Aus der Lehre vom Blatt
Sentenzen und Aphorismen über die Poesie des Unscheinbaren
In einem alles. Also muß man nicht suchen, sondern sich dem unscheinbaren Blatt zuwenden, das vom Zweige fiel, das hier am Boden liegt, das dort weggeweht wird.
Die Haut und Oberfläche des Blatts in seinen jahreszeitlichen Wandlungen, weich und rauh, fleischig und fiedrig, gekerbt und genarbt, rissig und faulig-feucht, sie geben uns das Muster und Kaleidoskop der menschlichen Empfindungen und Gefühle, Wärme und Anmut, Heiterkeit und Glück, Befremden und Entsetzen.
Das Blatt gibt uns die vollständigsten und geheimnisvollsten ästhetischen Lektionen, wir lernen Schönheit von ihm, Vollkommenheit in der Ausstrahlung der Gestalt, ökonomische Verdichtung der expressiven Mittel, es hat keine leeren Stellen, es hat keine überflüssigen Auswüchse.
Das Blatt, das uns der Herbst in den Schoß zählt, ist vom Geist des Lebens beschrieben. Lesen wir seine Maserungen und feinen Verästelungen, seine gezackte, geränderte, geriffelte oder aufgewölbte Gestalt, fühlen wir an ihm seine Weichheit und Sprödigkeit, seine herbe Undurchdringlichkeit und poröse Durchlässigkeit, sehen wir in ihm seine Spiegelbildlichkeit und ewige Lust, sich selber zu sagen, sich als dasselbe immer erneut zu sagen, die unendlichen Variationen des Gleichen.
Noch leuchtet das welke Blatt, Licht sickert und rinnt durch seine Poren. Dann wird es trübe, fleckig wie die Haut von Greisen, faulig, versinkt, ein Schatten zu den Schatten der Erde.
Goethe sah im Blatt das Urbild, den Typus, das Muster des Lebens, das in den Metamorphosen von Knolle und Samen, lichtsinnigen Wachstums, geistvoller Gliederung und organischer Gestalt, Blüte und Blütenstaub im zeitlichen Wandel als monadische Identität sich spiegelt, sich selbst liebend sich selber spielt.
Kleine Anemone oder riesige Eiche, ein Jahr oder tausend Jahre, was macht den Unterschied?
Lesen wir das Blatt mit dem Gedicht so, als habe auch dieses der Herbst uns in den Schoß gezählt.
Das Blatt des Psalms. Als künde das Leuchten des Blattes von einem unerhörten Wort, einem fremden Licht, das es ins Dasein rief. Als rühme das Blatt das Wort, das ihm seine Lebenslinien einbeschrieb.
Das Blatt ist Gestalt und hat eine Grenze, einen atmenden Rand, eine sinnreiche Peripherie, es hat einen Stengel, der es mit dem größeren Organismus und Träger des Lebens verbindet, wie der hohe Baum Gestalt hat unter dem Himmel und wurzelt in Erdnacht. Es nährt durch Synthese und Metamorphose die Pflanze, wie die Wurzel den Baum.
Der Schnee, der sich als weicher stummer Samt auf die kahlen Zweige und Äste gelegt hat, tröstet, weil er uns vom Anblick des nackten, entblätterten Lebens verschont.
Die Monade ist das Umgreifende und Übergreifende, sie macht aus den tausend Blättern ein Dach, aus dem Stamm die Säule, aus der Wurzel die Krypta.
Wie geistreich, anmutig, fromm, daß die Griechen glaubten, im Säuseln der Blätter der heiligen Eichen im Hain von Dodona den geheimen Willen der Gottheit zu hören.
Kinder, die losstürmen und eifern, die gelb, rot, kupferfarben leuchtenden Blätter des Herbstes aufzulesen, und kindlich-fromm in Gebinden in Händen halten.
Das Labyrinth der Äste und Zweige, das Weben der Dämmerung im Blattwerk, die Hoheit der Waldriesen, die unser kleines Leben, unsere Bedrängnis, unsere Träume weit überragen, Wipfel, deren Rauschen aus bläulich durchbrochener Ferne zu uns spricht von einer gedehnten, wolkenhaft dahinziehenden, wolkenzart sich auflösenden Dauer.
