Das Phantasma und die Leere
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Das oft oder meistens mittels Formen der Zerstreuung und Unterhaltung oder forcierter Arbeit verdeckte Gefühl für die Fremdheit – die eigene und die der Welt – ist ursprünglich gegeben und uns eigen, weil es der Struktur des personalen Bewußtseins entspringt, nämlich man selbst und zugleich nicht man selbst zu sein, sich gleichsam von innen und zugleich von außen zu sehen. Um das Gefühl der Fremdheit mithilfe eines Surrogats loszuwerden, wenn auch nur auf eine gestundete Zeit bis zu seiner krisenhaften Auflösung, deuten wir die Fremdheit als eine Art innere Leere, die durch ein Phantasma, ein Supplement des infantilen Phantasmas der mütterlichen Imago, ausgefüllt werden kann.
Der Zwiespalt des personalen Bewußtseins, man selbst und zugleich nicht man selbst zu sein, zeigt sich unter anderem darin, daß wir all das, was wir fühlen, denken und glauben aussprechen können, die Sprache aber kein Konstrukt und keine Projektion unserer mentalen Fähigkeiten, sondern ein angeeigneter Fremdkörper, nämlich eine über Jahrhunderte gewachsene soziale Institution darstellt.
Kleist drückt den Zwiespalt im personalen Bewußtsein in seinem berühmten Aufsatz über das Marionettentheater in dem Sachverhalt aus, daß wir die ursprüngliche Anmut der Geste, des Ausdrucks, der Bewegung, wie sie der Unmittelbarkeit der Marionette eignet, verloren haben; indes ist, so meinen wir, das Bild der Unmittelbarkeit und Anmut im Ausdruck der Marionette eben jenes Phantasma, mit dem wir den leeren Zwischenraum des Bewußtseins vergebens zu füllen versuchen.
Wir treffen auf den Zwiespalt auch in der Verdoppelung des Bewußtseins, die Welt als Spielraum unserer Subjektivität und zugleich als neutralen und objektiven Ort von Dingen und Ereignissen, ja uns selbst als empfundene Totalität und zugleich als Ding unter Dingen wahrzunehmen.
Am fühlbarsten wird, was wir meinen, vielleicht im technischen Weltumgang, der im Begriff ist, immer weitere Felder der Intersubjektivität zu durchsetzen oder zu ersetzen: Wir handhaben das Smartphone, aber folgen seinen Anweisungen, wir führen die Maschine als Instrument unserer Zwecksetzung, und zugleich führt sie uns, und weit über unsere individuellen Zwecke hinaus.
Wir sind im Gespräch und Umgang mit dem anderen und zugleich unaufhebbar bei uns selbst.
Eine der Faszinationen der revolutionären Massenbewegungen scheint in der Illusion zu liegen, durch Unterwerfung unter das Charisma ihres Führers oder die von ihnen verkörperten Ideale im Strom des Kollektivs untertauchen, mit ihm verschmelzen und den Zwiespalt loswerden zu können.
Von den Chören der Engel, in deren hymnischen Gesang sich der Erlöste und Erwählte einstimmt, bis zu den Jubelchören im Fackelschein unter den Balkonen des Herrschers ist es wohl ein großer Sprung, doch einer auf derselben anthropologischen Ebene.
Formen und Methoden der Aufhebung und Auflösung des konstitutiven Zwiespalts des personalen Bewußtseins zu ersinnen, war ein elementarer Antrieb vor allem der idealistischen Philosophie; man denke an die universale Monas des Leibniz, das absolute Ich Fichtes oder das absolute Wissen Hegels.
Die Lust an der Entweihung ist gleichursprünglich mit dem, was Menschen als heilig, schön und erhaben verehren.
Satan scheint manchmal eínem Heiligen wie aus dem Gesicht geschnitten. – Die dämonische Schönheit bei Milton und Baudelaire.
Die Faszination des Häßlichen und des Bösen rührt aus seiner Macht, die Strahlungen des gesunden, schönen Lebens zu verdunkeln.
Der Triumph des Bösen, Gebilde, die über lange Zeit emporwuchsen oder mit großer Mühe, Verstandeskraft und ästhetischer Sensibilität errichtet wurden, einen alten Eichenhain, eine wundersam verschlungene Laube, einen Garten mit Beeten, Sträuchern und Obstbäumen, einen Tempel, eine Kirche oder Kapelle dem raschen Verzehr der Flammen anheimzugeben.
