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Ausgerupfte Fransen

22.08.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Ich kann nicht überblicken, was es mit dem Leben auf sich hat.

Geschweige denn mit dem Leben meiner Nachbarn, Freunde, Bekannten und des ganzen Rests einschließlich der Existenz dieses und aller anderen Sonnensysteme.

Ich kann nicht entscheiden, ob es für mich an und für sich sinnvoll oder gut sei oder nicht sinnvoll und nicht gut sei zu existieren.

Geschweige denn für meine Nachbarn, Freunde, Bekannten und den ganzen Rest einschließlich der Existenz dieses und aller anderen Sonnensysteme.

Die Entscheidung, mir notgedrungen wieder Ess- und Trinkbares aus dem Supermarkt zu besorgen, nehme ich auf meine eigene Kappe. Aber sie im Lichte des umfassenden Blicks auf mein Leben zu sehen und zu rechtfertigen, geht über meine Hutschnur.

Was könnte ich Prinzipielles einwenden gegen die Entscheidung eines Menschen wie Kurt Gödel, damit aufzuhören?

Wir sagen, der Logiker Kurt Gödel sei krank gewesen, habe unter Verfolgungswahn gelitten und weil er glaubte, sein Essen werde vergiftet, schließlich Hungers oder vor Auszehrung gestorben.

Vielleicht fand der scharfsinnige Logiker Gödel einen eleganten Beweis für seine Annahme, dass die Quelle des Lebens, die Milch aus der Brust der Erdmutter, vergiftet sei.

Ich könnte den Beweis nicht durch ein letztgültiges schlüssiges Argument widerlegen, wenn ich nicht vollständig überblicke, was es mit dem Leben auf sich hat.

Warum soll ich Moses eher glauben als Buddha, Augustinus eher als Schopenhauer?

Wenn die Vernunft die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht ergrübeln kann, bedarf sie einer Offenbarung. Freilich Moses und Buddha, Augustinus und Schopenhauer berufen sich gleichermaßen auf den Augenblick ihrer Offenbarung und Erleuchtung.

Doch all diese Offenbarungen sind mir nur durch Texte bezeugt, die von ihnen handeln. Wie soll ich sie auf ihre Echtheit prüfen, wenn die Instanz, die ihre Echtheit bestätigen könnte, nur wiederum durch Offenbarung zugänglich ist?

Die Geburt und der individuelle Leib sind das Schicksal. Sie bahnen die letzten Wege ins Licht oder ins Dunkel, in ein Leben der Fülle, Schönheit oder Genialität oder der Leere, Unansehnlichkeit oder Geisteskrankheit.

Der Glaube Goethes an die Sternenkonstellation ist tiefer als das Gerede der Psychologen von der Formbarkeit der Persönlichkeit.

Ich muss die Tatsache des freien Willens nicht als göttliche Gabe feiern, sondern könnte sie auch als Fluch beklagen, der mich der seligen Ruhe der Tiefseequallen und des unbekümmerten Schlafs der Katzen beraubt.

Wäre ich auf der sinkenden Titanic vor die Wahl gestellt, den Widerling, der mir an der Bar in volltrunkenem Zustand seine haarsträubenden Vergehen und Missetaten gebeichtet oder damit kokettiert hat, ins Rettungsboot mitzunehmen oder meinen treuen kleinen Hund – dann nähme ich selbstverständlich meinen Hund mit.

Kommt mir wieder einer mit gesträubtem Fell und moralischem Schaum vor dem Mund mit den Menschheitsverbrechen, zeige ich mich gänzlich ungerührt, abgestumpft, ja angewidert, weniger von all jenen Greuel als von dem moralisch erigierten Affen.

Wenn der Großvater Dreck am Stecken hat, soll der Enkel seine Lebenszeit damit vergeuden, immer nur in diesem Dreck zu wühlen, statt sich im sauberen, warmen Sand in die Sonne der Gleichgültigkeit zu legen?

Wenn der Terrorist eine Knarre in die Hand nimmt und den Ungläubigen, den Juden, den Kapitalisten, kurz den Feind, um die Ecke bringt, muss er ein absolutes Wissen vom Unwert des zu Vernichtenden aus höheren Quellen haben.

Der Terrorist, der sein absolutes moralisches Urteil aus den Schriften von Marx, Lenin, Mao oder dem Koran ableitet, hat freilich recht, insofern der Hinweis auf diese Quellen seiner Offenbarung unwiderlegbar ist.

Ich greife nicht zur Knarre, freilich nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil mir Offenbarungen solcher Reichweite – leider – versagt blieben.

Den Eunuchen rühmt man nicht ob seiner sexuellen Enthaltsamkeit.

Aber den Eunuchen des Gefühls, der auf allen Gassen eine Leporello-Arie singen lässt, soll man feiern.

