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Auf Gedeih und Verderb

17.03.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Die Ausnahmesituation entblößt die Wahrheit des sozialen und individuellen Lebens.

Es müssen kurze Wege der Einsichtnahme und Entscheidung genommen werden, um der Gefahr zu begegnen; zauderndes Gerede, das auch noch Hinz und Kunz das Wort erteilt, kann sie vergrößern, der langatmige Diskurs tödlich sein.

Sicherheit ist schwankend wie das Schilfrohr, denn der Wind hebt an, wie die auf dem Wasser schwebende Rose, denn die Woge kommt.

In der Gefahr richtet sich wie im platonischen Staat die Politik nach den Maßgaben der Fachkundigen.

Die Partei- und Religionszugehörigkeit sinkt angesichts der Bedrohung zu einer quantité négligeable herab.

Die notwendige Beschneidung der Freizügigkeit enthüllt sie als Luxusgut einer saturierten Gesellschaft, die sich der Illusion der Sicherheit hingibt.

Man kommt auf ungeheuerliche Fragen zurück: Wer soll gerettet werden, die vitalen Jungen oder die moribunden Alten? Hätte das Leben in einem Getto ohne Kunst, Theater, Musik auf Dauer Sinn?

Herabgedrückt zu sein auf die bloße Sorge ums Weiterleben scheint so unvermeidlich wie stupid.

Es scheint fast lächerlich, wenn ein Riese auf einer Bananenschale ausrutscht und stürzt, ein Goliath von einem kleinen Stein getroffen ins Knie sinkt; doch an der Schläfe schlug er ein.

Man kann eine Kurve so krümmen und stauchen, daß sie an keinem Punkt eine Tangente zuläßt; die Funktion, die sie beschreibt, ist diskontinuierlich, also bildet die Linie nur scheinbar ein Kontinuum. – Der Ausnahmezustand ist das Extrem, das die Diskontinuität des sozialen Lebens enthüllt.

Begriffe, die in Zeiten des Übermuts und Hochmuts mißachtet und verachtet wurden, wie Nation, Staatsgrenze, Staatsgewalt und Staatsvolk, kommen in der Ausnahmesituation wieder zu ungeahnten Ehren. – Mancherorts geht man so weit, anders als hierzulande, sogar vom Kriegszustand zu sprechen.

Tapferkeit, Mut, Sinngebung – sie gewinnen erst im Kampf und Krieg, der auch unter friedlicher Bläue lautlos in den Grotten und Schründen der Erde tobt, ihre Kontur. Das Wehen im Vorhang es Traums, es kommt von dort.

Albert Camus benutzte in seinem Roman Die Pest noch das traditionelle Symbol für den Feind, die Ratten, um die Flucht in die geschlossene Gesellschaft und die Abgeschiedenheit der Quarantäne augen- und sinnfällig zu machen. Heute ist der Feind, das fatale Virus, unsichtbar, doch die Folgen, welche die radikalen Methoden, es aufzuspüren und einzuhegen, zeitigen, gestalten das Bild des Alltags auf ebenso radikale Weisen um: leere Plätze und Straßen, leere Gaststätten, Theater, Museen, Konzertsäle, Sportstätten.

Welch ein zwielichtiger Friede, welch ein friedvolles Zwielicht in dieser großen unheimlichen Leere, in der Stille der Hallen und Säle, unter den hörbar gewordenen Tropfen Taus, die von den Blüten und Zweigen der Parkanlagen fallen, in der traumseligen Verlassenheit um die Fontana di Trevi, den venezianischen Löwen, das Brandenburger Tor, welch blaue Stunde der Kontemplation in den Theatern und Arenen, da das Geschrei und Gejohle der Schausteller und Zuschauer verstummte.

Die Diktatur, als extreme Form des Ausnahmezustandes zur Niederringung des äußeren oder inneren Feindes, bedient sich zu seiner Aufspürung der raffiniertesten Technologien, die bei der Überwachung von Regimegegnern entwickelt und eingesetzt werden.

Angst und Bedrohung rauben den Halt und die Besinnung, brechen das Rückgrat des Eigensinns und Stolzes: Die Menschen lassen sich klaglos in der eigenen Wohnung einsperren.

Die Fäden intimer Beziehungen werden aufs äußerste gespannt. Nur die mit dem goldenen Band der Treue verzwirnten reißen nicht.

Fragen, die stets im Verborgenen hausen und einen erröten machen, Gespenster dunkler Ahnungen, treten ans Licht: Wer wird wen überleben? Wem ist zu trauen? Wer ist rein, wer verseucht?

Der medizinische Begriff des Kranken und Infektiösen geht in der sozialen Maske der gefürchteten Gefahrenquellen und jener neuen Unberührbaren um, die als Brutstätten tödlicher Keime ausgemacht werden.

Die Masse fühlt sich wieder als organischer Körper, der einer Purifikation bedarf; die religiösen Formen der Entsühnung scheinen indes keine Macht mehr über sie zu haben.

Doch es könnte sein, daß archaische Formen der Ausscheidung des Unreinen im modischen Gewand medizinischer und technologischer Verfahren wiederkehren.

Das Kostüm der Zivilisation ist fadenscheinig, die nackte Haut der Angst, das verwesliche Fleisch immerwährender Unruhe, wollüstiger Langeweile, glänzender Laster und die Schwären vorweltlicher Begierden schimmern durch.

Welcher tragisch gestimmte und zugleich dem Komischen nicht abholde Geist dürfte sich wundern, wenn die verängstigte und vom Schicksal genarrte Menge nach einem Führer schreit und herdenfromm jenem folgt, der sie aus dem Verlies der Angst unter den blauen Himmel und auf die üppigen Auen einer revolutionären Verzückung zu leiten verspricht?

Das Fatum ist blind, es läßt mit den Vitalen nicht auch die Edlen weiterleben und mit den Schwachen nicht auch die Unwürdigen untergehen.

Der Begriff des Ausnahme- und Notstandes, status necessitatis, gemahnt uns an den Ernst des Lebens, dem wir denkend nur durch die Besinnung auf die beständige Gefährdung aller menschlichen Situationen gerecht werden, die uns zwar kraft der Dauer und Stärke unserer Verpflichtungen und aufeinander abgestimmten Bestrebungen zu tragen vermögen, aber wegen der Wetterwendigkeit des Gemüts und der Verwirrbarkeit des Geistes ebenso wieder ins Schwanken geraten.

Das Kind läuft unbekümmert dem roten Ball nach, während rings Gewitterwolken aufziehen; der Dichter findet noch Heiterkeit im Spiel der Reime, doch manche geraten ihm unversehens farblos und fahl, wie im Dämmerlicht die auf das Wasser hingestreuten weißen Blüten, wenn sie allmählich verblassen.

Gewiß hofft, wer sieht, wie alles rings sich verdunkelt und zerfällt, das Gesicht des Freundes, das Lächeln der Geliebten möge ihm unter der Lampe des Intimen noch eine Weile aufleuchten.

Daß auch unsere Liebsten der bleibenden Gefahr auf Gedeih und Verderb ausgesetzt sind, daß am Ende unser oder ihr Flehen vor dem hohlen Auge und tauben Ohr des Todes keine Gnade findet, dies gemeinsame Schicksal macht ihre Nähe dichter und ihre Ferne fühlbarer.

 

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