„Bitte leise!“
Anmerkungen zur Einheit des künstlerischen Stils
Das große Kunstwerk gewinnt unser Herz durch die Einwirkung der Einheit des Stils, die sich gebrochen spiegelnd von Stufe zu Stufe, von Schwelle zu Schwelle bis in die Details verschattet und weiterzeugt.
Das abgeschlagene Kapitell des griechischen Tempels, die fehlende Hand eines Apoll, den Lorbeer des Bacchus können wir im Geiste ergänzen, doch den dorischen oder ionischen Säulenstumpf neben einen seelenlosen Klotz aus Beton und die anmutige Kore einer synthetischen Puppe an die Seite zu stellen oder einen gipsernen Dionysos im Eingangsbereich einer Touristentoilette zu plazieren, empört unser Empfinden für die harmonische Einheit des Stils.
„Dekonstruktion“, „Vielfalt“ und „Multikulturalismus“ sind modische Masken und Pathosformeln, hinter denen sich der erbärmlichste ästhetische Geschmack, der Ruin der Empfänglichkeit für Wohlgestalt und Wohllaut verbergen.
Einheit und Reinheit der Gestaltung und Empfindung sind nicht zuletzt Sedimente höchster Sprachkultur.
Wenn du in eine erregte Gesprächsrunde hineinrufst: „Bitte leise!“, liefert uns eine kurze Betrachtung der hier implizierten sprachlichen Funktionen die klassische Trias:
1. Expressive oder kundgebende Funktion: „Ich leide unter dem Lärm!“
2. Explorative oder erklärenden Funktion: „Es herrscht hier Lärm über Gebühr.“
3. Adhortative oder auffordernden Funktion. „Ich bitte, den Gesprächston zu senken.“
Ausdruck des Befindens, Aussage über einen Sachverhalt und Aufforderung zur Beeinflussung der Situation sind die grundlegenden sprachlichen Leistungen, Sprachspiele oder typischen Sprechhandlungen, deren entfaltete und ins Medium des Imaginären gehobene Ausformungen wir in der lyrischen Kundgabe, der epischen Erzählung und dem dramatischen Handlungsspiel wieder begegnen.
Wer den seelischen Ausdruck, der nach Stille verlangt und ruft, zum Hintergrund lyrischer Kundgabe wählt, rutscht in ein falsches Genre, wenn er vom Lärm der Fabrikhalle oder dem Geschrei der politischen Versammlung erzählt, ohne diese Sachverhalte in die Imago der Anima, das Bild der Seele, heben, und mit ihr verschmelzen, amalgamieren zu können.
Natürlich wird, wer den Ausruf „Ich leide unter diesem Lärm!“ zum Stoff und Anlaß lyrischer Kundgabe wählt, mittels Anwendung der explorativen Sprachfunktion Gegenständlichkeiten aufrufen, anreißen, apostrophieren, die jene Hölle beschwören, in der die gequälte Seele sich durch lyrische Interjektionen Luft zu machen sucht. Aber diese sind Mittel, kein Zweck, und sie gehen im Malstrom der beschworenen Ängste und Verbitterungen, in der apokalyptischen Lava unter, die aus der geborstenen und aufgeplatzten Seele emporquillt.
Wer den seelischen Ausdruck, der nach Stille verlangt und ruft, zum Hintergrund lyrischer Kundgabe wählt, rutscht ebenfalls in ein falsches Genre, wenn er sich in der dramatischen Darstellung eines Streits mit dem unruhestiftenden, krakeelenden Nachbarn ergeht, ohne den Disput auf die innere Bühne der mit sich ringenden Seele zu heben, die sich vergeblich müht, das Katzengejammer der Klage, das Heulen der kindlichen Begierden und das Zungenschnalzen einer frivolen Lustbarkeit durch die magische Einstrahlung eines kühlen inneren Monds oder die panische Beleuchtung einer geistigen Sonne zu stillen und zu befrieden.
Wer spricht, wenn das Gedicht die Wendung „Bitte leise!“ zum Stoff und Anlaß lyrischer Kundgabe nimmt? Eine Stimme, die dich anmutet und dir zumutet, deine Stimme sein zu können, wenn du dir in einer ähnlichen Seelenlage Luft zu machen wünschtest. Die Stimme des Gedichts ist demnach nicht die versteckte, maskierte, mystifizierte Stimme des Dichters, nicht sein alter ego, sondern die virtuelle Stimme des Lesers, die der Dichter ihm leiht, entäußert, schenkt.
