Das Haus der Sprache, in dem wir wohnen
Anmerkungen über den Zusammenhang von Sprache und Vernunft
Der Mangel des kantischen Vernunftbegriffes (es handelt sich dabei nicht um einen Fehler oder ein persönliches Versagen, sondern eine Art epochales Zeichen) besteht in der (scheinbaren) Autonomisierung oder Emanzipation des Vermögens der Vernunft von der Grundlage des menschlichen Daseins und Denkens, der Sprache. Vernunft ist ein Begriff der natürlichen Sprache und gehorcht daher den expliziten und impliziten Regeln und Gesetzen ihres Gebrauchs: nicht Regeln und Gesetzen, die die sprachlose Vernunft sich irgend selbst gegeben haben könnte.
Vernünftig zu reden ist eine Form vernünftigen Handelns, denn Reden ist eine Form des Handelns, Sprachhandeln. Wenn wir durch Betrachtung des alltäglichen Sprachgebrauchs herausfinden, was es heißt, vernünftig zu reden, wissen wir alles, worauf wir den Vernunftbegriff anwenden können. Es ist müßig und irreführend, den Begriff nach einander scheinbar ausschließenden Verwendungsarten betrachten zu wollen, wie denen des wissenschaftlichen Erkennens, des moralischen Handelns und des ästhetischen Urteilens, denn vernünftiges Reden muß in allen Bereichen denselben Regeln gehorchen.
Es ist indes wenig vernünftig, den Vernunftbegriff vom Erdreich der Sprache, dem Reich des gemeinschaftlichen Lebens, in dem sie gleichsam atmen kann, zu entwurzeln und ihr zugleich die alleinige oder jakobinische Jurisdiktion über alle Formen der Sprachverwendung überlassen zu wollen. Die Vernunft ist nicht der höchste Richter, der entscheidet, wer im Haus der Sprache wohnen darf, sondern nimmt die dienstbare Funktion des Hausmeisters ein, der für das Einhalten der Hausordnung zuständig ist. Diese Ordnung der Sprache besteht allerdings in einer gewissen auf Unterscheidungen beruhenden Übersicht über die Formen und Arten des Redens und ihrer sinnvollen Anwendung in Situationen des Handelns: Anders redet, wer fragt, anders, wer beschreibt, wieder anders, wer befiehlt – und nur, wer eine sinnvolle Antwort erwarten kann, fragt richtig, nur wer etwas im richtigen Abstand mit dem rechten Augenmaß betrachtet, kann es beschreiben, nur wer berechtigt ist anzunehmen, daß sein Geheiß erfüllt wird, ist berechtigt zu befehlen.
Der Hausmeister hat das Haus der Sprache, dessen Ordnungen er überblickt, weder entworfen noch errichtet, er kann es nicht willkürlich umbauen, geschweige denn nach Laune abtragen lassen, um an anderer Stelle ein neues nach eigenem Geschmack zu bauen.
Der Hausmeister hat die Gesetze, unter deren Einhaltung einzig die Architekten und Bauleute das Haus errichten könnten, nicht erfunden: Das Dasein der Schwerkraft und die Gesetzte der Geometrie, die den architektonischen und statischen Plänen zugrundeliegen, sind nicht „vernünftig“ in irgendeinem plausiblen Sinne.
Wir können die Vernunft oder ihren leidenschaftlichen Apologeten, den Philosophen, auch mit dem angestellten Gärtner des Hauses vergleichen, der das Unkraut jätet, den Rosenstrauch stutzt oder neue Beete mit schmackhaften Beeren oder schönen Zierpflanzen anlegt – er mag sich noch so viele botanische Kenntnisse oder ein fundiertes Wissen über die Heilkraft der Kräuter angeeignet haben, er mag sich auf das Veredeln alter Sorten und das Züchten neuer verstehen: Die Keime und Samen der Pflanzen sind nicht seines Wesens und weder seiner Phantasie noch seiner Kunstfertigkeit entsprungen, sie sind wie die Worte und Sätze der Sprache eigenen Wesens – biegt und zieht und zerrt man sie übermütig oder tollwütig, brechen sie, gehen ein, welken dahin.
Den fruchtbaren Boden, die Nährstoffe, das Wasser, die Luft, das Licht, alles, was Pflanzen zum Gedeihen, Blühen und Fruchttreiben benötigen, findet unser Gärtner vor, er kann sie nur pfleglich seinen Zöglingen zukommen lassen. So auch die Vernunft: Das Leben der Sprache, ihre Wurzeln und ihre Heimstätte, findet sie vor, sie kann Licht in das Wirrwarr und Dickicht ihrer Verwendung bringen, hier und dort, freilich nicht gleichzeitig überall. Wie der Gärtner und Botaniker die Arten und Gattungen der Pflanzen und ihre Ökologien erkunden mag, so der Philosoph die Ökologien des Sprachgebrauchs, die Arten und Formen der Sprache und ihren sinnvollen Gebrauch in den Situationen und Umwelten, die ihnen angemessen sind.
