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Begriffliche Klärungen VII – Verstehen

14.02.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wenn ich dem Freund gegenüber den Wünsch äußere, die Erzählung zu lesen, von der er mir so angeregt sprach und die in dem Sammelband mit Erzählungen enthalten ist, den er besitzt, versteht er mich recht und bringt mir bei seinem nächsten Besuch das Buch mit, auch wenn ich nicht ausdrücklich gesagt habe: „Bring mir doch bitte das Buch mit.“

Ein Quadrat ist das, was wir mit der Definition meinen: geometrische Figur auf der Ebene mit 4 Seiten, von denen jeweils 2 im rechten Winkel zueinander stehen. – Für das, was wir mit „Buch“, „eine Weile“ oder „Angst“ meinen, haben wir keine Definition gleicher Art und Strenge, ohne an der korrekten oder sinnvollen Verwendung dieser Worte irgend gehindert zu sein.

Bring mir das Buch, das meint nicht: Bring mir die bedruckten und zusammengebundenen Seiten, bring mir die Wörter, die Silben, die Buchstaben auf all diesen Seiten; auch wenn, was wir mit Buch meinen, all dies impliziert.

Sagt der Freund: „Warte hier eine Weile, ich bin gleich zurück“, warte ich eine gute Weile (aber nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag), doch nach dieser guten Weile werde ich unruhig und halte Ausschau nach ihm. Freilich verstehe ich, was er meint, auch wenn eine Weile auf keiner Zeitskala exakt abgebildet ist.

Daß dir angst und bange vor der Prüfung war, habe ich dir angesehen. – Du kannst mir nicht weismachen, daß deine Blässe und das Zittern deiner Hände, das du verlegen zu verbergen trachtetest, ein Ausdruck freudiger Erregung waren.

Was wir angemessen, gut, genau verstehen, ist nicht das Ergebnis einer Interpretation, eines hermeneutischen Verfahrens, wie wir es bei der Deutung etwa schwieriger fremdsprachiger Texte anwenden, indem wir eine unklare oder lückenhafte Stelle durch Vergleich mit ähnlichen Wendungen im vorliegenden Text oder im Gesamtwerk des Autors zu klären versuchen; denn unser Versuch mag fragwürdig bleiben und von einem geschickteren Interpreten und feinfühligeren Hermeneuten durch einen besseren Vorschlag ersetzt werden. – Doch den ängstlichen Gesichtsausdruck verwechseln wir nicht so leicht mit einem freudigen, die Frage nicht mit einer Behauptung, dir ironische Bemerkung nicht mit einer Schmeichelei.

Auf deine Aufforderung hin, eine Weile zu warten, muß ich, um sie zu verstehen, nicht darüber nachgrübeln, was du mit ihr eigentlich beabsichtigst; ob du eine Sache erledigen willst, bei der ich ein unwillkommener Zeuge wäre; ob du eine Verschnaufpause einlegen und mich für eine Weile los sein willst; ob du mich auf eine Geduldsprobe stellen willst. Wie dem auch sei (oder auch nichts von alledem), ich verstehe, was du meinst.

Um eine Äußerung zu verstehen, müssen wir nicht zwingend die Absicht oder Intention, die sich hinter ihr verbirgt, kennen.

Die ältere Hermeneutik glaubte, am besten beim Geschäft der Deutung lückenhafter Texte zu fahren, wenn sie sich durch Kenntnisnahme des Gesamtwerks des Autors über dessen Haltung, Gesinnung, Weltanschauung klar geworden war und mit diesem Hintergrundwissen die Intention des Schreibers bei der fraglichen Textstelle identifizierte: So ergebe sich die Füllung der Textlücke wie von selbst, gleichsam intuitiv.

Aber wenn ich in dem Karton mit alten Briefen krame und einen mit schöner Handschrift ohne Absender herausfische, lese ich vielleicht: „Wü … ich Dir, mein Bester, anläßlich Deines Promotionsjubi … besinnliche Stunden!“, wobei die gepunkteten Lücken in der mit Tinte geschriebenen Schrift verwischt sind; es ist offensichtlich ein Leichtes, die Textlücken zu ergänzen, auch wenn ich nicht weiß und herausfinden kann, ob der Wunsch ernsthaft gemeint oder ironisch getönt war.