Wer im liedhaften Ton beginnt und in einem bitter-satirischen Bonmot abbricht, erweist sich als gescheiterter Dichter und geborener Feuilletonist.
Die alte universale Kirche hat sich in viele Regionen, Sprachen und Kulturen ausgebreitet, aber die Einheit ihres Stils wahrte sie in der einen heiligen Sprache, in der einen heiligen Kulthandlung der römischen Liturgie. Die Stileinheit der Kirche kam aus dem Ausstrahlungszentrum der lateinischen Kultur.
Wer die Einheit des liturgischen Stils durch Verwendung bunter folkloristischer Einsprengsel multikuturell aufzufrischen wähnt, entlarvt sich nicht nur als religiöser Dilettant, sondern auch als ästhetischer Banause.
Auch eine Gruppe können wir nach der Einheit der Stilformen ihrer Manieren, ihrer Redeweisen, ihres lukullischen und ästhetischen Geschmacks, ja nach den Stilformen ihrer Haltungen und Bewegungen, ihrer Mimik und Gestik, ihrer Phantasien, Gelüste und Angstvorstellungen befragen.
Gardesich oder Venetisch-Friulanisch, die Sprache des Dichters Biagio Marin, welche seltene Blüte unter den vielen schönen und üppigen Gewächsen des Italienischen, und wie eigentümlich und individuell seine Voraussetzungen in der Geschichte der Serenissima, der Winde der Adria, der feuchten Lüfte der Lagunen und ihrer Inseln, der Vegetation, der Vogelwelt und ihrer Gesänge … Und gerade deshalb finden wir im Gedicht dieses Dichters all dies und seine Ausstrahlungen auf die Einbildungskraft einer zärtlich empfindenden Seele im einheitlichen Stil der Strophen, die glänzenden Kieseln am adriatischen Strand gleichen, der Reime, die wie Resonanzen aus den vom Wind bewegten Rosenbüschen, Glockenblumen und Hortensien, Orangenhainen oder der sich im azurnen Blau auflösenden weißen Wolkenfetzen auftauchen und wieder in die eintönige Brandung versinken.
Der Globalismus ist der Totengräber der regionalen Kulturen, und da alle Kultur aus dem je individuellen und einzigartigen Humus einer regionalen Landschaft und Sprache, eines individuellen Volkstums und seiner Sitten und Gebräuche erwächst, der Totengräber der Kultur überhaupt.
Das Ziel des Globalismus ist die Abschaffung aller gewachsenen Unterschiede und individuellen Lebens- und Spielformen der Rassen und Ethnien, der Völker und Geschlechter, er will die unterschiedslose Verschmelzung und Durchmischung, er strebt nach der Ersetzung des sprachgebundenen Denkens durch den Algorithmus, er strebt nach der Abschaffung des Menschen.
Da Kulturen singulär sind, kann es keine einheitliche Kultur der einen Menschheit geben. Wer dies anstrebt, und alle Kanzeln und Katheder und Redaktionen verkünden dies in den Pathosformeln reiner Moral, will in Wahrheit ihre Vernichtung.
Propheten, Priester, Weisheitsdichter, Künstler hatten einmal das Amt der Wahrer und Reiniger der Einheit der Stilformen der Kultur. Was sie für Demokratie und die freie Entfaltung des Individuums halten, ist nichts als der Freibrief für den Wildwuchs und die Verunkrautung dieses schönen Gartens.
Bevor die sich selbst generierenden und duplizierenden Fabriken und Labore die Endherrschaft übernehmen, fließt noch einmal der Auswurf aller Rassen und Völker, die Gülle aller kulturellen Residuen in einem Melting Pot zusammen und wird als großes Maskenfest der Menschheitsbelustigung gefeiert – in Wahrheit ist es ein bizarrer Totentanz.
Man muß die Chorlyrik und Pindar, die Lyriker und Tragiker der Griechen vor dem Hintergrund der Tempel der Akropolis und der großen Festfeiern ihrer Götter sehen, um die verspielte und reich gefältete Einheit ihres kulturellen Stils zu gewahren.
Unsere Agora und die auf ihr wandeln riechen nach der sterilen Atmosphäre einer öffentlichen Toilette.
Nur die Herrschaft inspirierter Priester und Propheten, die ähnlich den sorgsamen Gärtnern den Wildwuchs beschneiden und das Unkraut jäten, verspräche Rettung. Doch sie bleibt aus – zur Freude von Wildwuchs und Unkraut.