Betört und erschrocken
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
In einem riesigen Räderwerk ein dünnes, winziges Rädchen sein, das zwar mitschwingt (aber es scheint nur ins Rotieren gefächelt und vom Wind angetrieben zu werden, den die anderen echten Räder erzeugen, echt, weil sie den Sinn des Ganzen verkörpern, indem sie ihre Kraft den andern übertragen), doch in Wahrheit leerläuft.
Gehirnzellen, die nur so tun, als würden sie zur Empfindung beitragen, in Wahrheit aber schlafen.
Herumstehen, ins Schaufenster glotzen, ohne etwas zu sehen, bummeln; so tun, als sei man verabredet, als werde man erwartet, als hätte man noch eine Chance, doch keiner wird kommen, auch wenn man nervös auf die Uhr schaut oder verlegen um sich blickt.
Leere Zeit, tote Zeit, leere Augenblicke, tote Augenblicke.
Betört und erschrocken auf die Geschäftigen blicken, die Hastigen, Zielbewußten, als würden sie in höherem Auftrag unterwegs sein, einem Auftrag, den man nicht kennt, aus ihren Mienen und Hantierungen vergebens zu entziffern versucht, eines Auftraggebers, vor dem einen Schwindel ergriffe.
Betört und erschrocken auf die von irgendeiner Leidenschaft Ergriffenen blicken, von einer Gier, einem Drang, einer Wollust, einer Mordlust.
Betört und erschrocken auf jene blicken, die sich gerufen wähnen, sich berufen wissen, von Gott, vom Schicksal, von der Vorsehung. „Hier stehe ich …“
Fasziniert von der scheinbaren Gelöstheit oder Ausgelassenheit der Anmutigen, Hübschen, Bewunderten.
Das Kind, mit dem Hündchen auf dem Arm, und es lächelt, die Augen geschlossen.
Den Orgasmus des erfüllten Augenblicks – wenigstens vortäuschen können.
„Ich führe dich in ein Land, wo Milch und Honig fließt.“ – Eine solche Verheißung sich zutrauen können.
Sie gehen, gleichsam schwebend oder tänzelnd, an dir vorüber, du aber verhältst den Schritt, um zu verbergen, daß du hinkst.
Betört und erschrocken jene reden hören, die sagen, was alle sagen. Du aber hüllst dich in Schweigen, denn das Wort, das du nicht hüstelnd, nicht würgend herausbringst, ist wie ein Haar auf der Zunge.
Betört und erschrocken auf jene blicken, die so tun, als müßten sie nicht sterben.
Die ästhetische, metaphysische, religiöse Illusion der Ganzheit und Fülle, des Pleroma, wie sie Platon im Symposion den Gaukler Aristophanes nicht zufällig an der urzeitlichen Kugelgestalt des doppelgeschlechtlichen Menschen phantasieren läßt, ist die imaginäre Kompensation der unaufhebbaren Gespaltenheit der sexuellen Polarität, des unaufhebbaren Schicksals, Mann oder Frau sein zu müssen.
Die Engel sind Bruchstücke des Pleroma.
Im Halbschlaf oder kaum erwacht im Dämmerschein kleine Funken sich versprühen sehen, als wären sie Bilder der neuronalen Impulse, die nutzlos im leeren, diesigen Himmel der Langeweile aufschießen und verlöschen.
Form und Hohlform passen ineinander; nicht so Mann und Frau, trotz der Illusion der sexuellen Vereinigung.
Im Tierreich verbleiben die Weibchen der höheren Arten zumeist mit den Jungen in engerer Gemeinschaft. Die Vaterschaft gegenüber den Nachkommen zu übernehmen und tätig auszuüben war das Privileg der patriarchalischen Familie, die zumindest in den westlichen Metropolen zu verschwinden scheint.
Schubert hören und so tun, als sei man schon gestorben, ein sich nurmehr vage gegenwärtiger Schatten im Totenreich.
Der weibliche Schoß ist wie das Fragezeichen hinter einer rein rhetorischen Frage; der Phallus ein nur ephemer sich behauptendes Ausrufezeichen.
Die mehr vitale als intellektuelle Dummheit des Mannes, die sich darin bekundet, die rhetorischen Fragen, die das Leben aufwirft, in mit großem Ernst ausgebrüteten philosophischen Systemen beantworten zu wollen; Fragen, die eher Ausrufen gleichen wie: „Bin ich nicht schön?“ oder „Ist es nicht zum Verzagen?“
Ja, der Kampf ist die Domäne des Mannes; doch sein einziger Sieg die tapfer hingenommene Niederlage der Selbstüberwindung.
Das vollkommene Gedicht ist der Muschel gleich: von undurchdringlicher Konsistenz, harmonisch verschlungener Form, wunderlich schimmerndem Glanz der Oberfläche – ein Kind findet sie am verwaisten Strand und hebt sie an sein Ohr, den Widerklang meergrüner Abgründe zu vernehmen; und hat es sich satt gehört, wirft es sie in hohem Schwung in die Brandung.
