Begriffliche Klärungen II – Prüfen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die sittliche Norm kann sich auf natürliche Tatsachen stützen, aber wird durch diese nicht gerechtfertigt; wie sich die Zügelung des Eros durch die familiäre Liebe und die monogame Ehe auf die natürliche Tatsache stützen kann, daß nur ein Mann und eine Frau Kinder zeugen können, doch ist die eheliche Gemeinschaft eine kulturelle Einrichtung, keine natürliche Tatsache.
Wer in geselliger Runde oder in intimem Tête-à-Tête munter und unbefangen erzählt, tut dies ungezwungen und beiläufig; keinem seiner Worte geht ein bewußter Willensakt oder eine rationale Entscheidung voraus, und dennoch beugt er sich mit jedem Wort und jedem Satz unter das sanfte Joch syntaktischer Wohlgeformtheit, grammatischer Korrektheit und semantischer Deutlichkeit der natürlichen Sprache, sofern er der Höflichkeit, die dies ihm abverlangt, durch seine Geistesgegenwart und sprachliche Begabung nachzukommen vermag.
Die menschliche Sprache ist eine hybride Entität aus natürlicher Tatsache und kultureller Institution.
Ein grammatischer Fehler darf gerügt, eine Schwäche des verbalen Ausdrucks oder ein schiefes metaphorisches Bild können nur bemängelt oder bedauert werden.
Der Ausruf „Halt, es ist Rot!“ hat die natürliche Fähigkeit der Farbwahrnehmung und die kulturelle Konvention der Signalgebung zur Grundlage (wenn letztere sich auch wiederum auf die natürliche Assoziation der Farbe Rot mit der Ahnung oder Wahrnehmung einer Gefahr stützen mag).
Die Begriffsfelder, die unser Dasein als natürliche Wesen und unser Dasein als sprachlich-kulturelle Wesen umfassen, sind nicht deckungsgleich, sondern überschneiden sich, aber nicht im Sinne eines simplen Natur-Umwelt-Dualismus.
Wir sprechen von natürlicher Anmut und schreiben sie bevorzugt Haltungen, Gangarten, Gesten des weiblichen Geschlechts in der Zeit der Mädchenblüte zu. Gewiß ist der üppige Haarbusch, der im Rhythmus ihres tänzerischen Schrittes wippt, ein mütterliches Erbteil; doch die schelmisch-verführerische Art, wie die Kindfrau die Wimpern niederschlägt und die vollen Lippen schürzt, hat sie der gekünstelten Mimik ihres angebeteten Starlets abgeschaut.
Das biologische Schicksal irrt durch das Labyrinth des sozialen Lebens. – Der geistig minderbemittelte Dorftrottel schlich an den Häuserfronten entlang, verdingte sich bei den Bauern als Knecht beim Einfahren der Ernte oder beim Holzhacken; meine Großmutter reichte ihm durch das Fenster der Wohnstube ab und an eine Schmalzstulle; natürlich hatte er kein Mädchen, keine Kinder, nicht einmal einen Hund, aber manchmal saß er abends auf der Bank unter der großen Linde vor der Kirche und spielte auf der Mundharmonika. Und waren seine Melodien auch abgehackt und kunstlos, es ging doch eine Art schmerzlichen oder wehmütigen Zaubers von ihnen aus.
Nur Mozart hatte dieses mozartisch-überfeinerte Ohr, das sowohl die silbern perlenden Tropfen am Bug des Schiffs in der neapolitanischen Nacht vernahm als auch das Glucksen und Schluchzen der Schicksalswogen in der Nacht der eigenen Seele.
Die Tränen der Kleinen, deren Puppe sich ein Bein brach, künden uns von der verletzlichen Welt der menschlichen Seele; die Tränen Vergils, sunt lacrimae rerum, von der Tiefe dichterischen Empfindens.
Der Hund ist betrübt, wenn sein Herrchen ihn verläßt; aber nur Menschen trauern um den Verlust ihrer Liebsten, nur Menschen errichten auf den Fundamenten eines natürlichen Gefühls die kulturellen Mahnmale des Totengedenkens.
Auch wenn sein Herz schon heimlich für das Idol einer neuen Leidenschaft brannte, der Witwer trug nach lange die schwarze Binde am Ärmel.
Der Bahnbedienstete prüft unter Vorgabe einer amtlichen Liste über die zulässigen Werte die Angaben auf dem Wagenzettel.
Der Laie überprüft die Gültigkeit des Schemas eines Schlusses oder einer Formel, indem er probeweise die Variablen durch Argumente und spezifische Daten ersetzt, der Fachmann, indem er sie aus anerkannten Axiomen ableitet.