Wir kommen in dem Bemühen, unser Dasein zu begreifen, nicht weiter als in der geduldigen Betrachtung der Metamorphosen des Blatts: das märzlich aufschäumende Grün, das erfüllte Zwiegespräch mit dem Licht, das Austrinken, Austräumen, Verströmen der Säfte, das Welken und Dämmern über den Schatten des Grunds, die Herrlichkeit herbstlichen Entsagens, das plötzliche Sichlösen von allem Halt, das Trudeln und Schweben im Leeren.
Blatt, das auf dem Wasser schwebt. Was können wir mehr sagen?
Es dreht sich leise, und wenn die Welle schwappt, schmiegt es sich an das schöne Verhängnis.
Weiße Rose, die auf dem Wasser schwebt. Vollkommen in sich abgerundeter, schwingender, klingender Kreis des Daseins. Aus sich geworden, für sich leuchtend, für sich. Dann das Spiel der Strahlen, wenn sie dem hellen Morgen ihr tränenfeuchtes Auge auftut, wenn sie im seltsamen Flüstern des Mondlichts ihre scheue Knospe wiegt.
Und wir lernen Stille vom Blatt, und auch in seinem Säuseln, Raunen, Rascheln – Stille.
Wie es fällt, der Feder eines Vogels gleich, der soeben sein letztes Lied sang.
Die verwesten, verfaulten, schwarzbraunen Blätter, die allmählich in den Boden sinken, ganz ausgetrunkenes Licht, Kehricht und Dung ganz verstummten Lebens.
Die Kulte, in denen die Gottheit durch das Leuchten des Blütenblattes verherrlicht, in ein versöhnliches, gütiges, gnädiges Licht getaucht wird, sind die religiös vollkommenen.
Liebeskulte, in denen die Wahrheit des Blatts sich zum Lied, zum Gesang, zum Hymnus erhebt.
Das Rosenfest der Aphrodite.
Das Blütenopfer für Dionysos.
Das Blumenopfer für Buddha.
Der Blütenmonat und das Lilienwunder Mariens.
Dichtung, die den Blütenstaub unter die Asche der Erinnerung mengt.
Gedicht, Blatt am stillen Zweig, säuselndes Blatt am Zweig im Wind, Blatt am Zweig, den der Sturm biegt und bricht, Blatt, von Rauhreif überglänzt.
Kinder lernen, wir lernen, wir Kinder lernen Andacht vom Blatt, wenn wir es sorgsam auflesen und zwischen die geliebten, geküßten Seiten des Buchs pressen.
Und wir schlagen die Seiten auf und staunen, wenn die Urschrift leuchtet, graut oder nachzittert.
Das Blatt gehört uns rein, unbehelligt, unbeschadet, anders als den Sammlern von Insekten und Schmetterlingen ihre aufgespießten Exemplare.
Jenseitsblätter der Jenseitsblumen, Asphodelen, Lilien und Dantes große Himmelsrose.
Damals, als wir statt mit der Schippe Erde und Staub Blütenblätter dem Toten ins Grab warfen.
Damals, als wir Bündel brauner, feuchter, fauliger Blätter ins Herbstfeuer der Eifel streuten, das Schwelen und Zischen des alten Lebens, wie die Glut schwer atmete unter Qualm und Qual, wie die dunklen Rauchwolken wallten und uns in die Augen bissen.
Damals, als wir zögernden, gleichmütigen oder mutwilligen Schrittes die gelben und roten Blätter auf dem Waldpfad aufrührten, aufwirbelten, ihr Rascheln und Knistern waren der Wellenschlag unseres Gangs, flüchtig und träumend darauf der schwerelose Schaum der Empfindung.
Die Blütenblätter, schneeig, gesprenkelt, gepunktet, die du in die flache Kristallschale gestreut hast, die Schatten auf dem Grund waren hell, sie sangen.
Unsere Liebe zu Tieren, die sich von Früchten und Blättern ernähren; die großen gefleckten, schimmernden Räuber mit dem tödlichen Glanz der Augen, sie können wir nur scheuend ehren.
Damals, als der Teich ganz von Blättern bedeckt war, der Garten schlief unter der Decke eines Himmels von phosphoreszierendem Grünspan, und der Teich blieb stumm.
Die Maler, die das Schattenspiel, das Dämmern und das Zwielicht des Blattwerks einfangen.
Die Maler, die das Lied, den Kanon, die Fuge in der verwobenen, durchwirrten Partitur der Blüten und Blätter hören, und die hohe Stille, die sie als Kronen ihres Leuchtens und Schimmerns und Sichverdunklens tragen.
Blatt, das auf dem Wasser schwebt. Augenblick, Ewigkeit. Was können wir mehr sagen?