Was nennen wir vernünftig, wenn wir sagen, jemand habe mit Sinn und Verstand geredet? Um vernünftig zu reden, müssen wir die richtigen Worte für das finden, was wir ausdrücken und mitteilen wollen, wir müssen die Worte sinnvoll aneinanderreihen, das heißt grammatisch korrekte Sätze bilden. Was sind die richtigen Worte? Diejenigen, die der Hörer versteht. Jemanden mit den Worten: „Schau mal, da geht unser Freund Peter!“ zu verstehen zu geben, daß dort der gemeinsame Freund Peter geht, impliziert, ihm zu verstehen zu geben, daß wir ihm genau dies in dieser Situation mitteilen wollen. Wir erreichen dies mittels zweier Arten von Sprachhandlungen: einer Aufforderung („Schau!“) und einer zweifachen Prädikation („Der dort ist Peter und Peter ist unser Freund“). Wir lenken mittels der Aufforderung die Aufmerksamkeit des Hörers auf ein Ereignis seiner unmittelbaren Wahrnehmungswelt und geben seiner auf Erinnerungen gestützten Fähigkeit, Gegenstände seiner Umwelt zu identifizieren, genügend Stoff und Anreiz, den gezeigten Gegenstand mittels Anwendung der Prädikation als Freund Peter wiederzuerkennen.
Es wäre wenig vernünftig, den Hörer auf eine Person aufmerksam zu machen und ihm behufs ihrer Identifikation dadurch auf die Sprünge helfen zu wollen, daß wir langatmig die Lebensgeschichte Peters zum besten geben – vielleicht kennt der Hörer sie gar nicht, jedenfalls verschwenden wir mit diesem unökonomischen Verfahren nur seine und unsere kostbare Zeit.
Vernünftig ist es demnach, in einer gegebenen Situation diejenigen Sprechakte zu vollziehen, die zur Erreichung des gewünschten Mitteilungszwecks erforderlich und angemessen sind. Oft sind, wie im genannten Fall, diejenigen Sprechakte angemessen und hinreichend, die notwendig und erforderlich sind, unseren Zweck zu erreichen.
Wir können auch fragen, ob es denn vernünftig ist, den Hörer in der geschilderten Situation überhaupt auf die Gegenwart von Peter aufmerksam zu machen, wenn sich herausstellt, daß Peter bis vor kurzem wohl der Freund des Hörers gewesen ist, seit einem die Freundschaft verstörenden Vorfall allerdings nicht mehr. Um eine unnötige Konfrontation und eine unangenehme Begegnung zu vermeiden, sollten wir daher auf die genannte Sprachhandlung verzichten. Das wäre wohl vernünftiger als unserem Drang nachzugeben, mit Freund Peter (denn unser Freund ist er ja nach wie vor) zu plaudern.
Demnach ist nicht nur die korrekte und angemessene Ausführung von Sprechakten gewissen vernünftig zu nennenden Maßgaben unterworfen, sondern auch ihre Auswahl und Anwendung (oder Nichtanwendung) in der gegebenen Situation. Schweigen, folgern wir, ist ebenso ein Sprechakt wie reden.
Die Sprechakte der Aufforderung und der Prädikation sind dagegen nicht dem Haupt der Minerva entsprungen und keineswegs Produkte der Vernunft: Aufforderungen betreffen Organe und Systeme der Aufmerksamkeit, Eigenschaften biologischer Lebewesen, biologische Funktionen also, die nicht in irgendeinem plausiblen Sinne vernünftig zu nennen wären; Prädikationen betreffen Systeme der identifizierenden Wahrnehmung und Orientierung, die wiederum Funktionen raumzeitlicher Verkörperung darstellen, die nicht in irgendeinem plausiblen Sinne vernünftig genannt werden können.
Wir können sagen, daß uns mit den sprachlichen Formen und Sprachhandlungen alles gegeben ist, was wir zum mehr oder weniger gelingenden, mehr oder weniger mißlingenden Leben benötigen: Weder geht uns mit ihrer Anwendung etwas Entscheidendes verloren noch verbirgt sich dahinter etwas, was sich unserem Ausdrucksverlangen zur gänze oder auf immer entziehen würde. Wenn wir nicht ausdrücken können, was wir meinen, liegt das meist daran, daß wir nicht genau wissen, was wir meinen und sagen wollen. Meinen wir mit dem Sprechakt: „Schau mal, da geht Peter!“, unserer Absicht Ausdruck zu geben, Peter anzusprechen und mit ihm zu plaudern, oder meinen wir im Gegenteil, sich abzuwenden und Peter ungestört seines Weges ziehen zu lassen, da der Angeredete sich ja mit ihm kürzlich zerstritten hat? Wir können diese Unklarheit und Ambivalenz aus der Bahn schaffen, indem wir etwa äußern: „Vorsicht, da geht Peter!“
Mit dem an die Grenzen des Sagbaren ausgedehnten Feld unserer Sprachhandlungen ist uns die Welt als unser Daseins- und Lebensraum vollständig gegeben und offenbar. Anzuzweifeln, daß die Prädikation „Der da ist Peter“ unzutreffend ist, heißt nicht zu glauben, jene Person könnte Peter sein und gleichzeitig eine Person, die nicht Peter ist, das wäre in der Tat unvernünftig: Wir treffen hier auf den trivialen Fall einer Inkonsistenz der Annahmen und damit gleichsam auf die pädagogische Grundlage für vernünftiges Reden, nämlich einander ausschließende Aussagen zu erkennen und zu vermeiden. Wir können indes solche Inkonsistenzen leicht durch vernünftige Abwägung entscheiden: Ist jene Person dieselbe Person, mit der der Angeredete lange Zeit befreundet war und sich vor kurzem zerstritten hat, handelt es sich um Peter.
