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Das leibhaftige Ich

14.01.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen über das inkarnierte Selbst

Die Ausdrücke „mein Buch“, „mein Garten, „meine Heimatstadt“ oder „mein Freund“ gehorchen einer anderen Grammatik der Verwendung als die Ausdrücke „meine Hand“, „mein Gesicht, „mein Leib“ oder „meine Erinnerung“.

Ich kann meinen Freund im Getümmel mit deinem Freund verwechseln, aber nicht meine Erinnerung mit deiner Erinnerung.

Ich kann in meinem Porträt das Bild eines Fremden sehen, aber die Träne auf deiner Wange nicht mit demselben Gefühl der Trauer oder Erschütterung wie die Träne auf meiner Wange spüren.

Wenn ich sage: „Das Auto kam knapp vor mir zum Stehen“, meine ich, daß der Wagen haarscharf vor meinem Körper anhielt.

Ich kann in grammatisch ausgezeichneten Sätzen die Ausdrücke „ich“, „mir“ und „mich“ durch die Ausdrücke „mein (meinem/meinen) Körper“ ersetzen.

In einer objektiven Weltbeschreibung kann ich zwei Objekte derart in Raum-Zeit-Koordinaten eintragen, daß die schnelle Bewegung des einen abgebildet wird, die vor dem anderen anhält. Doch findet sich keine objektive Methode der Projektion, sodaß die Ausdrücke „ich“ oder „mein Körper“ genau einem dieser Objekte zugeschrieben werden könnten.

In der wissenschaftlichen Weltbeschreibung können wir für den Fahrer des Wagens den Ausdruck „menschlicher Organismus“ mit der ihn identifizierenden DNA-Sequenz und für den Fußgänger den entsprechenden Begriff mit der diesen identifizierenden DNA-Sequenz einführen und definieren.

Doch die Ausdrücke „menschlicher Organismus mit der ihn identifizierenden DNA-Sequenz“ und „mein Körper“ sind weder semantisch gleichwertig noch grammatisch äquivalent.

Das Ich oder Selbstbewußtsein ist keine spirituelle Aura um einen objektivierbaren Gegenstand, sondern die Art und Weise, wie eine Seele verleibt oder inkarniert ist: Wenn ich dir entgegenlächle, weil du meiner Einladung zu einem gemeinsamen Spaziergang gefolgt bist, tust du gut daran, mein Lächeln nicht als Verzerrung meiner Gesichtsmimik aufgrund neuronaler Impulse zu beschreiben, sondern es als seelischen Ausdruck zu lesen und als gestische Mitteilung und kommunikatives Zeichen meiner Gestimmtheit zu verstehen.

Hättest du mich lange warten lassen, könntest du meine verdüsterte Miene ohne weiteres als Zeichen der Mißstimmung und Mißbilligung lesen und verstehen.

Ich kann dir mein Buch ausleihen, aber nicht meine Hand.

Meine Hand ist nicht in dem Sinne mein Eigentum, wie es mein Buch ist.

Seinen Körper zu vermarkten oder zu prostituieren ist ungeachtet moralischer Erwägungen eine Verletzung des Eigenwertes subjektiven Daseins.

Die Inkarnation des Selbst oder die Verbindung von menschlichem Leib und Seele ist eine wesentliche und notwendige Verbindung und nicht wie sowohl Idealisten als auch Materialisten unterstellen eine kontingente und zufällige. Nach Platon und der Lehre von der Wiedergeburt indes kommt die Seele erst nach dem Verlassen des Körper-Gefängnisses zu sich und kann in beliebigen Körpern wieder inkarnieren, während sie der Materialist als zufälliges evolutionäres Nebenprodukt neuronaler Prozesse auffaßt.

Ich kann von meinem Leben reden, nicht so das Tier. Und anders als dieses kann ich es seiner überdrüssig wegwerfen oder einem höheren Wir aufopfern.

Tiere sind Exemplare ihrer Gattung, nicht so wir, die gleichsam singuläre Hohlräume oder Unterbrechungen der Leere im dichten Sein des natürlichen Gattungswesens bilden.

Das Tier ist in der Nahrungsaufnahme, dem Kampf, der Flucht und der Zeugung ganz erfüllt vom Leben der Gattung, durchsichtig auf das Dasein des Allgemeinen, nicht so der gleichsam ins Zwielicht von Sprache und Bewußtsein getauchte Mensch.

Die zärtliche Hingabe des Eros, das Geschenk, das Versprechen, das Gespräch oder der Gesang sind genuine Formen der Gemeinschaft von Ich und Du, die das Tier nicht kennt. Dies gilt auch für ihre Negationen, die Gewalt, den Raub, den Verrat und das Schweigen.

Der Soziologe muß methodisch die Singularität des inkarnierten Selbst ausklammern, um die Allgemeinheit von Aussagen über das Leben von Gruppen unter der institutionellen Kraft von Gewohnheiten, Regeln und Gesetzen zu gewinnen.

Das Leben in sozialen Gruppen stülpt dem inkarnierten Selbst aus der kalten Hand des Schicksals jene Maske über, in der sich die gleichsam naturwüchsige Macht der Klassifikation der Individuen in Geschlechter, Rassen, Klassen, Rangordnungen, Berufe und funktionell homogene Einheiten widerspiegelt.

