Skip to content

Das salomonische Urteil

15.09.2016

Eine philosophische Betrachtung über den guten Grund und das bessere Argument

 

16 Zu der Zeit kamen zwei Huren zum König und traten vor ihn. 17 Und das eine Weib sprach: Ach, mein Herr, ich und dies Weib wohnten in einem Hause, und ich gebar bei ihr im Hause. 18 Und über drei Tage, da ich geboren hatte, gebar sie auch. Und wir waren beieinander, daß kein Fremder mit uns war im Hause, nur wir beide. 19 Und dieses Weibes Sohn starb in der Nacht; denn sie hatte ihn im Schlaf erdrückt. 20 Und sie stand in der Nacht auf und nahm meinen Sohn von meiner Seite, da deine Magd schlief, und legte ihn an ihren Arm, und ihren toten Sohn legte sie an meinen Arm. 21 Und da ich des Morgens aufstand, meinen Sohn zu säugen, siehe, da war er tot. Aber am Morgen sah ich ihn genau an, und siehe, es war nicht mein Sohn, den ich geboren hatte. 22 Das andere Weib sprach: Nicht also; mein Sohn lebt, und dein Sohn ist tot. Jene aber sprach: Nicht also; dein Sohn ist tot, und mein Sohn lebt. Und redeten also vor dem König.
23 Und der König sprach: Diese spricht: mein Sohn lebt, und dein Sohn ist tot; jene spricht: Nicht also; dein Sohn ist tot, und mein Sohn lebt. 24 Und der König sprach: Holet mir ein Schwert her! und da das Schwert vor den König gebracht ward, 25 sprach der König: Teilt das lebendige Kind in zwei Teile und gebt dieser die Hälfte und jener die Hälfte. 26 Da sprach das Weib, des Sohn lebte, zum König (denn ihr mütterliches Herz entbrannte über ihren Sohn): Ach, mein Herr, gebt ihr das Kind lebendig und tötet es nicht! Jene aber sprach: Es sei weder mein noch dein; laßt es teilen! 27 Da antwortete der König und sprach: Gebet dieser das Kind lebendig und tötet es nicht; die ist seine Mutter.
28 Und das Urteil, das der König gefällt hatte, erscholl vor dem ganzen Israel, und sie fürchteten sich vor dem König; denn sie sahen, daß die Weisheit Gottes in ihm war, Gericht zu halten.
(1 Könige, 3, 16–28)

Wenn wir Salomons Urteil betrachten, gewinnen wir Einsicht in das, was die Bibel Weisheit nennt (V. 28), und da diese, wie der Bericht kündet, von Gott stammt, Einsicht in das Wesen Gottes, soweit Weisheit einer seiner Aspekte darstellt.

Doch sind wir schon zufrieden damit, anhand der Betrachtung des Berichts über das Urteil Salomons Einsicht in das zu gewinnen, was die Philosophie einen guten Grund, etwas zu sagen oder zu tun, oder das bessere Argument nennt, nämlich eher das eine als das andere zu sagen oder zu tun.

Zwei Frauen, die Bibel nennt sie ob nun abschätzig oder wahrheitsgemäß Huren oder Dirnen (so jedenfalls bleiben die Standpunkte der wohl unbekannten Väter außen vor), streiten um die Rechtmäßigkeit der Mutterschaft zweier Säuglinge: Der eine ist tot, der andere lebt. Die eine Mutter klagt gegen die andere, sie habe den toten Jungen heimlich statt ihres lebenden ausgetauscht und ihr untergeschoben. Die andere bestreitet, dies getan zu haben.

Der biblische Erzähler flicht nun die zusätzliche Bedingung in das Geschehen ein, daß den Frauen, die gemeinsam hausen, seit den kurz aufeinanderfolgenden Geburten kein Mann beigewohnt habe – damit wird die Möglichkeit, den Bericht eines Zeugen einzuholen, der die Zugehörigkeit eines Kindes zu seiner Mutter vielleicht anhand eines Merkmals belegen könnte, ausgeschlossen.

Wir haben also einen Prozess um die Klage wegen Kindesraubs und Betrugs vor Augen, in dem der amtierende Richter den Fall ohne Hinzuziehen von Zeugen oder eines Abwägens des Aussagewerts von Indizien zur Entscheidung bringen muß.

Es steht Aussage gegen Aussage: Die Aussage der Klageführenden, ihr sei von der anderen der lebende Sohn geraubt und dafür deren in der Nacht verstorbenes Kind untergeschoben worden, ist genauso sinnvoll, plausibel und gut begründet wie die Aussage der Beklagten, das Gegenteil treffe zu, nämlich, in Wahrheit sei das Kind der anderen in der Nacht verstorben, ihr eigenes aber lebe. Wir können mittels Analyse der vorgebrachten Gründe und durch Ausleuchten ihres Hintergrundes – indem wir den Grund der jeweils vortragenden Frau ihren Absichten zuweisen – kein Merkmal ausfindig machen, das eindeutig für die Wahrheit der einen oder anderen Aussage spräche.

