Auf Treu und Glauben
Anmerkungen über den Sinn des sozialen Lebens
Das Zentrum, aus dem der Sinn quillt, gleicht dem blinden Fleck. Daher können wir das Zentrum nicht im Zentrum, sondern nur von den Rändern aus beobachten.
Der Ausnahmezustand offenbart die Wahrheit über den gewöhnlichen Gang des Lebens, Krankheit, Wahnsinn und Tod im individuellen, Abweichung, Verbrechen und Zerfall im sozialen Leben.
In der Ausnahmesituation des Selbstmörders erfassen wir den Sinn des Lebens, aus der Grenzsituation des moralischen Kretins oder aus dem moralischen Defekt den Sinn des moralisch Guten, aus der Grenzsituation des Verbrechers den Sinn des Gesetzes und des Heiligen.
Der Selbstmörder, der den letzten Schritt zu tun bereit ist, hat die Nabelschnur der moralischen Energieversorgung mit dem sozialen Organismus schon durchschnitten, mag aber noch eine Weile vor sich hinleben, und dies in einem ironischen Zustand der Unverbindlichkeit und Unwirklichkeit aller Ereignisse, an die er noch streifen, von denen er noch erfahren mag. Arbeit, Freundschaft, Liebe, Familie – solche und andere bedeutungsschwere Begriffe, die gleichsam auf dem Kothurn erhöhter sozialer Aufmerksamkeit und Wachsamkeit daherzuschreiten pflegen, klingen im Ohr des moralisch Moribunden tönern und sinnentleert. Der suizidale Mensch, und es sind dies nicht nur solche, die wirklich Hand an sich legen, sondern in diesem Zustand der moralischen Vakanz noch lange ihr Dasein fristen mögen, er lebt beständig in einem Ausnahmezustand, welchen die anderen, die am Leben tatkräftig und mühsam Engagierten, als existientielle Ferien bezeichnen könnten: Wir erinnern uns an einen gewissen Herrn Albin, seines Zeichens der Typus des Selbstmörders in Thomas Manns Zauberberg, der den Protagonisten den Romans, Hans Castorp, an das Interregnum seiner Schulzeit erinnert, als er in der Prima des Gymnasiums vorzeitig vom Umstand erfuhr, nicht versetzt zu werden, und nun die verbleibende Zeit als leere Zeit unwirklichen und unverbindlichen Herumsitzens und Zeitverschwendens bis zum Schuljahrsende erlebte. Ja, wir können von diesem Falle auf das Ganze der Ausnahmesituation jener Schicksale des Romans extrapolieren, die das unsichtbare Siegel der meist tödlichen Krankheit mit der seltsamen und zweideutigen Auszeichnung begabt, dem Ernst der sozialen Verpflichtung, wie sie die gewöhnlichen Menschen „da unten“ im Tal der gewöhnlichen Freuden und Leiden bindet, entkommen zu sein. Das prägnante Merkmal dieser Unwirklichkeit und Traumexistenz angesichts des Todes zeigt sich in der Tatsache, daß das zugesagte Wort seine bindende Kraft einbüßt, es wird gewichtslos, eine Eintagsfliege, die keine Nachkommen haben wird. So ist ja ein geträumtes Versprechen ohne soziale Bindemacht, ein im Wahn oder Rausch den ohnmächtigen, aber ekstatisch bebenden Lippen entschlüpftes Liebesbekenntnis haftet sich an eine leblose Imago, eine Puppe und Maske in einem schnarrend ablaufenden Panoptikum oder Pandämonium, die sich alsbald im Nebel des Ungesagten auflöst.
Wir bemerken, daß der Sinn des sozialen Lebens sich aus dem auf Treu und Glauben zugesagten Wort, dem Versprechen und der verbindlichen Geste erschließt, Wort, Versprechen und Geste, die als Bedingung ihrer Erfüllung und Bewährung auf ritualisierte Handlungsbahnen und auf Dauer gestellte Gewohnheiten und Institutionen verweisen, die Zukunft, eben die Zukunft ihrer Erfüllung und Bewährung, eröffnen.
