Das Haar in der Suppe
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die individuelle Handschrift ist nicht nur Ausdruck einer Persönlichkeit, sondern ein Mittel ihrer Bildung und Profilierung.
Was der Egalitarismus auf der politisch-kulturellen Ebene, ist die Uniformierung und Verflachung der Gesten, Mienen und Sprechweisen auf der individuellen.
Der Triumph der Phrase, der Parole, der Schlagzeile und das Verstummen des Dialekts, des Volkslieds und der Individualsprache.
Wer die geläufigen Phrasen nicht widerkäut, wer ins Schweigen oder in die Verweigerung eines rätselhaften Sprechens emigriert, gilt als verdächtig und gefährlich, als Träger eines bösartigen Virus, den man mit der Quarantäne medialer Ausschließung belegen muß.
Die sublime Feinheit und das unnütze Rätsel des dichterischen Ausdrucks sind das Haar in der Suppe des Zeitgeistes, an dem er würgt, das er angewidert ausspuckt.
Selbstverwirklichung ist nun das Ideal der innerlich Hohlen und Perversen, Selbstentfaltung das der tauben Nüsse und faulen Keime.
In dem Urinal, das als Kunstwerk deklariert wurde, hat man zuvor die Rose Schönheit überpinkelt.
Schönheit ist das Ziel einer universalen menschlichen Neigung; sie zeigt sich in der ästhetischen Ordnung des Haushalts, im Dekor der Wohnung, den Mustern von Teppich und Tapete, in den kleinen Ritualen des Alltags und den großen des Feiertags; sie wird fühlbar in der stillen, meditativen Weise, wie das kleine Mädchen das Haar der Puppe kämmt.
In der epidemischen Verbreitung des Lärms, der die Ohren und Herzen massakriert, im grunzenden Wühlen in Schlamm und Morast, der die Fibern und Fühler sublimen Empfindens verklebt, triumphiert der Geschmack von Leuten, die ihre Bildung der Gesamtschule verdanken und ihre Reifeprüfung bei Herrn Lehrer Gleichgesinnt und Frau Lehrerin Wohlgemut absolviert haben.
Der Vers, der Worte wie Perlen an der Kette des leicht schwingenden Rhythmus aufreiht.
Vers, dem zu grünen bestimmt ist, wenn er sich den Mustern hoher Dichtung auch nur wie ein dämmriger Farn in den leuchtenden Rosenstrauß fügt.
Heute bekommt kein Künstler einen Preis, der seine sogenannte Kreativität nicht durch tätliche Angriffe auf den guten Geschmack und jede Form von Dezenz unter Beweis gestellt hat.
Als Meister gilt, wer dem zarten Verlangen nach Verständlichkeit und stiller Anmut des Ausdrucks mit dem Hammer berserkerhafter Schreie und aufrührerischer Flüche den Schädel zertrümmert hat.
Der neue Biedersinn ist die Geschmacklosigkeit, die neue Konformität die Meterware des Nonkonformismus.
Sie lärmen, schreien, kreischen, angeblich, weil es ihnen höhere moralische Mächte befehlen, in Wahrheit, weil sie keine Wahrheit haben, die sich wohlartikuliert, stilsicher und mit gedämpfter Stimme vorbringen ließe.
Kultur des modernen Lebens – wenn sich Häßlichkeit mit dem Stumpfsinn paart.
Der Apfel, die Orange, die Zwetschge, die Ähre – die Feinheit der Ummantelung, der köstliche Teint der Haut, die zarte Befiederung, die Symmetrie der eingeschreinten Fruchtkörner und Samenhülsen – die Schönheit der Früchte, die leuchtende Intensität und farbige Fülle des Lebens, wie sie die großen Stillebenmaler der Klassik und Romantik bis auf Juan Gris und Cézanne erfaßt und ins Bild gebannt haben.
