Bashō und ich
Herbstliches Mondlicht –
ein Wurm bohrt sich still
in eine Kastanie.
Matsuo Bashō (1644–1694)
Wenn Bashō den herbstlichen Mond anruft, scheint er im Gedicht.
Wenn ich das Fenster des Gedichts öffne, scheint der Mond herein.
Wenn ich mit mir rede, bist du da.
Wenn ich das Wort an dich richte, bin ich da.
Zwei herbstlich flammende Bäume stehen wir da, eine Linde und ein Ahorn.
Nur ein Wort, stärker als der Sturm der Dämonen, und die Blätter fallen.
Die Blätter wirbeln in der grauen Luft, die Bilder, die Erinnerungen.
Der Mond scheint auf den Schnee des Gedichts.
Ist es denn Winter?
Verschneit sind die Verse, ein Vers ist unterm Schnee verborgen wie der andere.
Verschneite Ackerfurchen. Kaum unterscheidbar, Vers um Vers.
Wie Schneehühner sind die Verse, eng aneinandergeschmiegt, kaum sichtbar in all dem Weiß.
Der Mond scheint auf den Schnee des Gedichts. So kurz, so flüchtig.
Wie schnell vergeht die Zeit des Gedichts. Flüchtig wie der Schimmer des Monds im Schnee.
Das Wort, das ich mir sage, und das ich bin, ist der Schatten eines kahlen Baumes, den das Mondlicht auf den Schnee wirft.
Mein Schatten ist der Schatten der kahlen Linde, dein Schatten ist der Schatten des kahlen Ahorns.
Wandert der Mond, wandern die Schatten, mein Schatten und dein Schatten.
Wir wandern und bleiben stehen, wie die Schatten der Bäume im Mondlicht wandern, die Bäume aber bleiben stehen.
Wir, immer schon da, kommen nirgends an.
Ist der Schatten im Laufe der Mondnacht einmal um den Baum herumgewandert, beginnt das Gedicht von vorn.
Es ist sehr still im diffusen Schneelicht des Gedichts.
Einmal piepst eine Maus. – Der Schatten bleibt still.
Einmal knirschen Schritte. – Der Schatten bleibt still.
Einmal, es ist schon Morgen, singt ein Vogel. – Der Schatten bleibt still.
Einmal stäubt Schnee vom Ast. War es der Wind?
War es der Geist eines Ahnen? Meines, deines?
Wie fremd ist die Welt. Wie fremd die Worte, die wie Schnee von den Zweigen stäuben.
Und droben zwischen den Zweigen? In fremder Schwärze fremd zuckendes Licht.
Und wenn die Sonne hervorbricht, Bashō, was dann? – Die Schatten, sie bleiben und wandern mit dem großen Licht.
Und jetzt? Der Schnee ist geschmolzen.
Da geht ein Rinnsal. Wirbeln nicht Blüten darauf?
Ist es denn Frühling?
Sind es Blüten von meinen Zweigen, von deinen?
Weht ein Duft? Duft von meinen Zweigen, von deinen?
Und dort die roten Lippen, auseinandergesprochen vom Wind, der Mohn.
Hörst du, was sie sagen?
Daß wir Falter sind, ich ein blauer, ein gelber du.
Laß uns trinken, Bashō, du kannst, verwandelter Schatten, doch fliegen?
Laß uns schmecken, was das Leben sagt mit seinen roten Lippen.
Hast du Angst, daß wir daran sterben?
Laß uns fliegen, Bashō, laß uns trinken.
Laß uns trinken, Bashō, laß uns sterben.
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