Salomons richterliches Untersuchungsverfahren besteht in der Anweisung, den lebenden Sohn vor aller Augen mit dem Schwert zu zerteilen (also zu töten), um ihn „gerecht“ auf die Frauen, die gleichermaßen auf ihn Anspruch erheben, „aufzuteilen“. Die eine Frau erhebt entschiedenen Protest gegen ein solch grausames Vorgehen und will lieber auf das von ihr beanspruchte Kind Verzicht tun, als es töten zu lassen, während die andere mit dem Verfahren einverstanden ist, weil dann zumindest beide Frauen leer ausgehen, zwar auch sie auf ihren vorgebrachten Anspruch auf das lebende Kind Verzicht tun muß, indes mit der Genugtuung, die Rivalin in der gleichen Lage zu sehen.

Salomons Urteil befindet die Frau, die lieber auf das Kind verzichtet, als es tot zu wissen, als die wahre Mutter und billigt ihr den Anspruch auf das Kind zu. Unsere Intuition – und wie der Bericht ausführt, auch die Intuition des biblischen Autors – neigt sich mit Respekt vor diesem weisen Urteil.

Aber können wir nüchternen Bibelleser Licht hinter die Sache bringen und den Grund herausfinden, der das Urteil Salomons wahr macht, oder zumindest das bessere Argument identifizieren, das sein Urteil in hohem Grade wahrscheinlicher macht als sein Gegenteil?

Das scheint einfach zu sein: Der Richter bringt in dem Fall eine implizite Regel ins Spiel und zur Anwendung, die man in etwa so formulieren könnte: Eine Mutter wird eher auf den Besitz ihres Kindes Verzicht tun, wenn es denn weiterleben darf, als es nur tot in den Armen halten zu können.

Die Regel beruft sich demnach auf eine menschliche Eigenschaft, die wir der Mutterliebe zusprechen: unter allen Umständen, auch bei Verzicht auf eigenes Wohlergehen und eigene Interessen, auf das Leben, das Wohlergehen und die Interessen des Kindes bedacht zu sein.

Wir nennen eine solche Regel eine Erfahrungsregel oder pathetisch gesprochen eine Lebensweisheit. Mutterliebe ist ein Erfahrungswert und wir wissen vom Handeln der Mütter, welche Motive, Intentionen, Antriebe wir ihm unterstellen dürfen, um die Eigenschaft dieser Form der Liebe einer Frau rechtens zuschreiben zu können.

Nun sind, und auf diese Beobachtung kommt es uns an, Erfahrungsregeln keine universellen Gesetze, deren Geltung unter allen Umständen und unabhängig von der jeweiligen Situation zutrifft. So ist die Tatsache, daß wir Menschen sterblich sind, ein universelles Gesetz, sodaß gilt: Wen X ein Mensch ist, muß er früher oder später sterben. Wenn aber die sich aus der Mutterliebe ergebenden Eigenschaften kein universelles Gesetz begründen, können wir nicht sagen, daß gilt:

Wenn X eine Mutter ist, wird sie A tun

wobei A bedeutet, eher auf den Besitz des Kindes zu verzichten, als es tot in den Armen halten zu müssen.

Wir könnten uns folgenden Grenzfall denken: In der Nacht starb wirklich das Kind der einen Frau, die andere hat dies bemerkt und tauscht dann heimlich ihr lebendes Kind gegen das tote aus – also nicht das tote Kind wird gegen das lebende ausgetauscht, sondern das lebende gegen das tote, denn die Mutter des lebenden Kindes ist des Mutterseins überdrüssig, sei es weil sie den Sohn wegen einer schweren Kindbettdepression nicht annehmen konnte oder weil sie in ihm nur den verhaßten Erzeuger sieht. Um allen Verdacht zu zerstreuen, führt sie gegen die andere Frau Klage, ihr Kind entwendet zu haben. Dann wird am Ende sie es sein, die mit dem Schiedsspruch, das Kind mit dem Schwert zu zerteilen, einverstanden ist – denn es ist zwar ihr eigenes Kind, aber alle Mutterliebe ist in ihr abgestorben und hat sich in Haß verwandelt. Wenn dann die andere Mutter der Rivalin das Kind großmütig und wie aus wahrer Mutterliebe überlassen will, um sich den Anblick des schrecklichen Teilungs- und Tötungsvorganges zu ersparen, wird ihr wie zur Ironie das fremde Kind als ihr eigenes ausgehändigt.

Wir müssen demnach, weil wir Grenzfälle dieser und anderer Art nicht ausschließen können, die oben angeführte allgemeine Ableitungsformel wie folgt einschränken:

Wenn X eine Mutter ist, wird sie wahrscheinlich A tun.

Oder allgemeiner für alle Personen P:

Wenn P die Eigenschaft F hat, wird P wahrscheinlich eher A tun als nicht-A.