Die gefleckten, bunt gesprenkelten und wohlgeformten Eier der Vögel, der kunstvolle Aufbau und die schillernde Pracht ihres Gefieders, der Zauber und die magische Bannkraft ihrer Schautänze, die aerodynamische Perfektion der Flügel und die Artistik ihres Fluges, schließlich die wundersamen Arien ihres Morgen- und Abendgebets – all dies erfüllt uns mit Wohlgefallen und Freude, läßt unser Antlitz in einem geheimnisvollen Lächeln erstrahlen, während uns der Gang durch ein Museum zeitgenössischer Kunst mit ernster oder säuerlicher Miene trostlos in der Dürre urbaner Wüsteneien zurückläßt.
Die leuchtende Anmut und die in ihr heiliges Dämmern ladende Würde der antiken Tempel mit ihren lebensvollen Göttergestalten und die vernichtende Kälte und hohle Selbstgefälligkeit der Banktürme, in denen dem Gott des Molochs Stadt, dem Kapital, gehuldigt wird.
Der Stumpfsinn verlangt nach immer schärferen Reizen, Stacheln und Schocks, auf daß er sein erstarrtes Haupt ein wenig noch aus dem Sumpf der Langeweile und Indifferenz emporrecke. Daher das Hämmern der Boxen, das Krakeelen der Ghettopoeten, das brutale Flackern und Fletschen der Videobilder.
Ein sinnender Blick auf einen Haufen Kehricht am Straßenrand, geschweige denn die Betrachtung eines Stillebens von Francisco de Zurbarán, ist belebender und erhellender als ein Blick in die Zeitung.
Das Leben der Rose kennt, wie Angelus Silesius sagt, kein Warum. So auch wir, wenn wir uns im freien Rhythmus des Selbstgefühls oder des dichterischen Worts bewegen.
Kritik ist schon Verstrickung, Widerwort Unwortes Echo – nur Verschweigen ist Verwinden.
Wirkmächtiger als das Gegenbild ist das Verblassen der grellen Lichtreklame des eigenen Selbstbildes.
Lied des Lebens, das auf dem äußersten Grat seines Wogens, bevor es ins Dunkel stürzt, Schaumkronen schillern läßt.
Um uns selbst zu wissen impliziert die tragische Gewißheit, sterblich zu sein.
Unser Selbstempfinden und Selbstgefühl ist eine Form der Verdichtung des Lebens und der Ekstase, wie sie uns in elementarer Weise im Schrei des Adlers, im Gesang des Wals, ja im rhythmischen Aufschwung der Qualle begegnet.
Allerdings ist, wie Heidegger betont, die Ekstase des menschlichen Daseins zeitlich strukturiert, während das, was wir animalischem Leben an Selbstgefühl zusprechen, punktuell auf den Augenblick gerichtet bleibt.
Die Tatsache, daß der Hund keine Biographie nach Art seines Herrchens hat, ist eine Folge seiner Unfähigkeit, mittels einer semantisch hinreichend strukturierten Sprache und der grammatischen Temporalformen des Verbs auf vergangene Ereignisse Bezug zu nehmen.
Auf vergangene Ereignisse Bezug zu nehmen erfordert ihre Individuierung anhand des Begriffs, der sie bezeichnet. Der Hund kann sich nicht daran erinnern, daß er vor einer Woche mit Herrchen zum ersten Mal morgens im Stadtwald war, weil er den Begriff „Stadtwald“ und „mein Herrchen“ nicht erfassen und anwenden kann, geschweige denn die Begriffe „Tag“, „Morgen“ oder „Woche“.
Sprachliche Bezugnahme ist Bezugnahme auf die Identität eines Begriffs; wir verstehen, daß „Morgenstern“ und „Abendstern“ „Venus“ bedeuten, wenn wir wissen, daß sie sich auf denselben Begriff beziehen.
Das Eichhörnchen hat sich gemerkt, wo es die Nüsse versteckt hat; aber es verfügt nicht über das Wissen, das uns sagen läßt, daß es sie vor einer Woche im Wurzelgrund der Eiche in unserem Garten vergraben hat. Das animalische Gedächtnis ist eine Verzeichnung von Merkmalen, aber kein Wissen oder Glauben hinsichtlich raumzeitlich identifizierbarer Fakten.