Die Mannigfaltigkeit von Prüfverfahren: die Elastizität und Tragfähigkeit einer Schnur durch Dehnen und Belasten prüfen; den Zustand der Räumlichkeiten in Augenschein nehmen; die Identität des Täters mittels Gegenüberstellung, anhand von Indizien, aufgrund eines DNA-Abgleichs in der Datenbank ermitteln; die Zuschreibung eines Manuskripts aufgrund eines Vergleichs mit anerkannten Autographen bestimmen; den vorlauten Schüler einer geharnischten Prüfung seiner Grammatikkenntnisse im Lateinischen unterziehen; den Agenten, den Kameraden, den Freund hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit, Loyalität und Treue auf Herz und Nieren prüfen.
Das nüchterne Geschäft des Philosophen oder desjenigen, der in seine Fußstapfen tritt: Begriffe auf ihre Anwendbarkeit, Aussagekraft, Kohärenz und Konsistenz prüfen.
Aus der Tatsache, daß wir den Begriff einer Seele nicht auf physische Entitäten anwenden oder mittels Gehirnscan verorten können, zu folgern, er sei ein Scheinbegriff ist ebenso verfehlt und töricht, wie aus der Unsichtbarkeit dessen, was wir eine Fähigkeit oder Disposition nennen, wie die Fähigkeit, Gleichungen zu lösen, oder die Disposition, auf visuelle oder auditive Signale sachgemäß zu reagieren, auf ihre Irrealität und Scheinexistenz zu schließen.
Die Adäquatheit der Anwendung eines Begriffs zu prüfen erfordert seine Einordnung in ein Begriffsfeld, dessen einfachstes Modell aus dem Begriff und seinem Gegenbegriff besteht.
So scheinen wir mit dem Begriff der Lust und seinem Gegenbegriff Unlust ein einfaches Modell zur Interpretation tierischen und menschlichen Verhaltens in Händen zu halten; so glaubten es jedenfalls antike Denker wie Epikur, Platon und Aristoteles und neuzeitliche wie die englischen und französischen Empiristen und Aufklärer, aber auch Freud und seine Schüler.
Doch bei näherer Betrachtung zerfällt der Begriff der Lust in eine Mannigfaltigkeit von Begriffsschattierungen und Bedeutungen, die wir nicht mehr in ein polar aufgespanntes Begriffsfeld einordnen können: Menschen kennen jedenfalls, um nur diese Varianten zu nennen, das sinnliche Vergnügen aufgrund der Befriedigung eines physischen Mangels als auch das ästhetische Vergnügen bei der Betrachtung eines Kunstwerks oder beim Hören von Musik.
Das sinnliche Behagen und ästhetische Vergnügen des Gourmets an den verlockenden Gerichten der Haute Cuisine und dem sublimen Geschmack des Rheingauer Weines ist keine bloße Variation und Modifikation des schmatzenden Behagens, mit dem sich ein ausgehungerter und durstiger Mensch über eine Schmalzstulle und ein Glas Wasser hermacht.
Wir gehen nicht ins Konzert, um einen ästhetischen Mangel zu beheben, wie wir ins Restaurant gehen, um unseren Appetit zu stillen.
Wir haben einen guten Grund, ins Konzert zu gehen, wenn wir uns die Interpretation der Klaviersonate durch den vielgepriesenen neuen Virtuosen zu Gemüte bringen wollen; doch ein solcher Grund ist nicht mit dem triebhaften Verlangen des Säuglings nach der Mutterbrust zu vergleichen.
Weil normative Begriffe wie die Verpflichtung, das Versprechen, die Verantwortung oder die Loyalität ein autonomes Begriffsfeld aufspannen, kann das sogenannte Lustprinzip kein allgemeiner Begriff sein, unter den sich alle Formen und Varianten menschlichen Verhaltens als Arten und Unterarten subsumieren ließen.
Wer dem sinnlichen Behagen nicht widerstehen konnte, das ihm das weiche Kissen und die wärmende Decke spendeten, war schlicht zu faul, sich aus den Federn zu erheben, um seiner Verpflichtung und Verantwortung als Lehrer, Krankenschwester oder Busfahrer nachzukommen, und wird von uns zurecht getadelt.
Wären Lust, Vergnügen und sinnliches Glück, ja Glück überhaupt und sans phrase, dasjenige, was Menschen zu ihrem alleinigen Zweck und Ideal erheben sollten (wie es in der Tat die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die amerikanische Verfassung vorsehen), fänden wir allerdings Erfüllung in jenem amoralischen Utopia des letzten Menschen, dessen Gehirn vom Rest des Körpers befreit in einer klinischen Nährlösung für eine technisch eroberte Unsterblichkeit aufbewahrt und von einer raffinierten künstlichen Intelligenz mit allen erdenklichen Reizen stimuliert wird, denen halluzinatorische Bilder, Klänge und Düfte von paradiesischer Schönheit unmittelbare Erfüllung und Entspannung gewähren.
Freude unterscheiden wir von Lust, insofern ihr ein Moment überwundener Mühe oder Angst, gleichsam ein Sieg über die Schwerkraft, innewohnt.
