zimmer unruhig hin- und herlaufen, immer wieder aus dem Fenster schauen, manchmal vor uns hin murmeln: „Wann kommt er denn endlich!“ Jede unserer Einstellungen zu Ereignissen im zeitlichen Horizont, ob Erinnerung, gegenwärtige Aufmerksamkeit oder Erwartung, hat ihr Repertoire an mimischen, gestischen oder sprachlichen Kundgaben.
Um über den Ereignishorizont unserer Erwartung zu sprechen, verwenden wir unter anderem die konditionale Rede und das irreale Satzgefüge: „Wenn er zu kommen verhindert wäre, würde er es mich doch wohl telefonisch wissen lassen.“ – „Wenn er mich auf diese infame Weise zu düpieren gedenkt, sollte ich den Kontakt mit ihm einstellen.“ – „Er könnte dadurch, daß er zu spät oder gar nicht kommt, seine Verstimmung über meine eigene Unzuverlässigkeit kundtun wollen.“
Wer immer wieder die Schwelle des Hauses nehmend in den Schlamm getreten oder in argen Schlamassel geraten ist, wird am Ende schmollend oder schwermütig geworden die Wohnung nicht mehr zu verlassen wünschen.
Wir verstehen die Zeit und das Drama unseres Lebens nicht anhand des gleichsinnigen Ablaufs von gestern, heute und morgen, sondern vom offenen Horizont der Zukunft her; je schwerer die Last des Erlebten wiegt, je mehr die Scheite des Vergangenen auf unsere Schultern drücken, umso weniger leben wir, umso mehr wollen wir den nächsten Akt vertagen.
Wenn sich der Horizont der Zukunft auf die schmale Linie einer nicht enden wollenden Dämmerung verengt, erleben wir die Zeit des Lebens als leere Zeit.
Ähnlich wie bitter enttäuschte Treue und Liebe den Verratenen und Verletzten bewogen haben mögen, den vitalen Kontakt mit dem Leben zu verringern oder einzustellen, sinnt uns die Lehre der Resignation an, die Gefahr, auf unbetretenem Pfade in die Irre zu gehen, höher einzuschätzen als das Glück, das ein bestandenes Abenteuer uns versprechen mag.
Das Erlebnis der leeren Zeit inmitten der Fülle des Augenblicks und der ins Gespenstische gewachsenen Gefahr auf noch übersichtlichem Gelände sowie die Erstarrung des Ausdrucks und jedweder ins Offene strebenden Regung inmitten der inspirierenden und wärmenden Nähe der Lebensgenossen sind charakteristische Merkmale der Psychopathologie, wie wir sie im Krankheitsbild der Schizophrenie und der Depression finden.
Tiere werden nicht geisteskrank, sie leiden weder an Psychosen noch werden sie depressiv; dies ist ein oft übersehenes Merkmal der Unterscheidung von Tier und Mensch.
Der Hund, der den Ball nicht wiederfindet, mag darüber aufgebracht sein, doch versinkt er angesichts eines Verlustes nicht in selbstquälerische Grübeleien.
Der Fuchs in der Fabel La Fontaines, der die ihm unerreichbaren Trauben für minderwertig deklariert, ist die Maske des Menschen, der angesichts der Enttäuschung seines Begehrens ein Ressentiment gegen die Schönheit und Fülle des Lebens entwickelt.
Der Glaube, ohne etwas dafür tun zu müssen, werde einem morgen oder spätestens übermorgen Fortuna ihr Füllhorn goldener Früchte vor den Füßen ausschütten, ist oft der Ausdruck fauler Feigheit vor dem Leben, vermengt mit aus alten Wunden genährten Grandiositätsphantasien.
Die astronomischen und biologischen Tatsachen sperren unsere Lebenszeit in den Käfig der Tage und Nächte, der Jahreszeiten und der fatalen Prozesse des Wachsens und Reifens, des Alterns und Verfallens. Und dennoch erleben wir den Augenblick der gelebten Zeit, der Entscheidung und der Tat als in ausgezeichneter Weise offen; vermögen wir die Erzählungen unserer Lebensgeschichte in dem vom gegenwärtigen Augenblick ausstrahlenden Licht neu zu beleuchten.