Täter soll man zumindest mundtot machen. Doch mehr noch den Opfern den Mund stopfen, die in all die von medialen Dunkelmännern der Aufklärung hingestreckten Mikrofone ihre Passionslieder keuchen und hinterrücks die Hand aufhalten.

Die Schatten unserer Träume nähren sich von dem von uns nicht vergossenen Blut.

Der Kapitän führte dermaleinst sein Logbuch anhand des Abgleichs der Standorte seiner Route mit der Konstellation der Gestirne. Anhand welcher Sternenkonstellationen können wir den Verlauf unserer Lebenslinie vermessen?

Das Unvordenkliche, dass die Welt ist, wie sie ist, liegt der Trivialität unserer eingefahrenen alltäglichen Rede zugrunde.

Der kluge Odysseus stellt seine Klugheit unter Beweis, indem er seine Gefährten aus der Höhle des Kyklopen befreit und dessen einziges Auge blendet. Mit den Überlebenden dieses Abenteuers auf freie See gelangt, höhnt er dem mythischen Monstrum, das seinen Namen wissen will, nach, er heiße Niemand. Er war aber nicht in der Weise klug, seine Gefährten darauf hinzuweisen, dass jene Schreckgestalt ein Niemand und eine Ausgeburt des Traumes sei, und er hat sie nicht aus der mythischen Höhle dieses Traumes befreit.

Ein Odysseus, der seine Gefährten aus der Kyklopenhöhle des Traums befreit oder vergeblich zu befreien sucht, könnte der Held einer Geschichte von Jorge Luis Borges sein.

Meine Lebenslinie kreuzte und kreuzt sich mit den Lebenslinien anderer Menschen. Aus entfernter Sicht könnte man erkennen, dass meine Lebenslinie nach dem Kreuzungspunkt einer solchen Begegnung mehr oder wenig von ihrer ursprünglichen Richtung abgelenkt worden ist. Doch der Grad dieser Ablenkung hat kein Maß und ist insofern weder berechenbar noch voraussehbar.

Warum sollte Odysseus dem geblendeten Kyklopen, der in seiner Rage seine Blutsbrüder zu einem Rachefeldzug herbeirief, einen falschen Namen nennen? Hätte das mythische Monstrum den richtigen verstehen können?

Wenn man aus offenbarter Quelle zu wissen glaubt, was es mit dem Leben auf sich hat, kann man Rechtfertigungen dafür finden, einen anderen zu töten. Aber auch sich selbst?

Könnte man die Ablenkung einer Lebenslinie nach dem Kreuzungspunkt einer entscheidenden Begegnung auch als Wirkung der Veränderung in den Grundlagen der Sprache ansehen?

Der Fischer Petrus, der nach der Begegnung mit Jesus dem Fischfang eine gänzlich neue Bedeutung gibt.

Van Gogh, der nach der Begegnung mit dem südlichen Licht eine neue Weise des künstlerischen Ausdrucks findet.

Hölderlin, der nach der Übersetzung der Dramen des Sophokles und der Hymnen Pindars eine neue Sangweise findet.

Wittgenstein, der nach der Begegnung mit dem Logiker Frank Ramsey seine bisherige Sicht auf den Zusammenhang von Sprache und Denken grundlegend revidiert und zu einer ganz neuen Weltsicht durchdringt.

Der homerische Mythos setzt in naiver Weise voraus, Odysseus und der Kyklop hätten sich auf Griechisch unterhalten. Doch wenn der Kyklop kyklopisch gesprochen hätte, wäre Odysseus in der Lage gewesen, diese Sprache zu lernen und zu verstehen, das heißt in sein Griechisch zu übersetzen?

Nach der Manier Van Goghs zu malen oder in der Sangweise des späten Hölderlin zu schreiben, liefe auf eine mehr oder weniger subtile Art von Fälschung hinaus. Doch was hieße es, die Malweise Van Goghs oder die Sangweise Hölderlins wie eine neue Sprache zu lernen und in dieser Sprache, was man zu sagen hat, zu sagen?

Homer bezeichnet die Lebensweise des Kyklopen als anomisch, wir könnten sagen, sie war im Verhältnis zum Nomos griechischer Lebensform wild, gesetzlos, unzivilisiert, barbarisch. Wir könnten sie auch im psychiatrischen Vokabular als verrückt oder in erheblicher Weise von der unseren abweichend bezeichnen. Hätte der Kyklop überhaupt über eine Sprache verfügt, wäre sie von der Sprache des Odysseus und Homers nicht nur in Hinsicht auf das Vokabular und die grammatischen Formen so verschieden gewesen wie das Griechische vom Chinesischen, sondern strukturell verschieden wie eine Arie der Sappho vom Gesang der Nachtigall.