Das soziale Leben – jenes Theater der Grausamkeit.

Verborgen wie die Eule im dämmernden Laub hausen die alten Götter, aus dem Blut der Leidenschaft gestiegene Dämonen, die nach den Opfergaben der Erinnerung lechzen.

Pietas heißt jene Göttin, die mit den Geisterstimmen der Ahnen den Lebenden in den Traum spricht, den keine Psychoanalyse entwirrt.

Die Verwachsenheit von Seele und Leib hat ein Bild im Eigennamen, diesem zugeflogenen flatus vocis, der wie ein Hund auf der Schwelle lauert und aufspringt, wenn man ihn ruft.

Nur wir als selbsthafte Wesen erfassen mit den Begriffen von Ich und Du, Mein und Dein den Begriff von Schaden und Schädigung, der von der Verletzung über den Diebstahl und Raub bis zur Beleidigung und Verleumdung sich spannt, und mit dem Gegenbegriff der Entschädigung den Keim des Rechts, seiner Rituale und Institutionen erschließt.

Ich und Du können ineinander verstrickt sein, als würde eine Kletterpflanze auf dem Rücken eines Baumes in die Höhe und zum Licht streben, und das Laub des Baumes verliert an Fülle und seine Früchte verkümmern. Doch werden die tragenden Äste und Arme schlaff, sinkt auch das Leben des Efeus, verblassen die Blüten der Winden.

Der Parasitismus der animalisch umschlungenen Seelen kennt ein Antidot in der Minne oder der Geduld der Liebe: „Und die Liebsten nahe wohnen, sehnsuchtsvoll, ermattet, auf/Getrenntesten Bergen …“

Es ist bedeutsam zu gewahren, daß die Geltung logischer Konsistenz mit dem Erwachen des Selbst gleichursprünglich ist: Ich kann (nicht im physischen, sondern logischen Sinn von Können) dich nicht herbeirufen und gleichzeitig erwarten, daß du weggehst, ich kann dich nicht wegschicken und gleichzeitig erwarten, daß du dableibst. Dabei setzt das ironische oder theologische Spiel mit der logischen Konsistenz („Je heftiger ich dich abweise, umso näher bist du mir“) ihre basale Geltung voraus.

Die logische Konsistenz waltet auch in der Symmetrie der gegenseitigen Zuschreibung von Absichten und der Erwartung ihrer Erfüllung. Du erwartest von mir die Einlösung eines Versprechens im Lichte dessen, daß es seine Gültigkeit durch die Absicht erhielt, es in der Tat einzulösen. Desgleichen verwirkt die Äußerung einer Zusage bei gleichzeitiger Absicht, sie nicht einzuhalten, aufgrund der Inkonsistenz von Intention und Aussage ihre Gültigkeit.

Das Dasein des Selbst ist in der Welt objektiver Tatsachen der Natur ein Mysterium, das mittels jener Methoden, die zur Erklärung der natürlichen Tatsachen entwickelt worden sind, auflösen zu wollen, widersinnig und absurd ist.

Sterben ist im Lichte des Selbst kein tierisches Verenden.

Der Tod vermag einen Schatten der Vergeblichkeit und des Grauens auf das durch Erinnerung und Erwartung immer tiefer in die Zeit verwobene und sich verlierende Ich zu werfen, ein meist mäßiger Schwimmer auf dem Strom der Vergängnis, der infolge zufließender Quellen aus Versagungen, Verlusten, Abschieden mehr und mehr anschwillt und den ohnmächtig Rudernden schließlich mitreißt, ehe er auf den entscheidenden Katarakt zustürzt.

Der Ursprung subjektiven Daseins, die Basis von Absicht, Erinnerung und Besinnung, ist das vage, dimensionslose und gleichsam träumende Selbstgefühl, noch vor aller Absicht, Erinnerung und Besinnung.

Es gibt nichts zu entdecken, nichts anzueignen, nichts zu behaupten, dieser Grund ist leer, doch unerschöpflich, wie zwischen den Klängen eines plätschernden Wassers die Stille und Leere, die wir mit einem kontinuierlichen Rauschen füllen, das sich in uns, in das wir uns verwandeln.

Man fühlt sich gleichsam wiedergegeben im weichen Beben der Lippen, zwischen denen wir Bruchstücke irgendeines naiven Liedes strömen lassen, vertrauend auf die Wiederholung der Töne, den Refrain im monotonen Rhythmus der Form.

Wir verbinden das subjektive Dasein nicht mit einem Zweck, einer Relevanz, einer Bedeutung, deren Formel oder Essenz es zu entschlüsseln und mitzuteilen gelte wie die DNA des individuellen Organismus. Darin gleicht es dem Kunstwerk, an dessen Schönheit wir uns interesselos erfreuen.

Von den Dramen seiner sozialen Anstrengungen und den Tragikomödien seiner moralischen Verwicklungen mag das exponierte Selbst eins ums andere Mal in die Abenddämmerung und den verwilderten Garten eines stillen Insichlauschens zurückkehren.

 

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