Uns können wohl Aspekte und einzelne Züge der Welt verborgen sein, so wenn wir nicht erkennen, ob Peter einen neuen Anzug trägt oder seine Haare getönt hat, und nicht wissen, ob er vom Büro kommt oder aus dem Park. Aber solange wir über Peter reden, ist alles klar und offenkundig. In der sprachlich gegebenen Welt zu leben, heißt in einer Welt zu leben, in der die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, von Phänomen und Wesen, von einzig zugänglichem Vordergrund und sich immerdar entziehendem Hintergrund der Dinge und Ereignisse nicht anwendbar und nicht sinnvoll ist.
Wir können entweder etwas sagen oder etwas anderes sagen oder etwas anders sagen, aber wir können nicht sagen, daß da etwas ist, über das sich nichts sagen läßt, nicht einmal, daß da etwas ist.
Insofern beruht die kopernikanische Wende Kants auf einem Mißverständnis der grundlegenden Darstellungsfunktion der Sprache, mit der es uns vergönnt ist, mit der Anwendung unserer Sprachhandlungen das erfahrene Leben gleichsam vollständig ausschöpfen zu können: Der Rest ist Schweigen, Schweigen, mit dem wir den Ursprung dieser Funktion gelassen auf sich beruhen lassen können. Die Vernunft kann nicht das Hoheitsrecht über unsere Erfahrung beanspruchen, als könnten wir nur erfahren, was sich ihren Organen darbietet, und alles andere bliebe verborgen; die sprachlich vermittelte Erfahrung zeigt und gibt uns die Welt, wie sie ist, und sie erscheint so, wie sie ist.
Die sprachlose Vernunft mißversteht sich, wenn sie sich einerseits anmaßt, die Erfahrung einzig anhand ihrer apperzeptiven und kategorialen Kompetenzen als evidenten Erlebnisvordergrund kennzeichnen und auffassen zu können, und sich andererseits demütig bescheidet, ein Etwas, das notwendig durch das Netz ihrer Möglichkeiten fällt, als undarstellbares, ungreifbares Schattending namens Ding an sich in den Hintergrund fallen lassen zu müssen. Die Sprache, mit und in der wir leben, ist das Erfahrungsfeld, das uns die Welt so erschließt, wie sie ist, als unsere Welt, diesseits der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich. Die sprachliche Vernunft kennt sich in dieser Welt aus, insofern sie uns Hinweise geben kann über die Angemessenheit oder Unangemessenheit unseres sprachlichen Weltumgangs.
Begriffe wie Vernunft und vernünftig, Rationalität und rational sind wie alle Begriffe der Sprache in das Umfeld oder den Spielraum ihrer Anwendung eingebettet, sie können nicht willkürlich über alle Umfelder und Spielräume aller sprachlichen Begriffe übergreifen und die Regeln ihrer Anwendung mitbestimmen. Wir können und sollen vernünftig sprechen und handeln, wenn es angemessen ist, so zu sprechen und zu handeln; dann sprechen wir so, daß der Zweck der Mitteilung durch die Klarheit, Vollständigkeit und Relevanz des Mitgeteilten Gehör finden und umgesetzt werden kann; dann handeln wir so, daß wir mittels der bedachtsamen Auswahl von Mitteln, Werkzeugen oder Wegen unser Ziel und unsere Absicht erreichen. Aber wenn wir einen Liebesbrief schreiben, sollten wir keine Absicht, wie die Absicht, die Neigung des Angeschriebenen mittels der Verwendung der geschicktesten und ausgefeiltesten rhetorischen Techniken zu gewinnen, durchschimmern lassen: Wir würden das Gegenteil dessen hervorrufen, was in unserer Absicht stand. Wenn wir spazieren gehen, suchen wir nicht den kürzesten und bequemsten Weg zwischen unserem Ausgangspunkt und dem Zielort, sondern lassen uns von Eindrücken und Aussichten der Landschaft hinreißen, vom eingeschlagenen Weg abzukommen, Umwege zu gehen und Anhöhen zu erklimmen, um einen unerwarteten Ausblick zu gewinnen.
Wir haben mittels vernunftgeleiteter Anwendung wissenschaftlicher Methoden in der Struktur der DNA so etwas wie die Grammatik oder Syntax des Lebens entschlüsselt; doch keine wie immer geartete Vernunft hätte diese gleichsam grammatische Struktur jemals erfinden können, geschweige denn, daß wir die Funktionsweisen und Abläufe der durch die DNA gesteuerten chemischen Prozesse in irgendeinem plausiblen Sinne vernünftig nennen könnten. Diese triviale Beobachtung dient uns zur Einsicht in den Zusammenhang von Sprache und Vernunft: Wir haben mittels vernunftgeleiteter Anwendung wissenschaftlicher Methoden die Grammatik und Syntax vieler natürlicher Sprachen entschlüsselt; doch keine wie immer geartete Vernunft hätte diese grammatischen und syntaktischen Strukturen jemals erfinden können; geschweige denn, daß wir den grammatischen Bau von natürlichen Sprachen in irgendeinem plausiblen Sinne vernünftig nennen könnten.
