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Charakterbilder

24.01.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Jemand bekommt den Spitznamen „Katze“ angehängt, sei es aufgrund der Wendigkeit, Anmut und Spannkraft seiner Bewegungen, sei es wegen der Listigkeit und Gerissenheit seiner Einfälle, Ausfälle oder Überfälle (er könnte ein Tänzer, Diplomat oder Dieb sein).

Wir sprechen von Charakteren und Typen wie dem Schwätzer und dem Schweiger, dem Besserwisser und dem Nörgler, dem Karrieristen und dem Jammerlappen, dem Intriganten und dem Muttertier, dem Geizigen und dem Prasser, dem Schelmen und dem Miesepeter, der Kindfrau und der Dame, dem Ritterlichen und dem Egoisten, dem Kämpfer und dem Schwanzeinzieher, dem Grandseigneur und dem Betrüger und noch manch anderem.

Der Charakter steht wie eine Statue auf ihrer Basis, die Basis besteht aus genetischem Material, die Gestalt wurde von Hammer und Meißel des sozialen Drucks geformt.

Charaktere wie der Scharlatan und Weltverbesserer, der Besserwisser und Schwadroneur, der Geizige und Erbschleicher, der Liebeskranke und Heiratsschwindler sind der Stoff der Komödie eines Plautus, Terenz und Molière, den sie zwischen den Mahlsteinen der Intrige zur allgemeinen Erheiterung zerreibt.

Die Charaktere der Komödie neigen zur karikaturhaften Zuspitzung, wenn sie einander spiegeln oder einer sich im Zerrspiegel des anderen begegnet, der Liebessüchtige sich an das leichte Mädchen hängt, der bigotte Fanatiker in eine Gruppe von Anarchisten gerät oder der vom Glauben abgefallene Priester Seelsorge bei einem reumütigen Verbrecher ausüben soll.

Es gibt Charaktere, die sich unmittelbar zu ihrer schicksalhaften Lage verhalten, wie dem Alter oder der Geschlechtlichkeit; so der verbitterte Alte oder der die Spuren des Alters übertünchende Beau.

Der schicksalhaft eingepflanzte Charakter ist die Hohlform für die Maske der historischen Persönlichkeit, so der heroisch tatendurstige und ruhmsüchtige Charakter eines Caesar, Napoleon oder Mussolini.

Charakterzüge können kohärent oder auf paradoxe Weise mit den Begabungen zusammenspielen; der selbstverliebte Schwätzer wiederholt nur gängige Phrasen, der Stotterer Demosthenes wird ein origineller Redner.

Ohne den Tatmenschen-Charakter eines Caesar können wir keinen Rubikon überschreiten.

Neurose und Psychose betreten ihr Machtgebiet und Imperium über die Schwelle des Charakters; der Gewalttäter hat sich schon als Kind an den Tränen des Spielkameraden geweidet, dem er das Spielzeug wegnahm und zertrümmerte; der Geizige, der Schüchterne, der Eckensteher neigt eher zur paranoiden Psychose als der Verschwender, der Frauenheld, der Anführer.

Der Spieler möchte die Allmacht des Todes überlisten; da er keine Bande des Ernstes und keine ernsten Bindungen knüpft und eingeht, das Feld der Verantwortlichkeiten ungesät und wüst hinterläßt, hofft er das Zerreißen der Lebensfäden nicht hören, das Verderben der Frucht nicht mitansehen zu müssen.

Fruchtbarkeit ist das Kennzeichen des reifen Charakters; doch kann er sie nicht wählen, wie die zur rechten Zeit eingesenkte Saat bedarf er des guten Wetters.

Der Gierige haut sich den Magen voll, kippt den Wein herunter; doch die subtile Harmonie der Gewürze, die Blume des edlen Geschmacks entgeht ihm.

Wir finden auch hier die Lehre Heraklits vom Ausgleich der Gegensätze bestätigt.

Der eine hat mit tausend Frauen geschlafen, doch keine geliebt; sein einsamer junger Freund bewundert ihn und wird von Mißgunst zernagt und Selbsthaß; sie sind beide elend.

Der fanatische Weltverbesserer ist unglücklich, denn sein eigenes Dasein ist ihm zuwider, doch daran bessert er nichts.

Der schüchterne Vergil, der weltkluge Horaz, der verweichlichte Ovid – das sind bonmothafte Charakterisierungen, die nur andeuten, aber nicht erschließen.