Was ist der Defekt des moralischen Kretins? Das auf Treu und Glauben zugesagte Wort, das Versprechen, die verbindliche Geste nicht verstehen zu können, kurz, über den zu ihrem Verständnis nötigen moralischen Sinn nicht zu verfügen. Der moralisch Stumpfsinnige sagt dir zu, morgen das ausgeliehene Buch, das geschuldete Geld bestimmt aushändigen zu wollen. Doch er tut es nicht, nicht, weil er es nicht tun will, sondern weil er sich durch das eigene Wort nicht gebunden und verpflichtet fühlt. In gewisser Weise ist er unschuldig, denn sein Defekt macht ihn zu einem armselig-blöden Außenseiter, dem wir schuldhafte Handlungen oder Unterlassungen nicht zurechnen mögen. Er kann demnach weder durch Mahnungen und Drohungen eines Besseren belehrt noch durch Strafen gebessert oder durch Therapien geheilt werden. In den ärgeren Fällen ist der Ausschluß aus verantwortlichen Ämtern und Funktionen oder gar der Ausstoß aus der Gemeinschaft die angemessene Regularie, die nicht ihm hilft, aber den Betroffenen, den Geschädigten oder von Schaden Bedrohten.
Dem asozialen Charakter, der uns durch fortgesetzten Lug und Trug hinreichend geärgert hat, entziehen wir am Ende unser Vertrauen; da er sich als unglaubwürdig erwiesen hat, kann er nicht mehr auf unseren moralischen, geschweige denn materiellen Kredit hoffen oder spekulieren. Gewiß nehmen wir an, der moralische Kretin bestrafe sich selbst, wenn er durch sein fortgesetztes Überschreiten moralischer Grenzen mehr und mehr Freundschaften und Kontakte einbüßt und sich sozial isoliert hat. Doch findet er bei seinesgleichen oft das Surrogat einer Gemeinschaft der Infamie. Indes vermöchte er seiner moralischen Minderbegabung wegen jene Ächtung nicht als selbstverschuldete Strafe zu verstehen, sondern wird der Welt grollen, die ihn so ungerecht behandelt.
Der Defiziente in moralibus enthüllt uns den positiven Sinn des moralisch Guten: Es ist demnach kein objektives Gut oder gegenständlicher Wert, sondern die Wachheit und Achtsamkeit für die Verbindlichkeiten und Verpflichtungen, die aus dem Netz der sozialen Lebenstatsachen spontan erwachsen. Der moralische Kretin ist bedeutungsblind für diese Verbindlichkeiten und Verpflichtungen, er achtet und berücksichtigt sie bestenfalls als Dekor und schamhafte Verhüllung, hinter der sich in seinen Augen die von Natur amoralischen Neigungen und Triebe tummeln. Der Kinderschänder oder Vergewaltiger, der kein Bewußtsein der Grenzen des subjektiven Lebens hat, hält seine traumatisierenden Übergriffe für unschädlich, da sie in seinen Augen den Neigungen des Opfers entgegenkommen, die nur falsche Scham leugne und in Abrede stelle. Der diebische oder räuberische Parasit plündert die Taschen oder das Konto des Wohlhabenden, und wähnt sich im Recht, da diese Grenzübertritte in seinen Augen dem Opfer keinen Schaden zufügen, sondern einen gerechten Ausgleich herstellen, der seine Tasche oder sein Konto um den Wert vergrößert, den das Opfer ihm durch List und Betrug vorenthalten habe.
Das moralisch Gute erweist sich demnach als eine spezifische Funktion des subjektiven Lebens und Bewußtseins überhaupt, nämlich als Bewußtsein von der Grenze zwischen den persönlichen Lebensbereichen, zwischen „meiner Wohnung“ und „deiner Wohnung“, „meinem Körper“ und deinem Körper“, „meinem Leben“ und „deinem Leben“. Das moralisch Gute ist das Bewußtsein von den Grenzen des eigenen und des fremden subjektiven Daseins.
Das moralisch Gute ist auch kein sekundäres Phänomen, als könne eine utopisch rein funktional und technologisch konstruierte soziale Welt seiner entbehren. Da es in der Grundschicht menschlicher Subjektivität einlagert, ist es in der menschlichen Gemeinschaft, was die Lebensmittel für den Erhalt des Organismus: Wir können die Ernährung umstellen und Vegetarier werden, aber eine Null-Diät führt bald zum Tode; wir können die Komplexität der gegenseitigen Verbindlichkeiten und Verpflichtungen auf ein Minimum reduzieren (wie es gewisse strenge Orden handhaben mögen), aber eine Null-Diät führt bald zum Untergang des sozialen Lebens.