Wir können mittels des Sprachspiels vernünftiger Betrachtung und Argumentation andere Sprachspiele analysieren; aber wir können durch Anwendung dieses reflexiven Verfahrens keine Sprachspiele erzeugen: Die sprachlichen Formen der Dichtung und der religiösen Äußerungen in Gebet, Hymnus oder rituellem Ausdruck sind historisch gewachsen, wie die Pflanzen natürlich gewachsen sind, die der Botaniker klassifiziert, beschreibt und auf ihre chemische Zusammensetzung hin analysiert; genauso wenig, wie der Botaniker die organischen Stoffe und Gebilde sowie ihre Nahrungsgrundlage in Wasser, Mineralien und Photosynthese hätte mittels Anwendung der ihm zur Verfügung stehenden Methoden der Klassifikation, Beschreibung und Analyse erfinden und erzeugen können, genauso wenig vermag dies der Sprachforscher und Grammatiker in Hinsicht auf seine Gegenstände, die natürlichen Sprachen oder die Formen der Poesie und des religiösen Ausdrucks.
Der Sprachforscher und philosophische Grammatiker entdeckt grundlegende kategoriale Unterschiede in der Struktur und Anwendung unserer sprachlichen Ausdrucksformen: So finden wir, daß in unserem Gebrauch des Begriffs „Vernunft“ und „vernünftig“ oft direktive und kommissive Arten der Äußerung, das heißt Sprechakte mit auffordernder und verpflichtender illokutionärer Kraft oder kommunikativer Funktion, von assertiven Arten der Äußerung, das heißt Sprechakten mit deskriptiver und konstatierender illokutionärer Kraft oder kommunikativer Funktion, überlagert und verdeckt werden: Wir reden von dem kürzesten und bequemsten Weg zwischen Ausgangs- und Zielort und meinen mit dieser scheinbar reinen Feststellung: „Nimm diesen Weg, er ist am kürzesten und bequemsten!“ Wir sagen, wenn uns Peter, mit dem sich unser Hörer kürzlich zerstritten hat, unterwegs begegnet: „Schau, da geht Peter!“ und meinen mit dieser scheinbaren Feststellung: „Verhalten wir uns unauffällig und gehen Peter aus dem Weg!“ – denn das ist eben in diesem Fall vernünftiger, als eine unangenehme oder konfrontative Begegnung heraufzubeschwören.
Wir finden aber auch den Fall, daß aus deskriptiven Aussagen direktive und kommissive Aussagen, das heißt auffordernde und verpflichtende Aussagen, gefolgert werden, oder den Fehlschluß von Feststellungen oder scheinbaren Feststellungen auf Aufforderungen und Verpflichtungen moralischer Natur: Aus der Feststellung oder scheinbaren Feststellung, alle Menschen seien vernunftbegabte Lebewesen, schließt man, alle Menschen seien dazu aufgefordert und verpflichtet, sich unter allen Umständen vernünftig oder angeblichen Gesetzen der Vernunft gemäß zu verhalten. Dieser Fehlschluß scheint die Basis der Kantischen Moralphilosophie zu sein.
Sich vernünftig zu verhalten ist indes keine aus dem Vernunftbegriff ableitbare Direktive, sondern ergibt sich als Spielanleitung unterschiedlicher Sprachspiele: Wenn wir einen längeren Spaziergang planen und ein Wetterumschwung nicht ausgeschlossen werden kann, ist es vernünftig, einen Regenschirm oder einen Regenmantel mitzunehmen; wenn abends gefährliches Gesindel auf den Straßen lauert, ist es vernünftig, das Haus nicht zu verlassen oder nicht unbewaffnet nach draußen zu gehen. Aber zu sagen, es sei vernünftig, jederzeit und unter allen Umständen einen Regenschirm oder einen Regenmantel mitzunehmen, oder es sei vernünftig, jederzeit und unter allen Umständen abends das Haus nicht zu verlassen, oder es sei vernünftig, jederzeit und unter allen Umständen eine Waffe zu tragen, so ist dies offenkundiger Unsinn. Aber von dieser formalen Struktur sind die moralischen Argumente Kants: Weil der Mensch vernunftbegabt sei oder die Vernunft das höchstrichterliche Amt der Handlungsanweisung und Handlungsbeurteilung innehabe, müsse der Mensch jederzeit und unter allen Umständen so und so handeln. Dieser Fehlschluß beruht, wie wir sehen, auf der Ausblendung der wesentlichen Lebensdimension von Menschen, der natürlichen Sprache oder dem alltäglichen Gebrauch von Sprachspielen.