Betört und erschrocken die großen Worte vernehmen, die sie dem einzig verbliebenen Gott, dem Götzen des Fortschritts, weihen.
An den Fortschritt glauben ist die Kehrseite des Unglaubens an die Wahrheit des gegenwärtigen Lebens.
Die stroherne Puppe des Fortschritts und der aufgeklärten Ratio hat keine nährenden Brüste.
Ein Tropfen Blut aus dem Kelch des Josef von Arimathäa gegen all die Tintenkleckse der Federfuchser, Philosophen und Dichterlinge.
Die grelle Lampe des Gedankens blendet das nur im Dämmerlicht aufkeimende Leben.
Die Atmosphäre ist ursprünglicher als die Tropfen, die sich daraus absondern und kondensieren, um kurze Zeit im Licht zu funkeln.
Unter dem Glaspalast der universalen Weltvernunft und des alles umgreifenden Weltstaats befinden sich die Verliese und Folterkammern ihrer Schergen, die sich an der Oberfläche als Friedensstifter tarnen.
Die mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Roboter sind eine Farce auf den lebendigen Organismus, die Bewunderung nur bei jenen Scheintoten finden, die ihnen gleichen wollen, im Wahn, dem Gewürm des Grabes zu entkommen.
Die Propheten sind die Exegeten des Schöpferworts. – Doch bisweilen scheinen sie selbst im Labyrinth der Sprache herumzuirren.
Ist die Sprache ein Haus, dann poltern unter seinem Dach Gespenster, dann sind im Keller Leichen verscharrt. Die Concierge thront hinter der Pforte, eine alte Eule, deren wachen Augen nichts Verdächtiges entgeht, die Hausbewohner leben, wenn es gut geht, aneinander vorbei, wenn schlecht, bilden sie idiomatische Inseln, wo sie sich hinter sprachlichen und rituellen Hürden verschanzen.
Die Sprache ist eher, will es dem Dichter scheinen, einem Dickicht ähnlich, in das er mühsam Schneisen schlagen muß, um voranzukommen. Klettert er auf einen Baum, um sich einen Überblick zu verschaffen, sagt ihm der Philosoph, sieht er nichts als Bäume, Bäume und wieder Dickicht. „Sind wir uns hier nicht schon einmal begegnet?“ fragen sie sich.
Wir können nicht wissen, ob wir in demselben Zimmer aufwachen werden, in dem wir eingeschlafen sind. Es könnte ein anderes sein, in einer anderen Stadt, einem anderen Jahrhundert; wir aber auf wundersame Weise über Nacht mit den erforderlichen Kenntnissen ausgestattet, während die nicht mehr dienlichen ausgelöscht wurden, lebten weiter vor uns hin, auch wenn wir eine andere Sprache sprächen, mit einer uns bisher unbekannten Frau verheiratet wären und von einem fremden Kind Vater gerufen würden. Wären wir dieselben Personen?
Betört vom Gleichmut, der Ergebenheit, der Gelassenheit des Nachbarn, erschrocken vor dem Abgrund des eigenen Inneren, zögernd beim Übertreten der Schwelle des eigenen Hauses.
Betört von der Zuversicht jener, die keine Bedenken tragen, zu sagen, was immer sie sagen, erschrocken wie der Hund vorm eigenen Schatten, den Schatten des Ungesagten zu gewahren, den jedes hervorgebrachte, ans Licht gezerrte Wort zu werfen scheint.
Als wäre das Wort des Schöpfers im Labyrinth der Schöpfung verhallt.
Der schöpferische Poeta divinus löst den großen Heerführern und Propheten die Zunge, um sein Volk aus der Gefangenschaft zu führen, es vor dem Schwert der Feinde zu erretten. Aber das im Sohn inkarnierte Wort verwandelt der Ritus in Speise und Trank, die stumm verzehrt zu werden pflegen.
Betört von der Anmut, die, ihrer sinnlichen Reize kaum bewußt, die glänzende Oberfläche der Dinge leichthin streift wie die Schleppe des Brautkleids die filigranen Ornamente auf den Fliesen des Mittelgangs der Kirche; erschrocken vor der Taubheit seiner rauhen Hände, wenn man in banger Selbstbeobachtung erstarrt den Samt der Wange nicht fühlt, die sich einem zugeneigt hat.
Betört von den Stimmen, die sich, zu Chören verschmolzen, wie die zu einem seligen Tanz vereinten Blüten auf der Welle ins Offene tragen lassen; erschrocken vor dem sich selbst zum Rätsel gewordenen Pochen des Herzens, das einsam wie das Hämmern des Gefangenen von der Mauer des Verlieses widerhallt.
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