Das Gesetz des Ausgleichs
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Im schwarzen Wasser spiegeln sich die bunten Lichter von Bord des weißen Schiffes, von dem Fetzen heiteren Gesanges, Lachen, Klirren von Gläsern ans Ufer herüberwehen; der dort in der Einsamkeit des Abends, seines Abends, verharrt und sie vernimmt, sieht in den farbigen Schlieren des Lichts, die von den Wellen fortgespült werden, die Unerfüllbarkeit aller Sehnsucht, die Verlorenheit des menschlichen Daseins.
Je inniger, strahlender, sublimer der Klang emporsteigt, wie bei Bruckner, umso schwindelerregender, bestürzender, klaffender die Leere, die sich unter uns auftut.
Nur das vollkommene Kunstwerk, wie Dantes Göttliche Komödie, Bachs Wohltemperiertes Klavier oder Goethes Faust, zeigt die innige Totalität des Lebens, die harmonische Einheit seiner Stimmen und Gegenstimmen.
Das Ideal des uomo universale scheint an jenen, denen man seine Verwirklichung zuzusprechen geneigt ist, nur schattenhaft und fragmentarisch auf.
Dem Asketen des Schweigens hängt der Mund schief.
Das beherrschende Thema des menschlichen Dramas, ob Tragödie oder Satyrspiel, Komödie oder Farce, ist der Gegensatz des männlichen und weiblichen Geschlechts.
Der große Dichter und der außerordentliche Künstler vermögen dem Gegensatz in glücklichen Augenblicken mittels des Spiels und Widerspiels von Licht und Schatten, Sonne und Frucht, Wort und Stille, Linie und Leere Ausdruck zu verleihen.
Die Behauptung, Licht sei ein Teilchen, und die Behauptung, Licht sei eine Welle, bilden keinen Widerspruch, sondern einen komplementären Gegensatz.
Der Gegensatz von Vernunft ist nicht Unwissen, sondern Dummheit.
Wir können unsere Entscheidungen und unsere Theorien nicht auf irgend sichere Fundamente von Gewißheit gründen; wir müssen im Zwielicht des Ungewissen handeln und können unsere Theorien nur auf empirische Annahmen stützen, die ihrer Natur nach nie vollständig beweisbar sind.
Es ist vernünftig anzunehmen, daß die Sonne morgen wieder scheinen wird; aber dies ist eine auf zahllosen vergangenen Beobachtungen fußende empirische Vorhersage; doch keine Vorhersage kann den Grad der Gewißheit eines mathematischen Beweises haben.
Es ist mit der Gesamtheit unserer wissenschaftlichen Annahmen nicht unverträglich anzunehmen, daß die Sonne morgen nicht wieder scheinen wird; aber es ist wenig vernünftig.
Wer etwas dem anderen verspricht, macht bekanntlich keine Voraussage über sein zukünftiges Verhalten; wenn man die Zusage des Freundes, das ausgeliehene Buch morgen wieder auszuhändigen, als Voraussage mißversteht, wird man sein Versprechen nie ganz ernst nehmen, weil Prognosen immer problematisch sind; aber dies wäre unvernünftig, denn vernünftigerweise gilt uns die in der Vergangenheit erprobte Zuverlässigkeit des Freundes und unser darauf fußendes Vertrauen mehr als der theoretische Zweifel.
Die Vergangenheit ist die Lehre, daß die Szenerie wechselt und die Dialoge und Monologe mal simpler gestrickt, mal dichter gebaut sind, aber die Masken, Handlungsverläufe und Intrigen bleiben; man gibt sich alle Mühe, steigert sich, bisweilen ins Manierierte, bisweilen ins Groteske; doch vergebens hofft man auf den Applaus eines erhabenen Publikums, der Götter; oder gar auf das Trampeln und Zischen eines weniger erhabenen Publikums, der Dämonen.
Die Schildkröte trägt ihr eigenes Gehäuse; das gibt ihr Sicherheit, aber verlangsamt ihren Schritt.