Das Sprachspiel, das wir Moral nennen, gründet auf der zeitlichen Verfassung menschlichen Daseins, das heißt, der Zukunftsrichtung unseres Lebens und Handelns. Weil wir mit anderen leben und handeln und zu leben und zu handeln genötigt sind, müssen wir unsere gegenseitigen Erwartungen in Bezug auf die Absichten und Zwecke unseres Handelns kooperativ abstimmen. Aus dieser Situation begründen sich die wesentlichen moralischen Maximen und Direktiven: Verläßlichkeit und Vertrauenswürdigkeit. Da – wie nur allzu bekannt – Menschen schwache, fragile, irritierbare Lebewesen und in vielen Exemplaren sogar betrügerische, hinterlistige und parasitäre Mit- und Zeitgenossen zu sein pflegen, entwickeln wir sprachliche Institutionen wie das Versprechen, den Eid, das Bündnis oder den Vertrag, deren moralische und verpflichtende Kraft sich in der Stabilisierung und Verstetigung unserer Handlungserwartungen erweisen soll und erwiesen hat.
Das moralisch relevante Modell verpflichtender illokutionärer Kraft ist das Versprechen, das gleichsam die Identität der Interakteure auf ihre die Zeit überdauernde Integrität stützt: Die Verläßlichkeit und Vertrauenswürdigkeit dessen, der versprochen hat, das ausgeliehene Gut am vereinbarten Tag und Ort dem Leihgeber wiederzugeben, erweist sich eben in der Handlung, mit der er sein Versprechen einlöst; die Güte der Einschätzung der Verläßlichkeit und Vertrauenswürdigkeit des Entleihers durch den Leihgeber erweist sich in eben dieser Einlösung des gegebenen Worts. Da wir öfters als uns lieb ist die gegenteilige Erfahrung machen müssen, nämlich daß ein Versprechen gebrochen und ein gegebenes Wort nicht eingelöst werden, suchen wir die soziale Institution mittels Sanktionen zu bewehren: Wer ständig sein Wort bricht, schädigt sein Ansehen, wird unglaubwürdig, schließlich keiner Zuwendungen und Achtungserweise mehr gewürdigt.
Es wäre nicht vernünftig und in manchen offenkundigen Fällen geradezu widervernünftig, sich mit jemandem einzulassen, jemandem Geld zu leihen, jemandem sein Haus zu öffnen, kurz jemandem sein Vertrauen zu schenken, dessen Unzuverlässigkeit und Wankelmütigkeit, dessen Durchtriebenheit und parasitäre Gesinnung sich im Umgang mehr als einmal gezeigt haben oder dessen kriminelle Neigungen aktenkundig sind. Unser sogenannter moralischer Weltumgang beruht also auf der Wahrnehmung der Ungleichheit der Menschen, was ihre Fähigkeiten anbelangt, unsere moralischen Erwartungen zu erfüllen.
Da wir als handelnde Wesen stets an der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft leben, haben sich uns als beste moralische Ressourcen Verläßlichkeit und Vertrauenswürdigkeit erwiesen: Wer seine Zusage, sein Wort, sein Versprechen eingehalten hat, ist uns auch morgen als Gast, Freund und Geschäftspartner willkommen; wer unser Vertrauen auf arglistige und betrügerische Weise mißbraucht hat, wer uns gegenüber sein Wort und sein Versprechen, das geliehene Gut zurückzuerstatten oder die gebrechliche Anverwandte zu versorgen, gebrochen hat, wird rechtens aus dem intimen Kreis vertrauenswürdiger und verläßlicher Personen ausgeschlossen.
Weil wir an der Schwelle zur Zukunft existieren und unser Leben fristen, sind nicht materielle Güter, Eigentum und Territorium, nicht materielle Ressourcen und nicht einmal kulturelle Wertgegenstände oder Überlieferungen an sich, nicht die Bilder Grünewalds, Rembrandts und Dürers, nicht die Kompositionen Bachs, Mozarts und Beethovens, nicht die Dichtungen Walthers, Goethes oder Hölderlins mit der höchsten moralischen Verpflichtung zu ihrer Wertschätzung, Erhaltung und Weitergabe versehen, sondern – die Kinder und Kindeskinder, die kommenden Generationen; denn um ihretwillen werden die materiellen Güter angehäuft, Schulen und Universitäten betrieben, die kulturellen Überlieferungen erhalten und gelehrt, ja da und dort, und wer weiß wann auch hier wiederum Krieg geführt. Hierzu gesellen sich auch (nach Abriß all der baulichen Schändlichkeiten und Scheußlichkeiten aus Beton und Maßlosigkeit) die Schönheit der Fassaden und Stadtbilder, der leise Charme begrünter Straßen und Plätze und allem voran der Zauber stiller, das Auge und Gemüt besänftigender Parkanlagen, der Artenreichtum der Landschaften und Wälder und die Eigenschaft stilvoller Gärten, die Seele zu weiten und den Geist zu verjüngen. An der Stellung der Kinder und der Familie, in der sie behütet und erzogen werden, läßt sich die moralische Kraft und der Selbsterhaltungswille einer Gemeinschaft bemessen. Je weniger Kinder eine Gemeinschaft hervorbringt, je trauriger es um die Pflege und Verfeinerung der natürlichen Sprache, in die sie geistig hineinwachsen, bestellt ist, je mehr ihre Obhut den Eltern entzogen und fremden Institutionen unterworfen wird, je mehr die großen Traditionen der eigenen Kultur, die ihnen Anreiz zur Nachahmung oder Freude der Bewunderung zu gewähren vermöchten, vernachlässigt, verhunzt oder der damnatio memoriae überantwortet werden, umso schwächer die moralische Kraft der Gemeinschaft und Nation.