Der Verbrecher enthüllt uns den Ursprung des Gesetzes bis in die Tiefen seiner religiösen Dimension. Der Dieb, der Räuber, der Vergewaltiger, der Mörder weiß, was er tut, deshalb wird ihm das Vergehen als Schuld zugerechnet. Sein moralisches Stigma ist die Ehrlosigkeit, denn die Ehre und Würde, die wir dem Eigentum, Leib und Leben des Mitmenschen zumessen, gelten ihm als geborenem moralischen Anarchisten nichts. Er wirkt im Verborgenen, doch nicht aus Scham, sondern um der Nachstellung durch die Ordnungsmacht und der Strafe zu entgehen. Auch wenn er um die Schuld weiß, hat er doch kein schlechtes Gewissen, denn die gelungene Tat spornt ihn zu neuen Vergehen an. Die Verletzung der persönliche Integrität der durch ihn zu Schaden Gekommenen und das ihr entspringende Leid, das von der Beschämung bis zur Selbstverachtung und Verzweiflung reichen kann, sind ihm gleichgültig, wenn sie ihm nicht sogar ein perverses Vergnügen bereiten.
Worin besteht die Ehrlosigkeit des Verbrechers? Nun, er ignoriert, überschreitet, verletzt die Grenzen von Mein und Dein, von Ich und Du, von Wir und Ihr – die Grenzen der Subjektivität des menschlichen Daseins. Denn es gibt dein und mein Buch, deinen und meinen Leib, dein und mein Leben nur unter der ontologischen Voraussetzung der Subjektivität oder des subjektiven Bewußtseins, daß dies mein oder dein Buch, dies mein oder dein Leib, dies dein oder mein Leben ist.
Daran ermessen wir, daß der Sinn des sozialen oder des menschlichen Lebens gleichursprünglich mit dem Dasein der Subjektivität oder des subjektiven Bewußtseins ist.
Mit der Subjektivität des menschlichen Daseins ist ein spezifischer Wert verbunden, den wir aus den empfindlichen Reaktionen auf seine Ignorierung durch den moralischen Kretin und seine Verletzung durch den Kriminellen ersehen: Wir heißen ihn kurz und bündig das Heilige oder den religiösen Wert. Der Anspruch auf die Unversehrtheit des individuellen Eigentums, von Leib und Leben und also die Bedeutung und Geltung des Gesetzes wurzeln ontologisch in der subjektiven Grundschicht des sozialen Lebens der Menschen, welcher einen religiösen Wert zuzusprechen wir geneigt und berechtigt sind.
Gewiß ließe sich die Ontologie der Subjektivität theologisch vertiefen unter Bezugnahme auf die Heiligkeit Gottes als der Subjektivität par excellence.
Es ist ein offenbares Geheimnis, was sich in der Vergöttlichung der sozialen Tugenden in den allegorischen Gestalten der altrömischen virtutes, allen voran von fides und pietas, ausspricht und beredte Gestalt annimmt. Fides verkörpert die sozialen Bindekräfte und die Heiligkeit der sozialen Grenzziehungen, die Gültigkeit des zugesagten Worts und die Glaubwürdigkeit des Versprechens, die Treue des Bündnisses, die Verläßlichkeit der Abmachung und des Vertrags, die Zusage von Schutz, Fürsorge und Fürsprache. Pietas ist die Frömmigkeit gegenüber dem Anspruch und der Erwartung der Ahnen auf die Zukunft ihrer Worte und Werke in den Worten und Werken der Nachkommen, die Einlösung des Versprechens, daß ihre Anfänge in den Antworten der Enkel Früchte tragen.
Nun, was tun mit Herrn Albin und all jenen, die in der üppigen Wüste eines ästhetischen Nihilismus versandet sind? Mögen wir uns auch in Geduld und Nachsicht mit ihnen üben, aber ihre Haltungen sollten wir nicht für bare Münze nehmen, sondern sehen wir in der Entwurzelung des Lebens von der Wahrheit der Subjektivität die uns alle bedrohende Gefahr, unser Dasein als kontingenten Schaum auf der Woge einer namenlosen Entwicklung namens biologische oder soziale Evolution mißzuverstehen, auch wenn dieser Schaum noch so betörend glitzern und irisieren mag – er reflektiert die Strahlen einer schwarzen Sonne.