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Auf verlorenem Posten

22.03.2024

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Denunziatorisch gesinnte Banausen lesen keine Bücher, sie schnüffeln darin.

Sagt man „Kafka“, kommt als konditionierter Reflex aus dem Mund des braven Schülers und Adepten des Zeitgeists: „Ach, der tyrannische Vater!“ Gregor Samsa, der Käfer – „Symbol der Entfremdung menschlicher Beziehungen in der patriarchalischen Familie“ (oder ebenso glatt von der Zunge „der kapitalistischen Gesellschaft“).

Die Kulturbetriebsschickeria sendet ihre Schnüffler, Scharlatane und Denunzianten aus, um aus dem Schrank eines Kafka die schmutzige Wäsche herauszuwühlen, unter der ledernen Zwangsmaske des Tübinger Psychiaters Autenrieth Hölderlin nachzufühlen und nachzuäffen und vor der Schwarzwaldhütte bei Todtnauberg den Abdruck des Klumpfußes aufzuspüren.

Wie den Ursprung der Sprache verkennt, wer ihn in der Wortgebung des Schreis oder der Interjektion zu finden meint, banalisiert und trivialisiert einer denjenigen der Dichtung, der sie als bloßen Ausdruck der Leidenschaft und des Gefühls oder gar einer gefühlvoll metaphorisch ummäntelten moralischen Haltung betrachtet.

Sine ira et studio – das Gebot der Enthaltsamkeit von spontanen Sympathien und Ressentiments gegenüber den dargestellten Akteuren oder moralisch imprägnierten Stellungnahmen hinsichtlich der dargestellten Entscheidungen und Begebenheiten des nüchternen Historikers.

Soll man aufdringlich betonen, es habe sich um die Entscheidung eines grausamen, niederträchtigen und blutrünstigen Gewaltherrschers gehandelt, die zur Hinrichtung der Widerstandsgruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg führte? Allerdings: Konnte man von diesem Herrscher anderes erwarten, etwa, daß er, moralisch erschüttert durch die heroische Tat dieser Männer, sich eines Besseren besonnen hätte und vom Amt zurückgetreten wäre? Dies scheint ebenso lächerlich wie das erstere eitel.

Das Gedicht kann als Form der von den Romantikern so genannten „Gemütererregungskunst“ wirken, ohne daß sein Verfasser sich solcher Erregung hingegeben haben müßte.

In eine Maus verwandelt gibt das Wort der Dichtung, bang vor der Katze der öffentlichen Meinung, nur noch ein leises, unverständliches Fiepen von sich.

Zwei, drei Generationen, von Catull über Horaz und Vergil bis Ovid, das war der Höhepunkt der lateinischen Dichtung im Goldenen Augusteischen Zeitalter. Ziehen wir sodann die Linie vom Göttinger Hain bis zur Weimarer Klassik und fragen: Ist dies eine Analogie im Sinne der historischen Morphologie eines Oswald Spengler? – Erhebliche Zweifel melden sich an, angesichts der Unvergleichbarkeit der Sprachen und Kulturen ebenso wie der grundverschiedenen poetischen Darstellungsmittel.

Klopstock hat die antiken Odenmaße der deutschen Sprache einzuverleiben gestrebt, aber anders als die harmonische und sinnfällige Übertragung der griechischen Metren in die lateinische Sprache durch Horaz drückte die deutsche bisweilen der enge Schuh, sodaß sie in freien Rhythmen das Weite suchte.

Man kann Dichtung nicht einzig auf der Grundlage von historisch-biographischen Daten ableiten und verstehen. – Wir haben nur dürftige und oft fragwürdige Splitter aus der Überlieferung über das Leben der Sappho; doch verstehen wir, obwohl es sich wie meist um ein Fragment handelt, jene Verse, in denen das dichterische Ich in einer priesterlichen Maske die Göttin Aphrodite hymnisch anruft, sich in dem Hain zu offenbaren, wo Apfelbäume und Rosen blühen, Weihrauch auf Altären emporsteigt und edler Wein für sie bereitsteht, den die Göttin selbst mit Nektar vermischt den Eingeweihten des Thiasos einzuschenken aufgefordert wird.

Nennt man vollmundig Kafka einen Dichter der Moderne, mag man vielleicht darauf hinweisen, daß in der Tat der Landvermesser im „Schloß“ zu einer neuesten technischen Errungenschaft, dem Telefon, greift; doch was er vernimmt, wenn er in die Muschel lauscht, sind geisterhafte Stimmen. – Schon die antiken Dichter vernahmen solche oder ähnliche Stimmen im Rauschen des Wassers und im erregten Laubwerk der Bäume.

Wir Kinder wähnten, im Summen der Hochspannungsleitungen die Stimmen fremder Sprachen aus Übersee zu erlauschen.

Das Ende der Dichtung ist besiegelt, wenn die technokratische Herrschaft des Weltimperiums, um das Ideal der Gleichheit zu verwirklichen, den Säuglingen nach der Geburt einen Chip ins Hirn implantieren läßt, der sie im Fühlen, Denken und Sprechen mit den Angehörigen ihrer jeweiligen sozialen Gruppe auf gleiche Wellenlänge einstimmt.

Das auditive Gedächtnis des Dichters – der Bienenkorb eines kaum durch den Schlaf unterbrochenen Summens und Singens fremder Stimmen, des Seufzens und Klagens der Abwesenden und Toten.

Ein wenig Klarheit oder der Anschein von Verständlichkeit stellt sich ein, wenn sich eine Stimme vordrängt und diktiert, was der überwältigte oder überrumpellte Schreiber demütig oder resigniert zu Papier bringt.