Die Schändung von Grabmalen und heiligen Stätten, das Verbrennen von Ikonen – Formen der Desakralisierung, die bösartig sind, nicht bloß, weil sie destruktiv sind und vernichten, sondern ihren dämonischen Reiz aus der Vernichtung des Hohen, Erhabenen, Göttlichen schöpfen.
Der revolutionäre Impuls im Ikonoklasmus der Puritaner, Sansculotten, der Bolschewisten, der Roten Garden.
Der Haß auf das vornehme Leben, den Adel, den Reichtum erlangt eine perverse Freude, wenn er ihre Villen und Schlösser, ihre Bilder und Bücher vernichtet, deren Schönheit und Brillanz die eigne Dürftigkeit und Armseligkeit umso bewußter fühlen läßt.
Der Häßliche kann den wohlgeformten Leib, das schöne Angesicht, das feuchte Feuer der Augen nicht ertragen. Er ist besessen vom Phantasma eines ihm unerreichbaren Glücks.
Die Lust an der Deformation, Zergliederung und Entstellung der menschlichen Gestalt in der modernen Kunst.
Hitler, Goebbels, Göring, die sich gegenüber der strahlenden Imago und dem leuchtenden Phantasma der schönen, blonden Bestie angesichts ihrer eigenen Gebrechen und Defekte als minderwertig fühlten, taten alles, ihre Verkörperung, die männliche Jugend des eigenen Volkes, im großen Opferbrand des Krieges der Vernichtung preiszugeben.
„Schaut doch, die Welt ist ein Ort der Verwüstung und Verwesung, das Leben sinnlos, der menschliche Geist von Grund auf verwirrt, die Seele polymorph-pervers und von Jugend auf dem Bösen geneigt – also kann die Kunst, soll sie wahrhaftig sein, nicht schön, sondern muß schmutzig, häßlich, provozierend abschreckend sein“, sagen die Philister des marktkonformen Nonkonformismus, deren parfümierter Verwesungskitsch zu Höchstpreisen versteigert wird.
Die Perversionen modischer Selbstentstellung und masochistischer Selbstverstümmelung werden als Rebellion gegen die bürgerliche Gesellschaft und hilfloser Aufschrei der von ihr Traumatisierten verklärt und vermarktet.
Die Fleurs du mal und ihre Düfte, die nicht Bienen locken oder Falter zu befruchtender Bestäubung, sondern unversehens Passanten betören und betäuben, in einem Maße, daß sie vergessen, zu welchen Zielen sie aufgebrochen sind, und wie Trunkene auf dem Rasen niedersinken, um mit offenen Augen von einem Paradies der Ruhe, Schönheit und Wollust zu träumen, während auf der Bank in ihrem Rücken ein einsamer Greis röchelt und in Agonie fällt.
Die Idylle der Vorgeschichte mündet nach der tiefsinnigen Erzählung der Genesis in die historische Existenz, die nicht nur von der Mühsal und Plackerei unter Disteln und Dornen, den Wehen der Geburt und der Angst vor dem Tode, sondern auch vom Einbruch des Bösen in Gestalt des Brudermordes gekennzeichnet ist.
Die Utopien der Nachgeschichte, ob im Chiliasmus des Mittelalters, den eschatologischen Heilsbewegungen der Reformationszeit oder den faschistischen und kommunistischen Idolatrien eines neuen Menschen, sie alle trugen das Gift mörderischer Instinkte in sich, die sich in terroristischen Exzessen der Auslöschung der Ungläubigen und Unwürdigen ausgetobt haben.
Die beißende, schäumende, funkelnde Intelligenz des Bösen, wie sie die großen Vernichter de Sades bekunden.
Im Sadismus finden wir die Lust an der Erniedrigung, Entstellung und Vernichtung um ihrer selbst willen; in den im Terror der Auslöschung gipfelnden sozialrevolutionären Bewegungen des 20 Jahrhunderts versteckt sich das Böse hinter den Masken des guten Willens, den Parolen von Gleichheit und Gerechtigkeit.
In der verführenden Rede, wie jener des Mephistopheles an Faust, bringt sich der böse Wille mittels der Irreführung des anderen durch die Lüge zur Geltung, Lüge, die ihn an seinen Grundüberzeugungen, am Sinn des Lebens, ja an seiner Identität irre werden läßt. Die irreführende Lügenrede zieht den Irregeführten an den Rand eines Abgrunds, und der Schwindel der Angst, der ihn ergreift, macht ihn geneigt, statt des Normalen das Abnorme, statt des Guten das Perverse zu fühlen, zu denken, zu tun.