Die Antilope, das Rehwild, die Maus sind hellhörig und wachsam bis in den Schlaf, flink und geschickt bei den Sprüngen und Schlenkern ihrer Fluchtbewegungen; aber gegen die Pranken des Löwen, die Zähne des Wolfs, die Krallen des Uhus haben sie keine Gegenwehr.
Der feinsinnige Dichter schenkt der Geliebten, was in der Dämmerung noch ihr leuchtet, die Blume des Munds; aber in der Angst der Welt versagt er, ein Kind schenkt er ihr nicht.
Ein Unhold des Lebens, ein Trunkenbold und Hurenbock wie Verlaine schreibt die zartesten Gebilde in den reinen Schnee der Einsamkeit, legt die keuschen Knospen sublimer Hymnik auf den Altar der jungfräulichen Mutter.
Drei Brüder erhalten zu gleichen Teilen das väterliche Vermögen ausbezahlt. Der erste vergeudet es im Bordell und in der Kneipe, er endet in der Gosse; der zweite leiht es zu Wucherzinsen aus und verschanzt seinen nagenden Geiz und Verdruß hinter den Mauern einer prächtigen Villa; der dritte, ein fahrender Sänger, vergräbt es unter einem Baum, den nach langen Fahrten wieder blühen zu sehen er in später Zeit heimzukehren willens ist; doch der Wanderer gilt für verschollen und der Baum ward längst umgehauen.
Das schöne, schlichte Bild der unmöglichen Hoffnung, der frommen Einfalt: „Rose ohne Dornen.“
Der Feinsinnige, der sich in den Disteln des Alltags verfängt, wird seine Wunden nicht zu anklägerischer Demonstration vorweisen.
Der goldene Wein, der nur in dunklen Gewölben heranreift.
Der kluge Ratgeber, der sich selbst nicht zu helfen weiß.
Der Mann, zum Schutzgeist der reifenden Frucht und der nährenden Mutter berufen, übt die hellste Wachsamkeit und die schärfste Intelligenz im tödlichen Handwerk der Jagd und des Kampfes.
Unser Begriff von Liebe ist, jenseits der heißen Tränen des Eros, eine seltsame Mischung milder Muttermilch und herben väterlichen Honigs.
Warum ist der Mann in mathematisch-logischer und technischer Intelligenz der Frau von Natur aus überlegen? Er entwickelte sie, sein genetisches Potential taktend, in tausenden von Jahren bei der geometrisch präzisen Vermessung von Ort und Abstand der Jagdbeute und des herannahenden Feindes, in der Herstellung wirksamer Waffen, in den Berechnungen des Saat und Ernte ausweisenden Kalenders und der ihn bedingenden Umläufe der Gestirne.
Der Schoß und die Sanftmut der Frau, das Geschlechtsteil und die Mordlust des Mannes: coincidentia oppositorum oder wie Heraklit es nannte, gegenstrebige Harmonie.
Das universale Gesetz des Ausgleichs zeigt sich in der ungleichen Verteilung der Begabungen und Temperamente, ob bei den Völkern oder Kulturen, bei den Geschlechtern oder Individuen.
Das mathematische Genie, Pascal oder Wittgenstein, fällt im von wohlriechenden, gebildeten Damen geführten Salon geistreicher Plauderei in betretenes Schweigen; das heitere Gemüt verdunkelt sich vor der gefurchten Stirn des Tiefsinns; die vom wilden Strahl der Sonne gekränkte Sanftmut zieht sich in die Laube der Dämmerung zurück.
Nichts Neues unter der Sonne, dies ist die Lehre von der Sinnlosigkeit allen Geschehens; doch daß ein Mozart erschien, ein Bruckner, mag sie nicht widerlegen, aber läßt die Seele, so verloren und ausgesetzt sie immer sei, nicht ganz mit sich allein.
Der Teufel hebt bei der 4. Sinfonie Bruckners, wenn sich der Klang im Finale zu den lichten Höhen einer uns einzig durch ihn offenbarten Herrlichkeit emporschwingt, der Sonne gleich, die den Schnee des fernen, unbesteigbaren Gipfels streift und erglühen läßt, ein wütendes Geschrei an; er hat ihren Sinn begriffen.
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