Der sublime dichterische Stil eines Vergil und Horaz nährt sich von der syntaktischen Sperrung von Hauptwort und Bezugswort, zwischen denen sich der Ausblick auf fernere Lichter, Schatten, Stimmungen der Seele auftut. Die Sperrung kann auch wie ein sprachlicher Kontrapunkt wirken, wenn in den Zwischenräumen Bedeutungen auftauchen, die einen Schatten auf das Ausgesagte werfen.

Die wallende Gewandung und ihre wechselnde Färbung und Musterung in den metrisch gezügelten oder gelockerten Rhythmen eines Goethe oder Brentano und das fadenscheinig-blasse oder steifleinene Vers-Hemd zeitgenössischer Literaten.

Heute, nach Dezennien der Schmähung und Diskreditierung der väterlichen Autorität und der sogenannten bürgerlichen Familie als Hort der Finsternis und des Traumas, mutet uns Kafkas Erzählung „Das Urteil“, wenn man sie, wie von geistlosen Literaturwissenschaftlern oder ideologischen Moralisten nicht anders zu erwarten, auf den außerliterarischen Stoff reduziert, abgestanden und fade an. – Anders ihr sprachlicher Ausdruck, insofern er mit dem Rätselhaften und vom Verstand nicht Faßbaren ringt.

Aufgrund der Überzüchtung des Verstandes, wie sie die zeitgenössischen Curricula in Schule und Hochschule im Zeichen von Digitalisierung und KI vorantreiben, verkrüppeln das Gemüt und die intuitiven Begabungen des Menschen auf Insektenmaß.

Manche Verse, wie von Verlaine oder Trakl, sind geflügelten Küssen gleich, Falter, die an exotisch-fremdartigen Blüten saugen, um trunken zur Erde zu stürzen und zu sterben.

Eine Wanze, durchs Mikroskop betrachtet, wirkt monströs.

Auch die Grenze des Verstehbaren können wir fühlbarer, rätselhafter, bedrohlicher auf uns wirken lassen; etwa als nur zeigbare, nicht sagbare Grenze der Sprache oder als Deus absconditus.

Die Sprache bietet mehr Möglichkeiten, vom lichten Pfad des Verstehens und der Verständigung in das dunkle Dickicht und den Wald voller Rätsel abzuirren, als uns guttut.

Maße des dichterischen Rhythmus finden wir im Herzschlag, im Atemholen, im Wechsel von Wachen und Schlafen, von Gedanke und Traum, von Tag und Nacht, von Ebbe und Flut, von Frühling, Sommer, Herbst und Winter, in der Spannung von Schwerkraft und Licht, Nähe und Ferne, in den Mondphasen und Sternenzyklen, in der Wechselrede von Herz und Hirn und vielem mehr.

Das seiner Umgebung allzu entrückte Wort beginnt zu schillern, setzt eine Art metaphysischen Grünspan an und wird unverständlich wie „Bedeutung“, „Sinn“, „Sprache“ und „Geist“.

Die römischen Begriffe populus und natio spiegeln einander; sie sind vorstaatliche Prägungen des sozialen Lebens. Völker gründen Staaten, Staatsangehörigkeit kann ethnische Identität nicht tilgen; die Kurden sind ein Volk, auf drei Staaten verteilt, das sich zu behaupten und einen eigenen Staat zu gründen bestrebt ist.

Das ethnische Substrat der Völker bildet ein eigentümliches individuelles Ethos aus, das ihre Lieder, ihre Mythen, ihre Epen färbt und ihre malerischen und plastischen Erzeugnisse atmosphärisch umhüllt: die ionische Färbung der homerischen Epen; die ethnisch-kulturelle Aura der griechischen Säulenordnung – dorisch, ionisch, korinthisch.

Mag es uns allgemeines Stirnrunzeln der erwachten Gutmenschen einbringen, wenn wir der Idee der Weltgesellschaft unter der Herrschaft der Trikolore mit Mißtrauen begegnen, die Bedeutung des ethnischen Substrats und der Polarität der Geschlechter als Bedingung der sinnvollen Rede vom Volk und der Liebesdichtung vom Minnesang bis Goethe und des romantischen Lieds nicht abzuschütteln vermögen oder den Gipfelschnee der poetischen Achttausender zu betreten nur den Bergsteigern vorbehalten, die sie unter Inkaufnahme hoher Risiken erklimmen, wir wissen, wir stehen auf verlorenem Posten, es mutet an wie der heroisch-imaginäre Kampf des Don Quijchote: komisch, grotesk und vergeblich.

An der Schneegrenze überrascht den einsamen Wanderer der Enzian mit seiner wundersamen Pracht, deren Schönheit gleichsam dem menschlichen Auge abgewandt ist.

Schiller konzipierte seine Gedichte in Prosa, die sich oft schon in versrhythmische Kola gliederte, doch flocht er die Reime zumeist nachträglich ein; Goethe strömten die Reime unwillkürlich wie Seerosen auf den Wellen des Rhythmus dahin.

Die lyrische Dichtung ist anders als das Epos strophisch gegliedert; die reichste Entfaltung deutscher Strophik der Neuzeit vom vierzeiligen Volksliedton über die sechszeilige Strophe bis zur achtzeiligen Stanze finden wir bei Goethe und den Romantikern; bei Heine schon und später im Expressionismus sehen wir den Formenreichtum auf meist vierzeilige Gebilde geschrumpft oder gänzlich überwuchert und aufgelöst. – Die Strophe aber ist keine äußerliche Klammer, sondern hat ein eigenes Ethos, eigene Aussage- und Strahlkraft; anders der fließende Volksliedton bei Eichendorff und Brentano, anders die schweren Quader der Marienbader Elegie Goethes.

 

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