Die pervertierte Sprache ist unfruchtbar wie die Sexualität des Perversen.
Der Wahrheit als Frucht der normalen Sprache entspricht das Kind als Frucht der normalen Sexualität.
Das Phantasma ist die Scheinfrucht der perversen Sprache.
Die Intelligenz des Bösen zeigt sich in den raffinierten rhetorischen Techniken zur Übersteigerung, der metonymischen Verzweigung und metaphorischen Verdichtung, des Phantasmas.
Die verführende Rede des Mephistopheles überhöht in den Augen des verführten Faust die banale Existenz des Bürgermädchens Gretchen durch die Aura jener mythischen Bilder, in denen Helena erscheint. Helena ist das Phantasma der Margarete in der perversen Rede des Mephistopheles.
Die böse Absicht der perversen Rede des Mephistopheles verwirklicht sich dadurch, daß sie die Rede des Faust mit ihrem Phantasma infiziert, und Faust seinerseits das Phantasma auf Gretchen überträgt, die dafür mit ihrem Untergang büßen muß.
Das Phantasma der perversen Rede eines Hitler oder Goebbels hieß „Ratte, Parasit, Jude“, das Phantasma der perversen Rede eines Lenin oder Stalin „Aristokrat, Bourgeois, Kulak“.
Der schlechte Schüler wird vom Lehrer korrigiert, wenn er einen Satz verpatzt, indem er die Grammatik verletzt oder eine schiefe Metapher verwendet. Die perverse Rede kann auf solche Weise nicht korrigiert oder kritisiert werden, denn der Rhetor der Vernichtung befleißigt sich einer grammatisch untadeligen Ausdrucksweise und einer geradezu raffinierten Hyperbolik des metaphorischen Ausdrucks.
Das böse Mädchen reißt der Puppe den Arm ab, durchsticht ihre Augen mit einer Nadel, zündet ihre Haare an; der böse Junge quält die Katze, indem er sie in eine enge Kiste steckt und in sie heißes Wasser einleitet. Der Frauenmörder verwandelt sich in ein wildes Tier, indem er (wie in der Erzählung „Der Hahnenkamm“ von Friedrich Georg Jünger) die monströse Maske eines Hahns überstülpt und nach Gockelart scharrend und krähend junge Mädchen an dunklen Orten angeht. – Ist es, wie hausbackene Psychologie annimmt, unerfülltes, verletztes, traumatisiertes Liebesverlangen, was die Täter zu ihren Taten motiviert? Doch den übersättigten Leonce in Büchners Lustspiel kitzelt es, aus lauter Überdruß und Langeweile die Sterne wie Luftballons vom Himmel zu schießen.
Die Kreativität des Bösen, wie sie sich in der Erfindung von immer raffinierteren und effizienteren Techniken der Vernichtung zeigt, von den Kreuzigungen der Antike über die Daumeschrauben und Streckmaschinerien des Mittelalters bis zur Verwendung von tödlichen Chemikalien in den Lagern; die schauerliche Phantasie und der Einfallsreichtum in der Erfindung von Foltermethoden wie der Rattenkammer der Bolschewiken oder des tropfenden Wasserhahns der Chinesen.
Wie kreativ aber ist die künstlerische Phantasie eines Dante oder Poe, die immer neue Variationen und Monstrositäten ersinnen, wie das Opfer erniedrigt, gequält, zum Verstummen gebracht werden kann.
Wenn der Hang zur Grausamkeit eine anthropologische Konstante ist, wie seine Kontinuität durch alle Zeitalter unter Beweis stellt, zeugt die moralisch hochgestelzte Sonntagspredigt darüber, daß die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, und wir dem Bösen durch sanfte Pädagogik und radikalen Umbau aller Institutionen endlich den Nährboden entziehen müssen, von begrifflichem Unsinn, der wohl hübsch glänzen mag, aber nur wie blechernes Falschgeld.
Die Möglichkeit, das Unwahre zu behaupten, ist eine strukturelle Fähigkeit der menschlichen Sprache; die Möglichkeit, das Böse zu tun, eine strukturelle Fähigkeit der menschlichen Person.
Man kann die böse und grausame Tat nicht pauschal auf einen Mangel an Empathie von Seiten des Täters zurückführen; die neue Folterwerkzeuge erfinden und anwenden, um ihre Opfer zu quälen, haben ja ihren Qualen vorgefühlt und vorgedacht.
Böse Taten sind vielfach kein Ausfluß mangelnden moralischen Bewußtseins, sondern im Gegenteil Ausdruck einer Hypermoral, wie sie sich etwa im Tugendterror der Revolutionäre von 1789, der RAF oder von 9/11 geäußert hat.