Die Mutter, die ihr Kind unter Schmerzen geboren und durch Schluchten der Entbehrung auf die Anhöhe des Lichts getragen hat, wird freilich wenn sie in Gefahr und Not sind, ihr eigenes Kind zuerst vor dem Kind der Nachbarin oder der Fremden retten; der Vater, der das Haus für das Wohlergehen seiner Familie erbaut hat, wird bei einer Feuersbrunst es allemal vorziehen, zunächst und zuerst den Brand seines eigenen Hauses zu löschen und erst wenn dies geschehen und sichergestellt ist, daß den Eigenen Zukunft vergönnt ist, wird er darangehen, beim Löschen des Brands im Nachbarhaus zu helfen. Ist dies nun ungerecht, daß wir das eigene Leben, das Leben der eigenen Kinder und Anverwandten dem Leben anderer vorziehen? Widerspricht es nicht der universalen Ausrichtung einer Ethik, die nach Leib und Leben, Kindern und Familie, kurz nach den konkreten Lebens- und Daseinsbedingungen auf dieser unserer Erde nicht fragt, sondern sie in den Schatten der Vernunft und unter den Scheffel stellt, auf dem das unfruchtbare Licht des Ideals einer blutlosen Schimäre namens Mensch und Menschheit glimmt? Doch könnten wir ironisch zurückfragen: Wäre nicht JEDEM geholfen, wenn ALLE so handelten? Denn wenn jeder sich selbst und den Eigenen hilft, ist allen geholfen.
Die aus dem Wurzelgrund des sprachlichen Erdreichs herausgerissene Vernunft und die Moral, die aus dieser Abstraktion wie aus einem magischen schwarzen Kasten als universale Verpflichtung auf ein Gesetz gezaubert wird, das für jeden und jederzeit an jedem Ort gleicherweise gelten soll, ist eine Vernunft für mundtote Wesen und eine Moral für blutlose Gespenster.
Wir dagegen sagen, daß moralisch handelt, wer egoistisch oder aus wohlverstandener Eigenliebe handelt: die Mutter, die Zeit, Mühe, Geduld und Fürsorge aufwendet, um das Leben ihrer Kinder in eine bessere Zukunft zu führen, der Vater, der Schweiß, Arbeit und Geld opfert, um das Leben der eigenen Familie zu erhalten und zu fördern. Dem Leben in diesem Sinne Zukunft zu eröffnen, heißt moralisch handeln. Zu dieser Zukunft gehören freilich auch die Bewahrung und Weitergabe der eigenen kulturellen Güter, allen voran die Weitergabe der eigenen Sprache, der eigenen Glaubensüberzeugungen und der eigenen Sitten und Gebräuche. Dies gilt in einem eigentümlich umgekehrten universalistischen Sinne: Japanische Kinder sollen Japanisch lernen und mit der Teezeremonie und den Kulten des Shintoismus vertraut werden, chinesische Kinder sollen Chinesisch lernen und mit der Kalligraphie ihrer Schrift und den Weisheiten des Konfuzius vertraut werden, und so sollen deutsche Kinder Deutsch lernen und die Schönheit der klassischen Musik und der klassischen Dichtung kennenlernen dürfen.
Gewiß, wir sehen, was wir tun, und erschrecken selbst nicht wenig zu gewahren, auf welch einem verrufenen, dunklen, überwachsenen Pfade wir wandeln. Doch uns scheint, wir haben den richtigen Abzweig und den guten Ausweg genommen. Indes, um ihn aufrecht, frei atmend und souverän bis ans Ende gehen zu können, müssen wir die Wackersteine der Ideale eines philanthropisch verkürzten Humanismus und einer geschichtsblinden Aufklärung aus dem Rucksack entfernt haben, müssen wir die spitzen und wundschürfenden Glitzersteine, die da heißen Liberté, Egalité, Fraternité, aus den Wanderschuhen geschüttelt haben, müssen wir am Ende sogar das giftige und die Sinne betäubende Manna des mosaischen Gottes als Wegzehrung aufzuraffen verweigern und durch die gesunden Früchte der Erdgöttin ersetzen.
Wir haben nur diese Früchte und können die Kinder nicht mit dem abstrakten Brot der Engel füttern. Wir haben nur dieses Leben und diese Sprache und können unsere tiefsten Wünsche und letzten Bindungen nicht mit einem keimfreien Esperanto universaler Moral artikulieren. Daß wir aus diesem Grund den Multikulturalimus, das heißt die Vermischung und Maskierung der eigenen Traditionen in einem transkulturellen Totentanz, verwerfen, daß wir die gewissenlose Öffnung aller Grenzen des Hauses und des Landes, die uns den Schmarotzer an den Tisch lädt und den Feind in die Festung der Souveränität lockt, zurückweisen und gegen das Drängen und Rütteln an den Türen durch Heerscharen fremder Mächte hart werden müssen, um das Eigene zu retten, das geschieht uns recht.
