Brüderhaus Koblenz, Kindertrakt
Was hattest du zu beichten, damals? „Mein Vater, vergib mir, ich habe gesündigt!“ Widerlaut und Widerwort? Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Handlungen. Allein oder mit anderen? Geklaut hast du nicht, damals nicht, mein Lieber. Gott hatte dich nicht verlassen, doch warst du schon auf dem Sprung, ihn zu verlassen. Erste Induktionen durch Berührungen und Blicke. Das war später, als sie ihren überquellenden Busen dir im Gedränge der Bushaltestelle in den Rücken stieß. Hannelore, Eva, Burgel? Nein, Hannelore. Und wie du knallrot anliefst, wenn der Name ihres Vaters wie ein Stein auf den Mittagstisch fiel, der war ja Mitglied im Schützenverein wie Großvater auch. Zehnmal „Vater unser“. Fünfmal „Gegrüßet seist du, Maria“.
Der Kindheit großen Wahrheiten eine war der Schmerz. Nächtens das Pochen, das Glucksen, das Ziehen. Als schütteten stinkende Dämonen aus entmarkten Knochen giftschäumenden, heißen Sud in das rechte Ohr, das böse Ohr. Sie ließen nicht eher ab, bis dass Wimmern und Jammern dich auf den mit Glasscherben bestreuten Strand des Halbschlafs warfen. Vater trug dich seelenloses Bündel auf dem Arm durch das Zimmer, immer von einer zur anderen Ecke. Dann kam der dumpfe Mollakkord von Schule, Dr. Wrede, HNO, Hohenzollernstraße, und Schmerz. Dr. Wrede spähte mit dem Spekulum, unanständig mit gespreizten Beinen über dich gebeugt, dir in die Nasenlöcher und das Ohr. Hörprobe. Du wurdest ins hintere Eck platziert, Dr. Wrede nuschelte etwas in die vorgehaltene Hand. Hast duʼs vernommen? Bei Nichthören bist du wieder durchgefallen und wurdest herabgestuft in den Hierarchien der Lebenden zu den hinteren Reihen der Lebenssimulanten zweiter Stufe, dritter Stufe …
Brüderhaus Koblenz, Kindertrakt. War die Mutter in der Kapelle des Krankenhauses, in der sie auch kniete, als später der Großvater hier lag, dann der Vater? Sicher. Auf einem fahrbaren Bett mit Kindersicherung aus weißen Gitterstäben rollten sie dich in den OP. Auf den Operationsstuhl wurdest du festgeschnallt, damit das Zielobjekt, die entzündeten und eitrigen Mandeln, Dr. Werde nicht aus dem Blick geriet. „Du musst jetzt tapfer sein!“ Und ein kalter, äthergetränkter Lappen wurde dir mit harter Hand auf das Gesicht gepresst. „Zähle bis zehn!“ Kamst du bis vier, fünf, sechs? Du bist schwerelos durch ein heftiges, lautloses Schneien gefallen. Du hattest keine Kehle mehr, um nach der Mutter zu rufen. Du hattest keine Hände mehr, um dich an ihrem schwarzen Haar festzuklammern. All deine Schulhefte, der Schulranzen, die Spielsachen, Schuhe und Socken waren tief unter den anschwellenden Schneemassen vergraben. Zwei blaue Augen wanderten auf der grellen Schneewand hin und her, sie ließen dich nicht los. Wer rief nach dir, rief deinen Namen?
Du erwachtest vom Würgen des Erbrechens von Eiter und Blut, das einer der Brüder in einer blechernen Schüssel auffing. Dann verging der Tag und die Nacht, die Zeit verging. Die Abende wurden lang bei der Sehnsucht, die das Quietschen der Straßenbahn dir ins Herz schnitt. Dann kam abends der Vater. Er brachte dir ein blechernes Szenarium von Indianern, Trappern, Pferdchen und einem Indianerzelt mit einer Feuerstelle, in der eine winzige Birne Glut gab. Er war also da und hatte dich lieb. Aber warum kam er denn allein? Und die Mutter kam allein, brachte Eis als Wohltat für die wunden Stellen im Hals. Warst du der Grund, weshalb sie das Leben nicht mehr teilten? Dein Kranksein war doch kein solcher Grund!
Mit einem Gogo-Mobil, das gehörte als große, neue Errungenschaft der Hebamme, der Nachbarin, fuhr sie dich über die Trierer Straße, nach Hause, ins Oberdorf. Der Sonne entgegen, während tief in den Brombeerbüschen auf dem Metternicher Kimmelberg die kleine, blass-gelbe Honigscheibe des Mondes hing und ihr wesenloses Dasein träge vertröpfelte. Du wähntest, zwischen den Häusern die lieblichen Wellen der Mosel aufblitzen zu sehen. Als würde das Leben dir lächeln.