Freilich, sagt mir jemand, nachdem ich beim Schachspiel die Dame ohne Not geopfert habe: „Du bist doch ein wahrer Ritter ohne Furcht und Tadel!“, entgeht mir natürlich der Witz der Äußerung, wenn ich sie wörtlich und nicht ironisch verstehe. – Ironie und ihr sprachlicher Ausdruck, die spöttische Bemerkung, sind in diesem Falle die Äußerung der Sprecherabsicht, ohne deren Wahrnehmung sie mir unverständlich erschiene.

Wenn dich dein Freund auffordert, eine Weile zu warten, er wolle nur rasch zur Bankfiliale, um sich Kontoauszüge zu besorgen, und dann nicht mehr auftaucht, wird, je länger du vergeblich wartest, der Verdacht in dir geweckt, er wolle ein böses Spiel mit dir spielen. Dein Verdacht wird genährt, wenn du am nächsten Tag erfährst, daß der Pappenheimer auf unbestimmte Zeit verreist ist. – Hier mag ein Roman über Intrigen seinen Ausgang nehmen, mit Verdächtigungen, Kränkungen, Bezichtigungen und einer vielleicht überraschenden Auflösung.

Wer sagt, er habe keine Angst gehabt, als ihn ein wütender Bullterrier anbellte, obwohl er alle Anzeichen des Erschreckens zeigte, schwindelt entweder oder weiß nicht, was wir unter dem Begriff Angst verstehen.

Anzeichen von Angst zu zeigen oder zu sagen „Ich habe Angst“, obwohl man keinerlei Anzeichen von Angst zeigt, ist etwas Verschiedenes, auch wenn sie dasselbe meinen; denn Anzeichen physiognomischer Art und sprachliche Zeichen sind begrifflich zu unterscheiden.

Wir verstehen, worum es sich handelt, wenn jemand in angsterzeugenden Situationen Anzeichen von Angst zeigt; doch denjenigen, der bei heiterem Sonnenschein am Arm seiner Liebsten sagt, er habe Angst, verstehen wir nicht im gleichen Sinne.

Fieber ist ein Symptom einer Viruserkrankung; es wird zum Kriterium der Korrektheit der Diagnose, daß der Betroffene an einer Viruserkrankung leidet, wenn der Erreger im Labor isoliert und chemisch oder durch DNS-Abgleich identifiziert wird. – Das Krankheitssymptom ist als ein Anzeichen kausal mit dem Krankheitserreger verknüpft.

Die Verwendung sprachlicher Zeichen ist nicht kausal mit den mentalen Zuständen verknüpft, die ihre Artikulation begleiten. – Einer kann sagen, er habe keine Angst, obwohl er von Ängsten heimgesucht wird, etwa um sich als heldenhaft aufzuspielen.

Wir sagen, die Verwendung sprachlicher Zeichen ist im Regelfalle eine willentliche Kundgabe.

Demnach sind Interjektionen wie „O!“ und „Aua“ eine lautliche Form unwillkürlich geäußerter Anzeichen, nämlich der Überraschung oder des Schmerzempfindens.

Wir verstehen den Ausruf „Aua!“, wie wir das Erblassen des Erschrockenen verstehen. Wir müssen ihn nicht als Ausdruck des Schmerzempfindens interpretieren, sondern als solchen gleichsam deutungslos hinnehmen.

Die Äußerung „Ich habe Schmerzen“ kann, wie Wittgenstein zeigte, als Übersetzung der Interjektion „Aua!“ aufgefaßt werden; sie teilt mit ihr den eigentümlichen semantische Status von Äußerungen in der ersten Person über das eigene Empfinden, Fühlen und Beabsichtigen, deren Gewißheit wir anders als Aussagen des gleichen Typs in der dritten Person im Normalfalle nicht anzweifeln.

Der Psychiater weist auf einen Patienten, der scheinbar freudig erregt herumhüpft, und behauptet, er habe Angst; wir verstehen erst, wenn er die Erklärung hinzufügt, er leide unter einem akuten psychotischen Anfall einer Phobie. – In solchen Fällen können wir etwas aufgrund von Erklärungen verstehen.

Der Kriminalist erkennt, daß es sich bei den vorliegenden Tatmerkmalen um ein Muster handelt, das ihm schon bei der Untersuchung anderer Fälle begegnet ist; sein Ausruf „Aha!“ ist ein Anzeichen für die plötzliche Einsicht. Aber der Ausruf ist kein Kriterium ihrer Wahrheit, denn er könnte sich irren, und eine DNS-Probe belegt, daß es sich um verschiedene Täter handelt. Er glaubte zu verstehen, aber saß einem Mißverständnis auf.