Der Nomos ist demnach all das, was für uns eine Sprache ist, oder alles, was wir in eine uns vertraute Sprache übersetzen können, das Anomische alles, was wir in keine Sprache übersetzen können.

Wir können die Mechanik des Sonnensystems in der mathematischen Sprache der Physik Newtons wiedergeben und die Sprache Newtons in die Sprache Einsteins übersetzen. Aber wir können die Sprache Einsteins nicht in die Sprache Newtons übersetzen.

Im Verhältnis zur Sprache Einsteins erhält die Sprache Newtons eine gewisse anomische Färbung, die sie zuvor nicht hatte.

Wir können die Ausdrucksform der byzantinischen Malerei nicht in der Ausdrucksform eines Raffael oder Caravaggio wiedergeben. Sind sie deshalb unvergleichlich und inkommensurabel? Aber wir können Bilder so unterschiedlicher Art ja vergleichen, um ihre je eigene Ausdrucksform genauer zu untersuchen.

Doch das anomische Bild oder das Bild zufällig auf die Leinwand verteilter Farbflecken oder die Lautgestalt der auf Blätter fallenden Regentropfen ist für uns inkommensurabel. Auch wenn von abstrakten Ideen besessene Künstler uns weismachen wollen, die zufällig auf die Leinwand gespritzten oder getropften Farbkleckse drückten ihr Unbewusstes oder das Chaos der Welt oder sonst einen Unsinn aus.

Der Nomos ist also eine geordnete Form von Zeichen oder eine Struktur von zeichenhaften Elementen, deren verschiedene Kombinationen und Zusammenhänge wir sinnvoll oder sinnlos nennen. Ihren Sinn erhalten sie aber nicht von einer geheimnisvollen Kraft, die sich hinter dieser Ordnung und Struktur verbirgt oder sich in ihr manifestiert, sondern durch die Art und Weise, wie wir sie anwenden.

Der Raum zwischen den Zeichen ist gleichsam leer. Wir füllen ihn mit unserem Tun.

Ein einzelnes Zeichen ist stumm, nur der Zusammenhang mehrerer Zeichen in einer geordneten Folge, die wir beliebig wiederholen können, verleiht dem einzelnen Zeichen Bedeutung. Die Wiederholung von Zeichenreihen ergibt ein erkennbares Muster, und anhand solcher Muster erkennen wir den Zusammenhang.

Muster sind Zeichen zweiter Ordnung, denn sie bilden gleichsam die Spielregel, nach der die Zeichen erster Ordnung aufeinanderfolgen.

Wenn mich jemand nach dem Weg fragt, verstehe ich, was er meint, auf dem Hintergrund des Musters der Frage.

Wir erlernen die Muster nicht als solche oder abstrakt, sondern infolge oder im Rahmen der Wiederholung der nach ihnen geordneten Zeichen.

Haben wir das Muster erkannt, können wir auch seine erfolgreiche oder misslungene Verwendung erkennen.

In einer parabelartigen Kurzgeschichte Kafkas fragt der Erzähler, der sich in der fremden Stadt nicht gut auskennt, einen Schutzmann, von dem er annimmt, dass er es wohl wissen muss, nach dem Weg. Dieser antwortet: „Von mir willst du den Weg erfahren?“ Als wäre die natürliche Annahme des Erzählers, wer sonst als der Polizist kenne sich aus, in dieser Welt, in die er hineingeraten ist, verfehlt. Und weiter und folgerichtig sagt der Vertreter einer ganz anderen Ordnung: „Gib’s auf!“ Diese Aufforderung zerreißt gleichsam die gewohnten Muster einer möglichen Antwort.

In der klassischen Musik bilden Tonreihen Muster, die wir Melodien, Motive oder Themen nennen. Wir erkennen das Thema als Muster, wenn wir seine abgewandelte Wiederkehr in der Variation erkennen. Wir erkennen ein weiteres Thema und seinen zeitlichen oder kontrapunktischen Zusammenhang mit dem ersten Thema. Wir bemerken: Die musikalischen Muster sind in ein höherstufiges Muster oder ein Muster zweiter Ordnung, die Form des Sonatensatzes oder der Fuge, eingeordnet.

Die aufeinanderlegten Töne des musikalischen Akkords oder die nebeneinandergelegten Farbflecken beeinflussen und modifizieren sich in ihrer Wirkung auf das Ohr und das Auge. Diese Formen der Überlagerung oder Modifikation können wir Nuancen nennen, sie bilden eine eigentümliche Weise künstlerischer Musterbildung, die in der Musik eines Chopin und Debussy oder in der Malerei der Impressionisten bis zum Raffinement und zur Extravaganz farbiger Schattenspiele verfeinert wurde.

 

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