Wir sehen in der Psychose eine gleichsam sterile Überspanntheit und unfruchtbare Übersteigerung des Gegenwartsbewußtseins: Alles ist in Frage gestellt, wie die Dinge aussehen, was die Leute reden, ist aus dem selbstverständlichen Rahmen der Evidenz herausgefallen, in dem wir uns traumwandlerisch auf einem von der Vergangenheit in die Zukunft gespannten Seil vorwärtszubewegen pflegen.
Der Verstrickte sieht in jeder verschlossenen Tür ein Verhängnis, der Befangene in jedem Lächeln gleisnerische Tücke oder Dämonie.
Der Verstrickte hämmert verzweifelt gegen die Tür; und wenn er ohnmächtig zurücksinkt, geht sie gleichsam ironisch geräuschlos auf, war sie doch nur angelehnt.
Man kann gegen das Schicksal nicht mit gezinkten Karten spielen; das letzte Spiel verlieren wir auf jeden Fall.
Das Kind, das sich in der Puppe spiegelt, mit ihr singt, wenn sie artig war, ihr den Kuchen verweigert, wenn sie böse war, das Kind, das im lebendigen Austausch mit seiner Umwelt den Geist einer tieferen Ordnung atmet, auch wenn es ihn nicht zu benennen weiß, es lebt in der Evidenz dessen, was wir das Spiel des Lebens nennen können, dessen Regeln noch keine Philosophie vollständig ans Licht gebracht hat, die aber in den Werken eines Lebensmeisters wie denen Goethes angedeutet sind; so in den feinen Linien aus Licht und Schatten, wie sie zwischen den Figuren aus Wilhelm Meisters Wanderjahren weben, hervorleuchten und sich wieder verdunkeln.
Wir sagen, einer habe den Boden unter den Füßen verloren, einer stochere im Nebel, einer drehe sich im Kreis, um den Verlust des vitalen Kontakts und die Verfinsterung der Evidenz des alltäglichen Tuns und Sagens zu kennzeichnen und der Beobachtung Ausdruck zu verleihen, daß einer aus dem Spiel des Lebens herausgefallen ist.
Wer während des Spiels beständig über seinen Sinn und die universale Geltung seiner Regeln nachgrübelt, steht schon am Rande, ist schon draußen und vermag den nächsten Zug nicht zu machen.
Wir können nur einen Zug nach dem anderen machen, lassen wir einen Spielzug aus, sind wir schon disqualifiziert; halten wir die regelförmige Reihenfolge nicht ein und wollen ernten, bevor wir gesät haben, wird sich der Kreis des Handelns nicht schließen.
Wenn wir auf die Frage des Freundes hin nur auf die immer schwächer werdenden Echos der Erinnerung achten, die sie in uns auslöst, werden wir um eine prompte Antwort verlegen sein.
Hingabe an das Tun und Sagen des Augenblicks löst uns von den Fallstricken des Zweifels und Selbstzweifels, die uns eine krankhaft übersteigerte Selbstbeobachtung auslegt.
Wie der Astronom den Stern nicht vermessen könnte, hätte er ihn nicht gesehen, ob mit bloßem oder technisch verfeinertem Auge, so könnte der Psychiater die Seele nicht vermessen, hätte ihm der Patient sein Leiden nicht geschildert.
Das Drama Shakespeares rollt sich von Akt zu Akt im Rhythmus von jähen Turbulenzen und Verwicklungen und scheinbar müßig-tändelnden Zwischenspielen ab, doch bedeutsame Pausen sind ihm in den einsamen Monologen des Protagonisten vergönnt, der seine Lage unter dem Stern des Unheils oder der günstigen Konstellation bis zur Reife der Entscheidung überdenkt.
im Drama des Lebens freilich können wir auf keine vorgegebenen Texte zurückgreifen, wenn wir auch da und dort die uns zugewiesene Rolle so gut es eben geht ausfüllen; ansonsten sind wir gehalten, ständig zu improvisieren.
Wir können uns beim Regisseur nicht krank melden oder einen Mitspieler bitten, bei den nächsten Vorstellungen unseren Part zu übernehmen, um endlich einmal vom Spiel des Lebens zurückzutreten und Urlaub zu machen.
Die Öffnung des Zeitbewußtseins in Erinnerung und Erwartung und die mehr oder weniger beseligende oder schmerzliche Verdichtung des Selbstgefühls, die ein unverhoffter Gruß bringt, der plötzlich durchs offene Fenster dringende Duft der Sommernacht, das Rauschen des alten Stroms beim einsamen Abendgang über die Uferallee.
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