Der Mythos stellt natürliche Ereignisse dar, als seien sie Willensäußerungen der Götter: Zeus regnet. – Dies ist nicht ein Mißverständnis in dem Sinne, wie wir von jemandem sagen, er unterliege einem Mißverständnis, weil er annimmt, es regne, wenn er hört, wie Tropfen auf den Fenstersims fallen, aber bloß, weil der Nachbar im oberen Stock die Blumen gießt.

Wenn wir miteinander reden, plaudern, uns verständigen, sind unsere sprachlichen Äußerungen keine kausal bewirkten, unwillkürlichen Anzeichen unseres Befindens (mögen dies auch unsere Mienen und Gesten sein), sondern nicht ohne Absicht erzeugte Zeichen. Doch bedarf die absichtsvolle Äußerung keiner bewußten Entscheidung, auch wenn wir bisweilen eine bewußte Auswahl der Worte und Wendungen oder der Beispiele und Geschichten vornehmen, die wir zum besten geben.

Ungrammatische Bildungen wie „Blau und aber“ oder bizarre wie „Das Fragezeichen hat Heimweh“ sind in sich unverständlich; dagegen können enigmatische Wendungen wie „Das Nichts nichtet“ oder „Die Welt weltet“ auf dem Hintergrund eines eigentümlichen philosophischen Sprachspiels entschlüsselt werden.

Wir sagen: Die Mimesis der Orchidee dient dazu, ihr ähnliche Falter anzulocken; das Murmeltier warnt seine Sippe mit einem Warnpfiff vor dem herannahenden Beutegreifer, damit sie in ihrem Bau Deckung sucht; der Hund eilt wedelnd auf sein Herrchen zu, weil er sich über seine frühe Rückkehr freut. – Unser Gebrauch von Ausdrücken der Gemütsbewegung und grammatischer Konstruktionen wie des Kausal- und Final-Satzes bei der Beschreibung tierischen Verhaltens erlaubt uns scheinbar, das Verhalten ohne weiteres zu verstehen. Indes ist es unsinnig, der Orchidee mit ihrer Anverwandlung an die Gestalt eines Schmetterlings die Absicht zu unterstellen, diesen zur Bestäubung zu reizen; ist es ethologisch unstimmig anzunehmen, daß ein Murmeltier seinen Warnpfiff in der Absicht ausstößt, seine Artgenossen zu warnen: Sein Pfiff erfolgt unwillkürlich, und die Fluchtreaktion der Artgenossen ist ein bedingter Reflex.

Gewiß freut sich der Hund über die Rückkehr des Herrchens; doch könnte er sich nicht darüber freuen, daß sie ein paar Tage früher erfolgte als angekündigt; oder gar deswegen enttäuscht sein wie seine Ehefrau, die auf weitere erholsame Tag der Ruhe gehofft hat, oder die untreue Geliebte, weil sie das Treffen mit ihrem Liebhaber absagen muß.

Wir sagen, alles, was irgend mit Sinn versehen ist, wie Gesten, Mienen, Handlungen und sprachliche Äußerungen, können wir verstehen; die Vorgänge bei der Inflation des frühen Universums, der Bildung von Atomen, Molekülen, Sternen und Galaxien oder die Evolution von lebenden Organismen können wir nicht verstehen, wie wir verstehen, daß der untreue Freund uns mit seinem Fernbleiben einen bösen Streich spielt, sondern nur mittels Theorien, das heißt wissenschaftlicher Hypothesen, zu erklären versuchen.

Wir können die Entscheidung des Machthabers, in das Nachbarland mit Truppen einzufallen, sowohl verstehen, wenn wir die Motivation seiner Handlung und ihre Absicht berücksichtigen, als auch erklären, wenn wir sie mittels Hypothesen über die Typen imperialer und hegemonialer Herrschaft und die Formen ihres Erhalts und ihrer Ausweitung analysieren. – Im Unterschied zu beispielsweise physikalischen Hypothesen können historische Vermutungen allerdings nicht verifiziert, sondern nur mehr oder weniger plausibel gemacht werden.

Die Entscheidung des Macht- und Befehlshabers, in das Nachbarland einzufallen, hat dieselben Folgen, ob er eine vermeintliche oder echte Bedrohung seines Machteinflusses durch das Nachbarland und seine Verbündeten wahrnimmt; doch unser Verständnis seiner Entscheidung ist im einen und im anderen Falle verschieden.

