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Das Leben erzählen

22.03.2017

Sentenzen und Aphorismen von vorletzten und letzten Dingen

Tiere haben keine Biographie; nur Menschen haben Biographien, denn sie erzählen sich ihr Leben.

Erzählungen umfassen verschiedenste Typen oder Muster oder Gattungen: Einer berichtet von einem Unfall, dessen Zeuge er war; einer beschreibt die Atmosphäre der Stille und Erhabenheit, die er bei seiner Wanderung durch den Hochwald erlebte; einer schildert die Abgelegenheit und Verwunschenheit von Dorf und Garten seiner Kindheit; einer beichtet seinem Freund einen Akt der Untreue gegen seine Frau; einer klagt am Stammtisch seines Vereins über den Ärger mit den Kollegen; einer ahmt vor seinen Kollegen komödiantisch das arrogante Gebaren des Chefs nach; einer stimmt vor seinen Studenten das Loblied seines alten Professors an; einer bekennt vor seiner Tochter seine Schuld, sie in ihrer Jugend vernachlässigt zu haben; einer schmeichelt seiner Angebeteten mit einem Preis ihrer Schönheit, Anmut, Seelengröße.

Bericht, Beschreibung, Schilderung, Beichte und Bekenntnis, Klage, Nachahmung oder Preis, auf die wir anspielten, bilden einen Ausschnitt aus der Fülle oder dem Repertoire epischer Muster, mit denen wir unser Leben erzählen.

Wir ahnen die kontinuierlichen Übergänge solcher alltäglichen Vortragstypen zu den ausgereiften, subtilen und artifiziellen Mustern der Darstellung, wie sie uns in Prosa und Poesie begegnen: Kurzgeschichte, Novelle, Anekdote, Schelmenroman, dramatisches Intermezzo, Stehgreifkomödie, Elegie und Klage, Preislied und Hymnus.

Unsere Erzählungen sind immer Teil von Reden und Wechselreden und Widerreden, die unseren Umgang mit anderen kennzeichnen; von daher gewinnen sie eine kommunikative Bedeutung: Wir wollen jemanden unterhalten, amüsieren, beeindrucken, verblüffen, irritieren oder in unserem Sinne beeinflussen; manchmal wollen wir damit auch unser bisweilen fragwürdiges oder überraschendes oder vor den Kopf stoßendes Verhalten rechtfertigen.

Manchmal erzählen wir, um uns klar zu machen, was wir erlebt haben; wenn dem Zuhörer das Erzählte plausibel und kohärent erscheint, dann am Ende auch uns selbst.

Wir erzählen bei einer Gelegenheit dies, bei einer anderen jenes, wir erzählen dem einen etwas, dem anderen etwas anderes, ohne uns groß darum zu kümmern, ob und inwiefern ein roter Faden durch die verschiedenen Erzählungen geht, ob sie in einem größeren Muster wie die bunten Steinchen eines Mosaiks sinnvoll zusammenstimmen.

Und doch gibt es wenn auch manchmal uns selbst verborgene Muster, die sich wie ein Leitfaden durch mehrere, viele oder gar all unsere Erzählungen durchschlingen. Wir nennen sie Motive – analog zu den großen tragenden Motiven, wie wir sie aus der Dichtung kennen. Der Zorn des Achilleus ist das tragende Motiv der homerischen Ilias, die Rache der Krimhild ein tragendes Motiv des Nibelungenlieds, der Fluch über das Geschlecht der Labdakiden das Motiv der sophekleischen Tragödien von Ödipus und Antigone, Hybris und Verblendung das Motiv der Erzählungen Herodots über den Untergang und die Niederlage der Meder und Perser; Größenwahn und Selbstsucht das Motiv der Tragödie von Faust und Gretchen; Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies das Motiv des Heinrich von Ofterdingen; Sehnsucht nach kontemplativer Katharsis das Motiv in Stifters Nachsommer; auch unsere Märchen sind von tragenden Motiven durchwebt, sie werden dort verkörpert wie in der finsteren Gestalt der bösen Hexe oder der lichten der guten Fee; und wie viele andere Motive ließen sich aufzählen.