Indes, wenn wir das Eigene dem schlechten Gewissen schon geopfert haben, sollen alle, die Kant folgen, den Pyrrhussieg der Errichtung eines moralischen Gottesreiches kastrierter, unschöpferischer und gegen alle Not des geschichtlichen Daseins rein gebliebener Seelen feiern.
Wir bemerken, daß es unvernünftig wäre, unseren Kodex moralischer Erwartungen und moralischer Verpflichtungen auf den Vernunftbegriff zu gründen – denn dieser ist bloß ein formales Instrument, logisch-semantische Zusammenhänge auf ihre Stimmigkeit und Angemessenheit zu untersuchen; es erscheint geradezu abenteuerlich anzunehmen, man könne die Sprachhandlung des Versprechens mit all ihren moralisch relevanten Implikationen aus dem Inhalt des Vernunftbegriffs herausklauben. Denn die Sprachhandlung des Versprechens ist augenscheinlich nur denkbar in unserer Welt, in der wir als sprechende Lebewesen mit konkreten biologisch begründeten Bedürfnissen und kulturell geprägten Interessen und Anliegen in die Zukunft unterwegs sind. Die Vernunft kann uns nur raten, dem im freundschaftlichen Umgang erprobten Freund bei lebenswichtigen Angelegenheiten wie der Versorgung und Verwaltung von Gütern, der Hut und Pflege von Kindern und Angehörigen eher zu vertrauen als einem hergelaufenen Tunichtgut und aktenkundigen Kriminellen.
Die Vernunft kann uns darüber hinaus demonstrieren, wie die Sprachhandlung des Versprechens nach ihren logisch-semantischen Wahrheits- und Erfüllungsbedingungen beschaffen sein muß, damit unsere lebenspraktischen Erwartungen nicht enttäuscht werden: Ein Versprechen ist nur dann ein gültiger Sprechakt, wenn die Interakteure, derjenige, der das Versprechen gibt, und derjenige, der es entgegennimmt, infolge des Versprechens in eine Relation der gegenseitigen Verpflichtung treten, der eine, sein Wort zu halten und das ausgeliehene Buch zurückzugeben, der andere, mit der Erfüllung seiner Erwartung und seinem Buch in Händen seine Forderung als abgegolten zu betrachten.
Was uns im Leben hält und trägt, ist die Leidenschaft des Lebens; ginge es dagegen nach der Vernunft, wären wir alle schon tot. Nach reinen Vernunftmaßstäben wäre eher davon abzuraten, irgendwem irgendwas zu versprechen, denn die Vernunft kann beim besten Willen nicht voraussehen, ob derjenige, dem wir das Buch oder Geld geliehen haben, am verabredeten Tag den Willen und die Kraft und die Lust aufbringen wird, sein Versprechen zu erfüllen; nach reinen Vernunftmaßstäben wäre eher davon abzuraten, jemanden mittels eines gegebenen Worts zu binden und zu verpflichten, denn wir können niemanden völlig auf seine Glaub- und Vertrauenswürdigkeit hin durchschauen. Dennoch sagen wir, es sei nicht gänzlich abwegig und unvernünftig, wenn wir auf Treu und Glauben miteinander verkehren und diejenigen schätzen und vor anderen bevorzugen, die unser Vertrauen nicht mißbraucht haben, sowie diejenigen verachten und unseres Umgangs nicht für wert befinden, die uns belogen, betrogen oder bestohlen haben.
Wenn wir sehen, daß die echten Münzen moralischen Werts ungleich ausgegeben werden, das heißt, daß die Fähigkeit, Verpflichtungen und Bindungen einzugehen und sie zu erfüllen, ungleich auf die Menschen unserer Umgebung verteilt ist, schließen wir daraus, daß nicht jeder jedem gegenüber zu allem verpflichtet ist und sein kann. Denen, die uns von Natur oder kultureller Herkunft aus näherstehen, wie den Verwandten und Mitgliedern der Gruppen und Institutionen, denen wir selbst angehören (wie einer Familie, einer Gemeinde oder einem Verein), dürfen wir im Durchschnitt ein größeres Maß an Vertrauenswürdigkeit und eine stärkere Neigung, uns gegebene Versprechen einzuhalten, zubilligen, als natürlicher und kultürlicher Fernerstehenden. Wer diese Einsicht nicht beherzigt, handelt weniger vernünftig und darf sich nicht wundern oder beklagen, wenn ihm natürlicher oder kultürlicher Fernerstehende, denen er ohne weiteres Zugang zu seinem Haus, seinem Eigentum und seinen Nächsten gegeben hat, sich der Tochter in unsittlicher Weise nähern oder zu tief in die Schubladen greifen – auch wenn einem dies, wie bekannt, unverhofft auch von den Nächststehenden widerfahren kann.
