Wittgensteins Sinnbilder III – Cassiopeia
Als einmal Norman Malcolm des Nachts mit Ludwig Wittgenstein durch die Gemarkung um Cambridge streifte, soll der Philosoph ihn auf das hell strahlende Sternbild der Cassiopeia aufmerksam gemacht haben. Er behauptete, dies sei klar und deutlich als W zu lesen und bedeute „Wittgenstein“. Malcolm konterte nicht schlecht, indem er erklärte, das sei ein umgekehrtes W und also ein M und bedeute „Malcolm“. Zu seiner Verblüffung versicherte ihm Wittgenstein ganz ernsthaft, daß er sich irre.
Quelle: Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein, Ein Erinnerungsbuch, München und Wien 1958, Seite 45
Die Griechen hielten die supralunare Welt und das Licht und die Umdrehungen des Sternenhimmels für göttlich; die Ansicht, daß es jenseits der Erde eine in der Sonne und in den Gestirnen sich zeigende göttliche Welt vollkommener Harmonie gebe, ist urtümlich, ihre Reflexe beleuchten noch das Weltbild Dantes, Kopernikusʼ, Goethes.
Die verewigten Gestalten und Figuren ihrer Sagen versetzten die Griechen als Sternbilder an den Himmel, so auch Cassiopeia, die Mutter der Andromeda, die sich rühmte, schöner als die Nereiden, die Kinder des Meergottes Poseidon, zu sein. Daraufhin strafte der erzürnte Vater der Meeresnymphen die Vermessenheit und das arrogante Gerede dieser Sterblichen und sandte ein böse wütendes Meeresungeheuer, das mit Sturm und Flut Unheil brachte. Da fand sich nur ein Mittel, den Schrecken abzuwenden: Man mußte Andromeda opfern und dem Monstrum zum Fraß anbieten. So geschah es, und alle bangten um das schöne Mädchen, das am einsamen Riff gefesselt auf die Wogen starrte, ob sich der Rachen der Bestie auftue. Doch dann kam, Zeus sei Dank, der strahlende Held Perseus und befreite sie.
Solche und tausend ähnliche Geschichten erzählten sich die fabelhaften Griechen. Daß sie den Kosmos in die Welt ihrer Sagen einbezogen, scheint nahezulegen, in welchem Maße sie sich in dieser Welt heimisch fühlten, einer Welt, die schon Pascal aufgrund ihrer stummen Abgründe nichts weniger war als das Bild sinnreicher und harmonischer Bezüge. Wie scheint uns der Mythos von Eos oder Aurora zu einem bloß allegorischen Epitheton des Homer verblaßt, wer dächte schon noch, wenn ihn die Morgensonne an der Nase kitzelt, an die rosenfingrige Schöne?
Wenn freilich Wittgenstein, witzig oder ironisch, im Buch der Natur liest und vorgibt, in der Figur des Sternbilds der Cassiopeia den ersten Buchstaben seines Namens zu identifizieren, werden wir hellhörig, gewohnt die Benennung der Sterne und Sternbilder als bloße Merkhilfen für Meßpunkte unvorstellbarer Entfernungen und Strahlungszentren für komplizierte chemische Spektralanalysen zu nehmen.
Wann wird ein Gebilde von Linien oder ein Gekringel, wann ein Laut ein bedeutsames Zeichen?
Die Kerben und Einschnitte auf dem uralten Feuerstein, den man in einer steinzeitlichen Höhle entdeckt, sind nicht natürlichen Ursprungs; weil sie mit Absicht hervorgebracht wurden, scheinen sie uns etwas sagen. Doch was genau, wissen wir nicht.
Wir finden auch abstrakt wirkende menschliche oder tierähnliche Figuren, eingeritzt auf Felssteinen und im Innern von Höhlen, die uns an Piktogramme erinnern. Piktogramme sind nicht nur Stellvertreter oder stellvertretende Hinweise auf dasjenige, was sie darstellen. So sagt uns das Piktogramm eines Fahrrads an der Tür eines Zuges: „Hier können Räder abgestellt werden.“ Doch dasselbe Piktogramm hinter der Nummer und der Abfahrtszeit im Fahrplan sagt uns nicht, daß hier Räder abgestellt werden können, sondern gibt uns einen Hinweis auf den Zug, in dem Räder abgestellt werden können.
Das Piktogramm eines Kreuzes oder eines Palmzweigs neben einem Namen auf einer Zeitungsseite sagt uns, daß der Betreffende verstorben ist. Es bedeutet, der Träger des Namens sei tot. Das warnende Piktogramm eines Blitzes auf der Tür einer Transformatorenstation sagt uns nicht, daß hier öfters der Blitz einschlägt, sondern daß im Innern die Gefahr hoher elektrischer Entladungen lauert. Das Kreuz verweist auf einen wirklichen Tatbestand, der Blitz auf ein mögliches Ereignis.
Die Visitenkarte teilt uns Namen und Profession dessen mit, der sie uns überreicht hat; sie kann aber auch die Legitimation anzeigen, an der Feierlichkeit im Hause des Namensträgers teilzunehmen, wenn wir sie an der Pforte vorweisen.