Wenn P dein Freund Peter ist, wird er dir wahrscheinlich eher im Notfalle beistehen, als dich im Stich zu lassen. Es sei denn, Peter erkennt deine Lage nicht als Notlage oder er ist selbst in einer so schwierigen Situation, daß er keinen freien Blick, keinen Atem und keine Kraft hat, dir beizustehen. Ist er laut Regel in diesem Moment nicht mehr dein Freund? Vielleicht geht es ihm übermorgen besser und er entschuldigt sich für sein Versagen oder versucht es wiedergutzumachen.

Die genannten Regeln sind Faustregeln, mit denen wir mehr oder weniger gut fahren und durchs Leben kommen, aber sie gehorchen den weichen Regeln einer informalen Logik, nicht den harten Zwängen einer formalen Logik.

Wir bemerken, daß wir im Alltag auf Intuitionen und implizite Regeln angewiesen sind, die wir uns im Laufe unseres leidgeprüften Lebensweges zurechtgezimmert haben oder die wir aus dem großen Erfahrungs- und Weisheitsschatz früherer Generationen übernommen haben (hier sei die Spruchdichtung der alten Völker beispielhaft genannt, denken wir an die gnomischen Sätze bei den griechischen Tragikern oder Pindar, die Sprüche der biblischen und christlichen Väter oder denken wir an die Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide); dagegen haben wir keinen vollständigen Durchblick oder hinreichendes Wissen, wie es geht und weitergeht. Daher spielen Haltungen wie Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung eine nicht zu unterschlagende Rolle in unserer Weltorientierung: Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob unser Freund sein Wort halten wird, aber wir setzen unser Vertrauen in ihn, wir wissen nicht, ob uns unsere Frau morgen oder gerade jetzt mit einem anderen betrügt, aber wir lassen uns die Hoffnung nicht ohne weiteres rauben und hüten uns vor vorschnellen Verdächtigungen.

Wir sind immer auf dem Sprung, will sagen, wir setzen unseren Fuß immer wieder auf das unbekannte Land der Zukunft. Da kommen wir mit universellen Rezepten nicht weit, denn schon morgen hat uns unser Freund wirklich verraten oder geht die Klarheit unseres Verstandes allmählich zum Teufel. Da ist guter Rat teuer – und ein Salomon nicht immer in Sicht. Und wenn sogar jener weise Richter hätte irren können …

Wir kommen voran, wenn wir uns an gewissen Vorbildern orientieren, von denen wir annehmen, daß ihre Urteile die Zustimmung vieler, wenn nicht aller Einsichtigen oder vernünftigen Leute erhalten. Neben Experten der Wetterkunde und der Behandlung von Krankheiten denken wir vor allem an solche Menschen, die an Lebensweisheit in langen Irrfahrten durch bewältigte Krisen und eroberte Länder der inneren Erfahrung zugenommen haben – hier sind wir wieder bei den Dichtern und Weisen und ihren tradierten Sprüchen und Sentenzen.

Aber drehen wir uns so nicht im Kreise – müssen wir nicht, wenn wir diesem und jenem ein gerüttelt Maß an vernünftiger Einsicht zusprechen, zuvor ausgemacht haben, was das ist: Vernunft und Einsicht, um sie gültig und bedachtsam diesem und jenem zusprechen zu können?

Nun, dies ist gerade der Zirkel des rechten Verstehens, aus dem wir nicht ausbrechen können. Es geht nur peu à peu, durch Versuch und Niederlage und erneuten Versuch, auf Umwegen, durch Verstrickungen und Lösungen. Immerhin kommen wir durch sprachliche Erfahrung auf „letzte“ Konzepte und institutionelle Begriffe wie das Versprechen, die Freundschaft, die Liebe oder die soziale Ordnung der Gemeinschaft. Wir lernen, wie wir den Begriff „Freund“ anwenden, doch können wir nicht alle Umstände antizipieren, die seine Anwendung rechtfertigen – oder falsifizieren.

Zuletzt bleiben wir mit uns allein: Im Angesicht des Bildes, das wir uns von uns selbst gemacht haben, das wir andere haben uns zurückgeben und widerspiegeln lassen – wie das Bild eines „guten“ Menschen oder eines „schlechten“ Menschen, denn gewiß können wir gut sein wollen, indem wir unsere Versprechen halten, den Freund nicht verraten oder für die geliebten Mitmenschen sorgen; aber wir können auch schlecht sein wollen, indem wir auf betrügerische und parasitäre Weise auf emotionale und materielle Kosten anderer leben: Nichts daran ist inkonsistent, keine universelle moralische Norm oder Regel könnte unseren Willen a priori steuern oder außer Kraft setzen.

Doch mit uns allein, in der Einsamkeit hoher Stunden, der Einsamkeit des Alters, ein freundliches Selbstbild hinter dem Nebel der Vergangenheit durchschimmern zu sehen oder auf eine monströse Fratze zu stoßen, macht wohl einen Unterschied.

Doch am Ende verblaßt auch dies, und sterben heißt, ins Bildlose entschwinden.

Kommentar hinterlassen

Note: XHTML is allowed. Your email address will never be published.

Subscribe to this comment feed via RSS

Top