Wir stützen unsere Annahmen über vergangene Ereignisse auf Gründe; wir meinen, unser Freund habe das Konzert vorzeitig verlassen, weil es ihn gelangweilt habe oder weil ihm unwohl war. Wenn er auf Befragen einen dieser Gründe anführt, halten wir unsere Annahme für gerechtfertigt.
Dagegen vermuten wir, daß sich unser Hund von der Leine losriß, weil er die Spur eines Kaninchens aufgenommen hat; die Witterung aber war die Ursache seines Verhaltens.
Die Bedeutung der Konjunktion „weil“ ist zweideutig und äquivok, sie kann einen Satz einleiten, der einen Grund oder eine Ursache angibt; ähnlich wie die Konjunktion „wenn“, die eine zeitliche Bestimmung oder eine logische anzugeben vermag.
„Weil es zu regnen begann, beschlossen wir, zu Hause zu bleiben.“ – Der Regen ist nicht die Ursache unserer Entscheidung, sondern ihr Anlaß. Der Grund für unsere Entscheidung, nicht spazierzugehen, ist unsere Besorgnis, naß zu werden und uns zu erkälten.
Aus dem Satz „Dann und nur dann, wenn sich die Erde um sich selbst dreht, gibt es den Wechsel von Tag und Nacht“ folgt der Satz „Wenn es keinen Wechsel von Tag und Nacht gibt, dreht sich die Erde nicht um sich selbst.“ Dies ist offenkundig kein empirischer Satz, sondern eine logische Folgerung, deren Gründe wir uns bewußt machen, wenn wir sie durch die Anwendung der Regeln für gültige Schlüsse rechtfertigen.
Kaum daß der Freund dir versehentlich auf den Fuß getreten ist, sagt er „Entschuldige!“ – Er könnte seine Äußerung mit der Konvention begründen, die uns Höflichkeit oder ziviler Umgang auf den Leib geschneidert hat. Doch ist seine Äußerung weder eine Art unwillkürlichen Reflexes noch hat er sie aufgrund von reiflicher Überlegung gemacht, die sich durch plausible Gründe rechtfertigen läßt.
Auch Äußerungen, Gesten, Verhaltensweisen, denen keine Überlegung und bewußte Entscheidung vorausgehen, können wohlbegründet sein und post festum durch gute Gründe gerechtfertigt werden.
Sie wirbeln Staub auf und beschweren sich über die schlechte Sicht.
Leiden, meint der Erwählte, ist die Quelle der Einsicht, Freude, der ekstatische Mystiker, die Quelle der Liebe. Beide Quellen können getrübt werden, durch Einlaß von Tranquilizern oder von Halluzinogenen, wie sie die Apotheke und die Unterhaltungsindustrie für uns bereithalten.
Die Kultur erblüht mit der Rose Schönheit im Garten der Musen, sie welkt dahin, wenn der Garten mangels hegender Hände verwildert oder unter den Fußtritten einfallender Barbaren verwüstet wird.
Durch dieselbe Geste, denselben Seufzer, denselben Augenaufschlag fühlt sich der Glückliche erhoben, der Unglückliche vernichtet.
Die Entlarvung großer religiöser Versprechen im Kitsch.
Die ihren Hyperion, ihren Empedokles, ihre Diotima dem Sturmwind (oder war es ein lähmender Scirocco?) auf den „Tausend Plateaus“ von Paris aussetzten, auf daß ihre Syntax wie Weidenbüsche zerriß und ihre Semantik wie trübe Tropfen von den Sprossen der Rhizome rann, sind heute kaum noch als Staubkörner in der zurückgebliebenen Wüste erkennbar.
Alle wissen um das Haar in der Suppe, alle warten darauf, daß einer es erwischt und angewidert das Gesicht verzieht.
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