Die antike Komödie führt Charakterbilder aus, Plutarch und die französischen Moralisten der Klassik beschreiben sie; doch wie und inwiefern wir solche Bilder und Beschreibungen verstehen, ist noch unentdeckt.

Die Beschreibung des Charakters zu verstehen ähnelt dem Mit- und Nachvollzug der Grundlage des Denkens, der Denkerfahrung der gültigen logischen Folgerung. Wenn alle Spielernaturen sich der sozialen Verantwortung entziehen, und alle, die sich der Verantwortung entziehen, unreife Charaktere sind, sehen wir unmittelbar ein oder dünkt es uns unmittelbar evident, daß alle Spielernaturen unreife Charaktere sind. Doch können wir diese korrekte logische Folgerung nicht durch eine weitere Beschreibung begründen, ohne daß wir von der formalen Struktur gültiger Schlüsse – Gilt: Alle A sind B, und gilt: Alle B sind C, so folgt: Alle A sind C – nicht wiederum Gebrauch machen.

Hier greift die Lehre von der Evidenz, die nicht nur in der Grundlage der Logik, sondern auch in der Psychologie ihre Anwendung findet.

Den Charakterzug der Gier können wir nicht ausfindig machen und beschreiben, ohne daß wir etwa sagen: „Er hat den Wein gierig heruntergekippt“ oder: „Er hat das Mädchen gierig geküßt.“

Wir finden die Form der Evidenz ebenso im ästhetischen Urteil; wir können die Anmut eines Ganges, die Grazie einer Pose nicht beschreiben, ohne zu sagen, daß ihr Gang anmutig war, die Neigung ihres Kopfes Grazie ausstrahlte.

Wir können solche Beschreibungen nicht begründen, sondern nur verdichten, indem wir sie in ein Netzwerk korrespondierender Zuschreibungen und verwandter Begriffe verflechten; so sagen wir: „Im Gegensatz zur Anmut ihres Ganges wirken seine Bewegungen daneben steif, hölzern, gravitätisch.“ Oder: „Die Grazie ihrer Haltung gleicht der Duftigkeit und Frische einer Blume, die eben ihre von Tau benetzte Knospe entfaltet.“

Anders als Idealisten und Platoniker glauben, ist der Zusammenhang der Begriffe keine überzeitlich starre Konstellation, sondern die einen gehen auf, während sich andere verdunkeln, und dies für Rassen, Völker und Epochen; so sind uns ästhetische Prädikate wie schön, anmutig, graziös oder elegant, die der klassische Geschmack als Stilmerkmale zu schätzen pflegte, hinter der Nebelbank und den schwefligen Wolken barbarischer Unwetter entschwunden.

Aufgrund des naturalen Kerns sind Charaktere gleichsam unschuldig; wir beurteilen sie moralisch nur aus der hohen Warte wechselnder sozialer Normierungen. So erscheinen die von Livius geschilderten heroischen römischen Krieger, aber auch Heroinen wie Lucretia, die sich für die Ehre des Vaterlands oder der Vätersitte opfern, einem verweichlichten Geschlecht grundlos oder aus fadenscheinigen Gründen idealisiert.

Der männlich-heroische Charakter der Antike wird durch das diffuse Kerzenlicht des weiblich-empfindsamen Ideals des christlichen Mittealters bis hin zur Romantik verdunkelt; danach verblaßt auch dies unterm fahlen Schein der Petroleumlampe des geschäftstüchtigen Bürgers und im grellen Neonlicht der Laboratorien nüchterner Ingenieure.

Gewiß wären Charakterzüge und Haltungen wie tapfer, fromm, besonnen und gerecht von den Griechen, für beide Sphären empfänglich, das Ethische und das Reflexive, nicht ohne die exemplarischen Gestalten der Ilias und der Tragödie kanonisiert worden. Ihr fernes Echo vernehmen wir ein letztes Mal in der deutschen Klassik und Romantik. Bei Hölderlin sind sie noch einmal von ätherischem Licht angestrahlt, bei Kleist umgibt sie schon die Düsternis des Orkus.

Nur die jüdischen Patriarchen und Heroinen schweben über dem Strom der Zeiten, selbst wenn er sich rot färbt vom Blut der Opfer.

Ja, die christlichen Märtyrer und Heiligen werden im großen Hymnus noch beschworen; aber ihre Bildnisse sind zumeist zu Kunstobjekten herabgesunken.

Freilich, ein Volk ohne tragische Glut, ohne geweihte Flammen, die um die verehrten Bilder der Heroen und Heiligen flackern, geht in eine lichtlose Zukunft.

 

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