Die Piktogramme für Mann und Frau auf einer Tür bedeuten nicht, daß sich dahinter gewöhnlich Angehörige des betreffenden Geschlechts aufhalten, sondern daß nur solche die entsprechende Tür benutzen sollen. Piktogramme dieser Art haben demnach keinen deskriptiven, sondern einen normativen Charakter.
Die Sonne lacht nur im metaphorischen Sinne, das Kind, das einen gelben Kreis mit einem lachenden Gesicht darin malt, gibt seinem physiognomischen Ausdrucksbedürfnis nach, weiß aber, daß die Sonne nicht wirklich ein Gesicht hat und lacht. Genausowenig stellen die Verbindungslinien des Sternbilds der Cassiopeia einen Buchstaben dar, weder ein W noch ein M.
Das lachende Gesicht der Sonne ist kein Piktogramm, denn das Kind will uns mit ihm nichts Bestimmtes sagen, sondern sein kindliches Gefühl, in einer sonnigen Welt zu sein, oder seinen kindlichen Wunsch, in einer solchen Welt zu leben, auf kindliche Weise ausdrücken.
Die urtümlichen Piktogramme und Bilder der Tiere, von der Höhlenmalerei bis zum Löwentor in Mykene, sind sowohl Ausdruck des Lebensgefühls ihrer Bildner als auch Hinweise auf die magische Kraft, die sie von den Tieren zu erhalten glaubten, oder der sozialen Macht, die sie als warnende und abwehrende Hüter der Schwelle verkörpern.
Um die Bedeutung des biblischen Alpha und Omega zu erfassen, muß man wissen, daß es sich um den ersten und den letzten Buchstaben des griechischen Alphabets handelt, der Schriftzeichen der Septuaginta und des Neuen Testaments; des weiteren, daß sich die Buchstaben auf Gottes Allmacht beziehen, die alles, Anfang und Ende, umfaßt und über die hinaus nichts darstellbar, nichts sagbar ist.
Daß sich die Bibel hier dieser Buchstaben bedient, um Gottes Größe und Allmacht zu bezeichnen, verweist auf die Bildlosigkeit Gottes und das Verbot, sich von ihm ein Bild zu machen, wie es die heidnischen Völker rings um Israel mit dem Rind oder der Schlange taten, und wie es den Juden und Christen dann in den Verwandlungsfabeln der Griechen begegnete, in denen sich der höchste Gott in einem Stier oder einem Schwan verkörperte.
Gäbe es eine himmlische Macht, die mittels der Sternenkonstellation der Cassiopeia uns Sterblichen oder zumindest Auserwählten wie Wittgenstein ein bildhaftes Zeichen in Gestalt eines W an den Himmel hätte stellen wollen, so wüßten wir nicht, was es uns sagen soll, denn es entbehrt des lebendigen Umfelds oder dessen, was der Philosoph eine Lebensform nannte, damit es als Figur eines Sprachspiels aufglänzen könnte.
Um überhaupt etwas zu verstehen, müssen wir schon etwas verstanden haben; diese Linien als den Buchstaben W zu lesen, setzt voraus, daß wir die Absicht dessen verstanden haben oder erraten, der sie uns zeigt oder für uns gezeichnet hat, und diese Absicht ist keine andere als die, uns mit dem Zeichen etwas sagen zu wollen. Es kann also kein ERSTES Zeichen, kein ANFÄNGLICHES oder voraussetzungsloses Verstehen geben.
„Sieh einmal dieses Zeichen, es verweist eindeutig auf mich, aber ich weiß nicht, wer es mit welcher Absicht und zu welchem Zweck ersonnen hat und mir nun zeigt“, diese Äußerung ist ebenso sinnlos wie die Sätze „Ich denke“ oder „Ich existiere“, wenn sie nicht in die Trivialität des alltäglichen Redens eingebunden werden können.
Es gibt keine Regel, wie das Himmelszeichen der Cassiopeia zu lesen sei, ob wie Wittgenstein meint als W oder wie Malcolm als umgedrehtes W und also als M, denn die uns hier unten geläufigen Anwendungen der Wörter „unten“ und „oben“ sind „dort oben“ am Himmel nicht anwendbar, und auch wenn wir es nicht bleiben lassen können, so ist ihre Verwendung gemäß Wittgenstein aus demselben Grunde sinnlos wie die Behauptung, die Antipoden auf der anderen Seite der Erdkugel schauten mit dem Kopf nach unten.
Das Klingelschild mit deinem Namen weist darauf hin, daß du vielleicht die Tür öffnest, wenn einer klingelt (wenn es nicht dein Namensvetter tut). Wenn auf einem Kästchen im Regal in deinem Zimmer dein Name steht, könnte das heißen, es berge deine Briefe, Dokumente, Fotos. Es sei denn, es ist leer, weil du darin einmal etwas sammeln wolltest, die Idee aber aufgegeben hast; dann bedeutet es nichts. Das Kürzel des eigenen Namens zufällig da und dort, und sei es in einem Sternbild, zu entdecken, bedeutet nichts, und sei es deshalb, weil tausend andere dasselbe Kürzel im Namen haben.
Comments are closed.