Wir spüren solche Motive leicht auf, wenn in den Erzählungen des Freundes oder der Geliebten oder des Anvertrauten oder des Klienten immer wieder dieselben Situationen, Begebenheiten, Namen auftauchen: Da ist es der übermächtige Vater, dessen Schatten der Sohn nicht loswird und der ihm das Lebensmotiv der vergeblichen Suche nach Reife und Autonomie vererbt hat; da die kaltherzige Mutter, die das Motiv der Suche nach Wiedergutmachung und Heilung eingeprägt hat; da ist es der ältere Bruder, der als Prinz der Familie im Licht der Aufmerksamkeit, Bemutterung und Fürsorge stand, während die Tochter sich in die Rolle des Aschenputtels hineingeschämt hat und vom Beweggrund des Neids und der Mißgunst angetrieben immerfort nach Gelegenheiten der Vergeltung lechzt; wir kennen den durch körperliche Konstitution und demütigende Erfahrungen an die Wand gedrängten Ohnmächtigen, dessen treibendes oder zwanghaftes Lebensmotiv ihn nach der Schwäche anderer schielen läßt, um sich durch Taten der Überwältigung und Vergewaltigung an ihnen schadlos zu halten; wir kennen auch die Narzissen-Aureole, die das von der Mutter idealisierte Mädchen umgibt und es ein Leben lang drängt, das Rampenlicht zu suchen, und den Applaus der von seiner Schönheit, seiner Ausstrahlung, seinem Talent Faszinierten, Geblendeten oder Verführten.

Natürlich zeugt der Zwang, Freunden und Bekannten immer wieder mit denselben Passions- und Opfergeschichten in den Ohren zu liegen, oftmals von einer echten Wunde, die sich nicht schließen will. Es kann aber groteskerweise auch eine Modekrankheit sein, die sich darin zur Geltung bringt, sein Leben als Passion und Leidensgeschichte zu erzählen: Wird doch von einer Pädagogik und Ästhetik, auf denen kein Segen ruht, der Typus des bluttriefenden Opfers, der gequälten Kreatur und des Gescheiterten, der da sein Lamento nackt und schamlos aus Leibeskräften herausbrüllt oder sein Todesröcheln lyrisch psalmodiert, immerfort gefeiert und ins Rampenlicht gerückt, ihm gilt voyeuristisch alle Aufmerksamkeit, er ist der  dramatisch effektvoll platzende Madensack und die abgerissene Charge des heulenden Elends, der stinkende und geschwätzige Menschenrest im Neonlicht namens Klein-Hiob, Bettnässer-Hamlet und Laborratten-Woyzeck, um den großes Theater und schrille Oper gemacht werden, vor ihm verfällt die Kritik in masochistische Demutsstarre und ihm schickt ein im Morast der Selbstbezichtigung versinkendes Publikum noch eine letzte Kußhand nach.

Dagegen wissen wir um die hart erkämpfte Haltung des Genies des Lebens und der Erkenntnis, das die Erzählung seines Lebens soweit es geht von solchen verführerischen Anfechtungen freizuhalten versteht; so mag ihm wie Goethe die freie dichterische Gestaltung auch der bedrängendsten Lebensmächte oder wie Wittgenstein ein Ringen um innere Klarheit und Reinlichkeit und Luzidität des Gedankens gelingen – um den Preis fortgesetzter schmerzlicher Häutungen und Metamorphosen.

Wir kennen auch die fade Lymphe des antriebslos mit dem Zeitgeist auf- und niederschwappenden hohlen Menschen, der nichts Eigenes zu erzählen hat, dessen Schädel aber immerfort widertönt von den Phrasen, die ihm die gekaufte Souffleuse des Feuilletons und der schiefe Mund des Modedenkers einflößen.

Gewiß souffliert unsere leibliche Verfassung über Krankheiten, leptosome, athletische oder pyknische Konstitutionen zu seelisch-geistigen Anfälligkeiten wie Psychosen oder manisch-depressiven Leiden oder unsere synästhetische Empfänglichkeit uns Motive und Leitmotive, die sich oft ein Leben lang durchhalten und ein stabiles Muster erzeugen. Der kurzsichtige, leptosome Typus wird kein großer Weltumsegler, sondern sich in irgendeiner Innerlichkeit einhausen, materieller und geistiger Natur, die ihm Sicherheit gibt – es sei denn die brüchige Wand der Geborgenheit fängt an zu rieseln und wird von einem psychotischen Wahn durchbrochen. Der matronenhafte Schmollmund wird sich nicht zur Prinzessin auf dem Eis entpuppen, sondern intime Häuslichkeit und eine Beschaulichkeit leben, in der lukullische Genüsse großgeschrieben werden.

Nicht minder herrschsüchtig zeigen sich Talente und Begabungen; der feinmotorisch Bewegliche und Hellhörige wird eher Pianist oder Chirurg oder Kunsthandwerker, als daß wir ihn sich in den Ränken und Intrigen der Macht verstricken sehen; der feinmotorisch Taube und Stumpfe, der sich ein großes gestalterisches Talent eingeredet hat, wird handwerklichen Pfusch hinterlassen oder statt bezwingende, raumgreifende Figuren zu schaffen fade Konzeptkunst ausstoßen.