Wir sahen, daß sich die Vernunft nicht anmaßen sollte, aus ihrem Begriff moralische Prinzipien und Regeln abzuleiten, die für die Anwendung der Begriffe aller möglichen Sprachspiele Gültigkeit beanspruchen. Dies gilt insbesondere für das religiöse Sprachspiel oder die Sprache des Heiligen, wie sie sich in authentischen religiösen Äußerungen des Gebets, der Weiheformel, des rituellen Ausdrucks, des Psalms oder des Hymnus bekundet. Der Sprachforscher oder philosophische Grammatiker kann auf diesem Felde seine analytische Arbeit der Sonderung von Sprechakten und ihrer Klassifizierung leisten; er kann dartun, inwiefern die Sprache des Heiligen wohl von Aussagen deskriptiven Charakters überlagert und überformt sein mag, ihre Wurzeln aber in Sprechakten mit der illokutionären Kraft der Bitte und des Gebets, der Aufforderung, des Lobes oder der Klage hat. Deshalb ist der vorzügliche Stoff der Semantik der Sprache des Heiligen (in unserer Tradition) nicht das Korpus theologischer, an der Sprache der Ontologie ausgerichteter Texte, sondern Texte wie die Psalmen, das Hohelied, die Bergpredigt oder liturgischen Gebete des Ordo Missale.
Wir geben hier nur einen Fingerzeig, worauf bei der Semantik der Sprache des Heiligen abzusehen wäre: Die religiöse Sprache kennt sowohl Begriffe oder Metaphern für die Anwesenheit und gloriose oder doxastische Selbstbezeugung des Göttlichen als auch Begriffe und Metaphern für die Verborgenheit und den fiduziellen Selbstentzug des Göttlichen, eine Verborgenheit, die zugleich eine geheimnisvolle Nähe und Insistenz bedeutet. Die Inkarnation, die Passion, das Kreuz, die geweihten Gegenstände der Eucharistie, Brot und Wein, sind Formen der Verborgenheit und des Selbstentzugs gemäß dem Glauben der Kirche, die eben diese insistierende Abwesenheit und bedrängende Verborgenheit des Göttlichen bedeuten. Die semantische Analyse kann diesen Spuren beispielsweise als Ausdruck der Sehnsucht nach der Vereinigung mit Gott oder seiner Epiphanie in den sprachlichen Zeugnissen der Mystik nachgehen. Sie kann auch Formen der Verarmung und Verödung der Sprache des Heiligen in Zeugnissen nachweisen, in denen diese grundlegende Zwiegestalt oder Ambivalenz der religiösen Erfahrung der Nähe und Ferne, der Anwesenheit und Abwesenheit des Göttlichen, übersprungen, ausgeklammert oder geleugnet wird. Wir vermuten eine solche Verarmung und Verödung in der Zeugnissen des Islam, die ihre jüdischen und christlichen Vorlagen um eben diesen Aspekt des deus absconditus, der insistierenden Verborgenheit Gottes, beschneiden – zumindest in der sunnitischen Linie, denn der Sufismus zeigt Reste in der messianischen Heilserwartung.
Die Vernunft kann sich jedenfalls nicht anmaßen, als Interpret oder gar Zensor der Sprache des Heiligen auftreten zu wollen und beispielsweise an ihr ein Reformprogramm namens Säkularisierung zu exerzieren, indem sie die ihr irrational dünkenden oder unverständlichen Begriffe entweder tilgt und durch das weitgeknüpfte Netz ihrer Kategorien fallen läßt oder als bloße Hüllen und Metaphern von Begriffen umdeutet, die in ihr Begriffskorsett und in ihr Reformprogramm passen. Das aber ist die Art und Weise, wie Kant der Sprache des Heiligen zu Leibe rückt, nämlich ihre Begriffe zu moralisieren und auf jenen moralischen Gehalt hin zu verdünnen und zu verengen, den die praktische Vernunft vorschreibt. So wird aus Gott eine blasse ethische Idee, vor der keiner sein Knie beugt, und alle rituellen und zeremoniellen Formen, in denen die Sprache des Heiligen ihr Ingenium und ihre Pracht entfaltet, abergläubischer Zierrat, den die Vernunft mutwillig oder tollwütig zerschlägt, um dem sprachlosen Raum der reinen Pflichtenethik eine Schneise zu schlagen.
Wenn es im Haus der Sprache eine Kapelle gibt, in der sich Menschen regelmäßig versammeln, um Sprachhandlungen ritueller und zeremonieller Art vorzunehmen, Handlungen, die sie religiös nennen, und Reden, in denen sie ihre Erfahrung mit dem Göttlichen ausdrücken, ist der Hausmeister namens Vernunft nicht befugt, in diesen dem profanen Treiben und Maulen entzogenen Raum (in den nur Zutritt erlangt, wer sich als Mitglied der Gemeinde ausweist) einzudringen und die heiligen Handlungen zu stören oder gar zu verbieten. Der Hausmeister hat während des Vollzugs der heiligen Handlungen vor der Kapelle auszuharren und zu schweigen – ob ehrfürchtig, versonnen oder dreist grinsend, wen schertʼs.