Die böse Tat erklärt sich bisweilen aus dem Trieb, die Leere, die Fremdheit des In-der-Welt-Seins, gewaltsam mit dem Phantasma einer erträumten Nähe zu füllen.
Das Phantasma einer Befriedung der Welt mittels globaler Angleichung und moralischer Überwachung treibt die Unterworfenen der Pax universalis zu Aufständen und neuen Bürgerkriegen und macht aus treuherzigen Pazifisten engstirnige Bellizisten.
Die böse Tat kann auch als wahnhafter Versuch verstanden werden, die uns qua Geburt übermachte oder angewachsene Fremdheit des Daseins durch einen Gewaltstreich oder Coup d’état auszuräumen.
Das erwachsene oder ernüchterte Denken hat das metaphysische Phantasma aufgelöst und aufgegeben, wonach wir durch eigne Anstrengung, kollektive revolutionäre Tat oder auch dank göttlicher Gnade oder der Wiederkunft der Götter, geschweige denn der Ankunft eines messianischen Weltenretters, aus dem düsteren Wald der Entfremdung in die offene Lichtung einer gegen alle Gefahren und Erschütterungen abgesicherten Heimat gelangen könnten.
Sicher, wir können auf Erden „dichterisch wohnen“, wenn wir der Vorstellung das prophetisch-messianische Pathos nehmen; denn dazu genügt es, den Tisch mit Blumen zu schmücken, Freunde zu bewirten und einen guten Tropfen aus dem Keller zu holen oder vor dem Bild der Verstorbenen eine Kerze anzuzünden.
Der Zweck des vegetabilen und animalischen Lebens ist sein Fortleben in der nächsten Generation, belehrt uns der Evolutionsbiologe, und die Organe der Pflanzen und die Verhaltensprogramme der Tiere scheinen der Erfüllung dieses Zwecks untergeordnet zu sein; doch es gibt einen Überfluß in der Schönheit der Blumen und in der Gestaltenfülle der Tiere, die uns über die triviale Zweckerfüllung der Vermehrung hinauszugehen scheinen.
Auch wenn wir annehmen, daß der genetisch verankerte biologische Zweck der Fortpflanzung auch Menschen zukommt, kann er nicht mittels instinktsicherer Ausführung ererbter Verhaltensprogramme erlangt werden: Die Nachteile der frühen Geburt und die Instinktunsicherheit des Menschen erfordern den Schutz und die Erziehung des Kindes in einer nicht nur natürlichen, sondern sozial geprägten Institution, der Familie, die keine Brutstätte, sondern eine Form der Kommunikation zwischen Eltern und Nachkommen darstellt.
Die Erfahrung der Fremdheit und Leere infolge der Geburt fangen elterliche Fürsorge und familiäre Häuslichkeit auf; das Kind entwickelt das Phantasma der Geborgenheit vor allem anhand der mütterlichen Imago, das die Leere ihrer Abwesenheit zu füllen vermag. Doch muß das Kind nach und nach das infantile Phantasma der Fülle aufgeben, wenn es sich den anderen, dem Vater und den Geschwistern, und hernach den Freunden und Schulkameraden, zuwendet.
Erfolgt aufgrund der Pubertät eine Zuwendung zum anderen Geschlecht, ist die Bahn, den engeren Kreis der Familie und der Herkunft zu verlassen, schon eröffnet; der Wunsch, das Eigene zugunsten des Fremden aufzugeben, ist bei männlichen Jugendlichen oft mit einer Abwehr der Werte und Gepflogenheiten des Herkunftsbereichs verbunden, der sich bis zur Ablehnung und trotzigen Verwerfung alles Hergebrachten steigern kann. Hier finden wir den Entstehungsherd eines neuen Phantasmas, das bisweilen die grelle Färbung des Exotischen, Utopischen oder Radikalen annehmen kann. Das pubertäre Phantasma dient dem Zweck, die Leere und Fremdheit einer gleichsam metaphysischen Heimatlosigkeit zu kompensieren. Unschwer erkennbar ist, wie es sich politisch instrumentalisieren läßt.
Das Stigma der menschlichen Geburt ist die Einsamkeit.
Das pubertäre Phantasma aufzugeben verlangt die Reifung zu der Einsicht, daß die Fremdheit des Daseins unaufhebbar ist und die Leere der todgeweihten existentiellen Einsamkeit mit keinem noch so faszinierenden Idealbild gefüllt werden kann.
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