Cäsar traf die Entscheidung, mit dem Überschreiten des Flusses Rubikon das Herrschaftsgebiet des Senats und der Res Publica anzugreifen; wir verstehen anhand seiner Selbstzeugnisse, was er tat, doch eine plausible Hypothese zur Erklärung seines Vorgehens finden wir nicht (etwa nach dem klassischen Muster imperatorischer Machtsicherung oder dem Handlungsmodell der Eroberung der alten und ihrer Unterminierung und Ersetzung mittels Installation einer neuen Herrschaftsform).

Wir sind natürliche und sprachliche Wesen; die Grenzen unseres Verstehens werden einerseits durch die Fremdheit natürlicher Phänomene und Vorgänge wie der Singularität von schwarzen Löchern oder der Bildung des DNS-Stranges und des Einbruchs von schweren körperlichen oder geistigen Erkrankungen, andererseits durch die Fremdheit, Rätselhaftigkeit und Unzugänglichkeit anderer Kulturen abgesteckt.

Wir verstehen die Bedrohungsgefühle oder das Leiden dessen, der sich vor der Ansteckung durch ein epidemisches Virus fürchtet oder sich damit infiziert hat; das epidemische Geschehen selbst entzieht sich dem, was wir unseren Sinn- und Verstehenshorizont nennen können. Bizarre Theorien über ein göttliches Strafgericht insinuieren nur den trügerischen Anschein eines Verstehens.

Die Physiognomie des Schmerzes, der Freude, der Trauer, der Furcht und der Hoffnung sind unserem Verstehen als natürlich verankerte affektive Phänomene kulturübergreifend zugänglich.

Wir verstehen, was Shakespeare mit dem Vers „The Beauty’s rose might never die“ meinte. Doch versteht es der Bewohner einer fremden Kultur, der mit der abendländischen keinen Kontakt hatte, ein australischer Buschmann oder ein Amazonasindianer, wenn ihm die Eigenart unserer dichterischen Sprache, Metaphern und Allegorien für seelische Phänomene zu formen, und die Eigenart der europäischen Lyrik von Sappho über die Marienhymnik, die Troubadours, Dante und den „Roman de la rose“ bis eben zu Shakespeare, die Rose als religiös und metaphysisch konnotiertes Bild für Liebe und Schönheit anzusehen, vollkommen fremd sind?

Fremde Sprachen können wir übersetzen; aber nicht alle in ihrem Mutterboden eingewurzelten Konzepte, begrifflichen Strukturen und Netzwerke verstehen.

Der heidnische Römer wußte ja, was Crux heißt; doch das Mysterium des Glaubens an das Heil am Kreuz blieb ihm unverständlich, ob er nun ein einfacher Legionär im fernen Gallien war oder ein gebildeter Mann der Elite wie Tacitus oder Ammianus Marcellinus.

Wir verstehen die nichtsprachlichen Gesten, Wendungen, Abbreviaturen und flüchtigen Mitteilungen in den Quartetten und Sonaten eines Haydn, Mozart und Beethoven; aber wer versteht wirklich (und affektiert es nicht nur) die bizarren Klänge und Ausdrucksgestalten der höfischen japanischen Oper und des No-Spiels?

Welch ein rätselvoller Greuel mußten den alten Hebräern zur Zeit des Auftretens ihres religiösen Heros Moses der Tierkult der Ägypter, die Idolatrie und Mumifizierung von Katzen, Pavianen und Krokodilen sein, ähnlich grotesk und unverständlich wie hernach der Kult des Gottes Baal, den wir freilich nur in jener häßlichen und bösartigen Fratze kennen, die uns die Propheten übermittelt haben.

Freilich, die neuen Kosmopoliten und Allesversteher glauben von all den Physiognomien der ihnen im Tiefsten rätselhaften und suspekten fremden Kulturen bloß die wässrig-fade Sauce der moralischen Gesinnung des Homo novus – Egalität aller im Geiste der Ignoranz und Indifferenz – abschlecken zu können, die ihre mit Eau de Paris getauften und trotz aller Lippenbekenntnisse europhil und xenophob vernagelten „Philosophen“ gleichmäßig in einer Weise auf ihnen verteilt haben, daß jede Fuge und Falte eingeebnet, jedes fremdartige Lächeln und Zähneblecken übertüncht worden sind.

 

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