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Blutegel oder die Rache des Schnauzbarts

23.05.2017

Kleine Befragung einer großsprecherischen Gesinnungsästhetik

Weil die Schwarz- und Braunhemden des Schnauzbarts beim schwülstigen Dröhnen der Lichtdome pathetisch ergriffen und bis in die Hoden erstarrt waren, soll ich mir heute das Pathos der Alpensinfonie von Richard Strauss durch synchrones Einblenden von KZ-Gedenkstätten neutralisieren?

Weil seine martialischen Kapellen tonal ideal pfiffen und seine dummen deutschen Michel ihm mit einem heruntergewürgten Dirigierstock gesinnungsästhetisch korrekt den Marsch bliesen, soll ich heute atonal breitgetretenen Quark herunterwürgen, der keine halbwegs sinnige Imagination weckt noch irgendeinem Gefühlszwerg auf die Tonschwelle hilft?

Weil seine Schergen unliebsame Zeitgenossen stigmatisierten und sich vom Halse schufen, soll ich heute den Garten meiner Verse Tag und Nacht unverschlossen lassen für die Invasion exotischer Raupen und die fliegende Saat wuchernden Unkrauts?

Weil soviel an irregeleiteter Liebe und verblendeter Verehrung des deutschen Michels den Schnauzbart bürstete und wichste, soll ich heute rituell gebeugten Hauptes mir unrhythmisch an die schuldige Brust schlagen, soll Kahlschlag begehen an meinem Vers und ihm das Liebescharwenzeln und Liebetänzeln des Endreims kujonieren?

Weil Schönes zu gestalten und ihm harmonische Wohlordnung in Rhythmus und Reim angedeihen zu lassen eine Form der liebenden Selbsterhöhung und Selbstverklärung der Sprache des eigenen Volkes darstellt, soll mir dies durch im Schatten des Schnauzbarts gesinnungsästhetisch verordnete völkische Selbsterniedrigung und Selbstverstümmelung untersagt sein?

Weil die Ordnungsbegriffe im Schatten des Schnauzbarts steril und starr waren, soll ich meine Verse in das Tohuwabohu des Chaos schicken oder in die dunkle Blutwurst hingemetzelter Begierden stopfen?

Weil die blonden Hünen vor dem Schnauzbart im Stechschritt schritten, soll ich meinen Versen die Füße amputieren?

Weil ER die Völker des Ostens mit seinem Generalplanwahn vergewaltigte, soll ICH die Muttersprache von grölenden Berserkern notzüchtigen lassen?

Weil ER und seine Kunstschranzen Jazz verabscheuten, soll ICH meine sanften Rhythmen mit schwarzem Getrommel zerreißen und meine zarten Blumen in den Ausguß der quäkenden Saxophone quetschen?

Weil ER das Mysterium des Bluts hygienisch-eugenisch entweihte, soll ICH in die Venen meiner Verse den giftigen Sud babylonischen Gelalls und Geheuls injizieren?

Weil ER das Mutterkreuz verleihen ließ, soll ICH die weibliche Stimme meiner Verse mit der rauchigen Whiskeykehle einer Salonnutte krächzen lassen?

Weil SEIN Kunstanspruch sich kaum über die dunstige Horizontlinie und die aufgehübschten Fassaden der Ansichtskarten erhob, soll ICH mir heute den philosophischen Kopf über ein ausgestelltes Pissoir zerbrechen oder meine geistreiche Nase von ekstatisch auf die Leinwand ejakulierten Blut- und Urinklecksen beleidigen lassen?

Weil ER eine Liste der Gottbegnadeten führen ließ, soll ICH meinem künstlerischen Instinkt abschwören, der bei den ersten Takten, den ersten Lauten die Originalhandschrift eines Genies wie Bruckner oder Strauss, wie Mörike oder Rilke wahrnimmt, und die Gnade der Eingebung leugnen, die dem Inspirierten die Aura des unnachahmlichen Meisters verleiht?

Weil ER einem erstarrten und pompösen Klassizismus huldigte, soll ICH die Grazie der antiken Geste verschmähen und vor ausdrucklosen Betonklötzen niederknien?

Weil ER einem heroisch versteiften Zerrbild des Gesunden anhing, soll ICH die seelisch und geistig Degenerierten bejubeln, die auf blutverkrusteten Brettern ihre Schüttelkrämpfe vergolden lassen?

Weil ER wähnte, das Abendland unter seiner Führung gegen den Ansturm der Barbaren retten zu müssen, soll ICH die süße Frucht meines abendländischen Lieds auf die Stacheln der Wüstendisteln oder die Dolche der Minarette spießen?

Weil ER die eigene Nation über alle anderen stellte, soll ICH mit getürkten Sprüchen oder asphaltschwitzenden Yankee-Oden Vaterlandsverrat begehen?

Weil ER in paranoischer Wut ein Retortenideal von Sauberkeit und Reinheit aus dem Uringestank in den Wiener und Berliner Hinterhöfen der Golden Twenties aufrichten wollte, soll ICH die reinen Blüten Hölderlins in die staatlich subventionierte Jauche des Kulturbetriebs tunken?

Weil ER in paranoischem Furor sich an dem Heiligen Volk verging, soll ICH heute undeutsch näseln und meine Verse durch den quietschenden Wolf eines unendlichen Kaddisch drehen oder geheuchelte Tränen aus dem Büßertüchlein eitler Elegien wringen?

Weil SEINE Kriegsmaschine nur aufgrund eiserner Mannesdisziplin zur Höllenmaschine werden konnte, soll ICH heute dem heroischen Kampf mit den Dämonen der Lüge und des Sprachbetrugs um den besten, genauesten, sublimsten Ausdruck eunuchenhaft entsagen und weibisch hingerekelt bei geöffnetem Fenster zur Welt jedes hereinfliegende Piepsen, Quietschen und Röhren ergeben zum Cantus firmus meiner Verse machen?

Weil ER im Namen des Heils den Weg des Unheils für sein Volk bis in den Untergang ging, soll ICH der Heiligung der Seele abschwören, die sich wie eine Blütenflocke aus der Stille zwischen den Verszeilen auf sie herabsenkt und für den Augenblick der Charis in der Luft schwebt?

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