Die Perversion ist nicht das bloße Übermaß sinnlicher Genüsse, sondern ihre Ablenkung von fruchtbaren Zielen durch die mehr oder weniger starke Beimischung des Sterilen, Destruktiven und Bösartigen. So ist die Schadenfreude die Perversion der echten uneigennützigen. Fetischismus, Voyeurismus und Exhibitionismus sind Scheinbefriedigungen am Surrogat und imaginären Objekt, Masochismus und Sadismus Formen der Entpersönlichung und Entstellung im Schmerz, den man sich selbst oder anderen zufügt.
Die philosophische Betrachtung der Perversionen führt uns wie überhaupt die Psychopathologie zur Vertiefung, Differenzierung und Erweiterung des Begriffsfelds, in dessen Zentrum der Begriff einer Person steht.
Pervers können wir (und dies ist im hohen Grade bemerkenswert) sowohl mit den biblischen Autoren als auch mit Sigmund Freud das vom letzten Ziel der Fruchtbarkeit abgelenkte Begehren nennen; freilich ist Perversion kein deskriptiver, sondern ein normativer Begriff, er orientiert sich daher nicht am Regulativ der natürlichen Neigung zwischen Mann und Frau, sondern an den kulturellen Rollen von Vater und Mutter, auch wenn diese nur auf dem Hintergrund der natürlichen Funktionen von Zeugung und Geburt definiert werden können.
Bekanntlich heißt Vater zu sein mehr als gezeugt zu haben; väterliche Autorität in liebender Fürsorge und weiser Vorsorge auszuüben geht über die natürliche Mitgift väterlicher Zuneigung hinaus.
Das Erbrecht ist die Bahnung zur Hochkultur.
Geschichte beginnt, wenn der Sohn über dem Grab des Vaters ein Mal errichtet.
Idealistische und religiös inspirierte Denker von Platon und Augustinus bis zu Descartes und Kant stützten die Idee der Unsterblichkeit der Seele auf den Begriff ihrer Unteilbarkeit; was wie Materie geteilt werden kann, falle der Auflösung und Vernichtung anheim, die Seele aber, als bestünde sie aus einer ätherischen Substanz, sei unteilbar. Farb- und Klangeindrücke, die uns ständig geschehen, sind freilich nicht in einem irgend plausiblen Sinne teilbar, sie vergehen, verlöschen, verklingen. Der Begriff der Teilbarkeit und Unteilbarkeit ist auf das, was wir Seele nennen, nicht anwendbar. Folglich gibt uns das Argument ihrer Unteilbarkeit keinen Grund, ihre Unzerstörbarkeit und Unsterblichkeit anzunehmen.
Der Satz des Pythagoras, der Modus ponens und die Gültigkeit der binomischen Formeln können nicht anhand empirischer Belege überprüft, bestätigt oder widerlegt werden.
Wissenschaft ist die Aufstellung von Hypothesen zur Erklärung und Voraussage von Sachverhalten; sie können anhand empirischer Belege überprüft, bestätigt oder widerlegt werden.
Menschen sind keine Verbindungen von Seele und Leib, Körper und Geist, sondern Personen, denen wir seelische, geistige und körperliche Zustände zuschreiben.
Personen sind raumzeitlich lokalisierbar, nicht aber ihre seelischen und geistigen Zustände, auch wenn wir ihre neuronalen Korrelate lokalisieren können.
Der Begriff einer Person gehört verschiedenen, sich überschneidenden Begriffsfeldern an wie denen des Rechts, der Psychologie oder Kriminologie. Ihre Einheit resultiert aus der Möglichkeit, Personen anhand spezifischer Kriterien zu identifizieren wie der von ihnen durchlaufenen Raum-Zeit-Kurve, ihrer DNA oder der Eindrücke, die sie bei anderen Personen hinterließen, wenn diese auch nur den Wert von Hypothesen haben und problematisch bleiben.
Wir haben, ernüchtert durch das Geschäft begrifflicher Klärungen, keine ewigen metaphysischen Wahrheiten oder grandiosen Ausblicke auf eine geläuterte Menschheit zu verkünden, keine Gewißheiten zu bestätigen, keine Ideologien zu vertreten. Der Geschichtsphilosoph marxistischer oder hegelianischer Provenienz ist uns fremder als ein sibirischer Schamane, der Diskursethiker und Moralphilosoph kantianischer Prägung fremder als ein antiker Gnostiker, der postmoderne Ekstatiker nietzscheanischen Zuschnitts fremder als ein Dionysospriester des Altertums.
Begriffsjongleure sind keine Denker, sondern käufliche Artisten auf dem lärmenden Markt der gängigen Meinungen.
Man wittert die Absicht und wendet sich ab von dem süßlichen Geruch des Menschelns und Scharwenzelns, um das Freie zu suchen. Bläst dort auch der kalte Wind der Einsamkeit, er bringt uns doch die unentbehrliche Frische und Kühle geistiger Klarheit.
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