Eine Großmacht in der Direktion unserer Lebensmotive und Erzählmuster ist die biologisch nun einmal verhängte Zugehörigkeit zu einem natürlichen Geschlecht, denn was es heißt, ein Kind in sich heranwachsen zu wissen, wird der Mann niemals verstehen, und umgekehrt die Frau nicht, daß dem Mann das Geschlecht etwas Äußerliches und zugleich Innerliches ist, was sein sexuelles Empfinden von Grund auf mit dem Grau- und Blauton der Sterbensangst grundiert oder seine Wünsche auf Schnelligkeit, Überblick, Technik und Herrschaft ausrichtet.

Freilich können wir mit all diesen uns zugeflogenen, zugewachsenen oder verhängten Lebensmotiven mehr oder weniger gekonnt spielen, indem wir uns selbst zitieren, ironisieren oder anderweitig von uns distanzieren; doch kann sich Möchtegern und Gernegroß die Maske eines Don Juan aufsetzen, seine weiche Stimme wird ihn verraten und der untrügliche Instinkt der Frau wird ihm ihren Schoß nur geben wie die Mutter dem schutzsuchenden Kind.

Ein probates Mittel der erheiternden Selbstdistanzierung besteht darin, in vertrauter Runde oder im intimen Umgang von sich in der dritten Person als „dem guten Karl“ zu sprechen, der sich für seine Kumpane wieder so ins Zeug gelegt oder für seine Holde herkulisch geschwitzt hat, oder „der bösen Petra“, die wieder einmal vergessen hat, den Computer, die Heizung, das Licht auszumachen, oder den Kopf voll Zuckerwatte nicht Willens oder unfähig war, ihrem Liebsten, der so hingebungsvoll oder intellektuell hochtourig-aufgedreht auf sie eingeredet hat, ihr ganzes Ohr zu leihen oder zumindest ihm die Blüte ihres Lächelns halb zu öffnen.

So können wir unsere Erzählung mit den flirrenden und glitzernden Mustern ironischer oder humoresker Spiegel-Spiele der metalogischen, metapoetischen und metaphorischen Vergrößerung, Verkleinerung und Verzerrung charmieren und garnieren, ähnlich wie ein Meister dieser literarischen Verfahren, der immer wieder gern vorgibt, vom Leben und den Eigenarten seiner Romanfiguren überrascht, an der Nase gezogen oder hinters Licht geführt zu werden.

Besser das Maul halten, als immerfort nachplappern und dazu Gunst heischend mit dem nicht vorhandenen, weil von der Schere der Zensur der Wohlmeinenden und Bessergesinnten abgeschnittenen Schwanz wedeln.

Sich wohlig über seinen Schmerbauch streichelnd fuhr er fort in der dornenreichen Schilderung seiner Passion.

Die Gelassenen oder Entlassenen, die ihr Leben erzählen, wie man einen Traum erzählt.

Die Meister erzählen ihr Leben wie von einer symbolhaften ikonischen Darstellung, deren Maler sie nicht kennen.

Der uns maßlos übersteigt, beschied sich in eine Existenz, die sich allem Biographischen entzieht.

Den bunten Teppich der Lebenserzählung wieder entflechten und ausmustern und das ganze Garn und Gewebe fein nach Farben getrennt auf dem leeren Tisch auslegen, wo einem Altar gleich nur eine Kerze flackert und eine Rose vor sich hin träumt.

So frei geworden, was sollen wir noch erzählen, schmilzt die Zunge schon im Gesang.

Aller Motive und Beweggründe bar, tauchen wir überwunden zurück in den dunklen Strom, in dem die Sterne mit uns versinken.

Wie unbefangen wirst du in Gegenwart eines Menschen, der aufgehört hat, sein Leben zu bebildern und zu erzählen, sondern dort am offenen Fenster steht und schweigend in die Nacht lauscht.

Noch eine Anekdote, noch ein Name, noch eine minutiöse Aufzählung der Schönheitsflecken einer unwiderstehlichen Bardame – ach, knall den Hörer auf!

Jenseits, dort, wo es genügt sich schweigend in die Augen zu schauen, um alles zu wissen, alles zu fühlen, alles mitzuleiden.

Sie hatten sich alles erzählt und waren füreinander leer.

Die göttliche Gnade verdichtet sich in einem nur den Mund eines Engels rein und schön formenden Namen – Rose, die in der Mitternacht zweier gekreuzter Balken glüht.

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