Auf den Spuren der Vernunft XI
Wer etwas oder sich selbst einem anderen anvertraut, muss damit rechnen, enttäuscht zu werden. Die Ungewissheit und das Risiko, dass der eingesetzte Vertrauensvorschuss nicht entgolten wird, gehört zum Begriff des Vertrauens. Mittels eingeforderter und eingebrachter Vertrauensbeweise suchen wir das Risiko, enttäuscht zu werden, zu minimieren; freilich wissen wir nicht, in welcher Haltung und welchem Maße an Redlichkeit und Aufrichtigkeit solche Beweise erbracht werden. Sind sie am Ende vorgetäuscht, erheuchelt, fingiert, um uns in die Irre zu führen und ins Bockshorn zu jagen? Es scheint nicht unvernünftig, Vertrauensvorschüsse vorsichtig, zögerlich oder sparsam zu vergeben und ganz vorzuenthalten, wenn sich der Kandidat in der zurückliegenden Zeit mehrmals schon als unsicherer Kandidat erwiesen hat.
Es ist indes gewiss vernünftig, solch einem Menschen zu vertrauen und etwas oder sich selbst anzuvertrauen, der seine Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit dadurch schon öfters unter Beweis gestellt hat, dass er ein uns gegebenes Versprechen eingehalten und erfüllt hat. Vertrauenswürdigkeit lässt sich am Einhalten von Versprechen bemessen.
Radikales Misstrauen, das sich auch gegen bewährte Erfahrungsquellen wie die eigenen Sinne oder die Auskunft von vertrauten Freunden sperrt, scheint uns ebenso unvernünftig zu sein wie blindes Vertrauen, das sich einer auserwählten oder charismatisch aufgehöhten Stellung eines Menschen unterwirft, ohne die Gebrechlichkeit und Irrtumsanfälligkeit alles Menschliches zu bedenken.
Manches von dem, was wir wissen, haben wir dem unmittelbaren und direkten Zeugnis unserer Sinne zu verdanken. Den Augen vertrauen wir als unter normalen Bedingungen ziemlich sicherer Informationsquelle und messen Aussagen vor Gericht den höchsten Grad an Glaubwürdigkeit bei, wenn sie von Augenzeugen vorgenommen wurden, deren Vertrauenswürdigkeit aufgrund ihres korrekten Lebenswandels einigermaßen gesichert scheint.
Aber dass der Mond sich in einem Abstand von 384.400 km in einer elliptischen Bahn um die Erde dreht, während diese sich in 24 Stunden einmal um sich selbst und in 365 Tagen ebenfalls in einer elliptischen Umlaufbahn um das Zentralgestirn dreht, hast du dir nicht aus den Fingern gesogen, sondern lernwillig in der Schule von deinem geschätzten Lehrer in Physik erfahren. Den Darlegungen dieses Lehrers warst du ein vertrauensseliger Ohrenzeuge, denn kraft seiner Amtes und dank seiner persönlichen Integrität erschien er dir und deinen Mitschülern eine vertrauenswürdige Quelle interessanter und erstaunlicher Informationen zu sein.
Und so geht es dir mit den meisten Dingen: Dein Wissen um ihre Existenz und ihre Eigenschaften ist ein geliehenes, geborgtes, bezeugtes, aber kein unmittelbares und sinnfälliges. Du wirst im Laufe deines Lebens gelernt haben, den Bestand deines Wissens gemäß der Wertschätzung und Vertrauenswürdigkeit derer, die es dir zugänglich gemacht oder bezeugt haben, hierarchisch nach Stufen oder Reihen zu ordnen: vorne das von den besten und bewährtesten Zeugen wie deinen Eltern, Freunden und Lehrern und den für ihre Seriosität bekannten Autoren überlieferte Wissen, dahinter all das, was man so in den Zeitungen, im Fernsehen und Internet aufschnappt, ohne die Echtheit und Integrität der Quelle nachprüfen zu können, und ganz hinten das Gerümpel all der Dinge, deren Authentizität aufgrund von Voreingenommenheit, Bestechlichkeit oder böswilliger Absicht ihrer Zeugnisgeber mehr als fragwürdig ist.
Hast du deine Bestände sorgfältig geprüft, wirst du vielleicht der Seltsamkeit und Extravaganz unserer Lage inne: Wir können nicht sprechen, ohne schon vorab den anderen in unser Vertrauen gezogen zu haben. Denn wenn wir reden, tun wir dies in der Einstellung, der Hörer möge darauf vertrauen, dass unsere Sprecherabsicht redlich, wahrhaftig und glaubwürdig ist.
Aus nichts wird nichts, wie aus Nacht nicht notwendig das Licht des Lebens und der Wahrheit steigt (das scheint einem höheren Willen anheimgestellt). Die reine Nacht des Misstrauens und Argwohns lähmt die Zunge und kann die Schwelle zur Sprache und Mitteilung des Wahren nicht übersteigen. Sagen wir es so schlicht wie angemessen: Vertrauen ist das normative Apriori sprachlicher Mitteilung und vernünftiger Verständigung.
Die normative Kraft der Vernunft zeigt sich darin, dass sie uns verpflichtet, mit immer wieder frischem Mut und Zutrauen in neue Kommunikationssituationen einzutreten und dem Sprecher, der sich in einer symmetrisch Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Klarheit uns gegenüber befindet, mittels eines Vertrauensvorschusses unsere Dialogbereitschaft zu bezeigen. Freilich sind wir auch zu dem moralischen Rigorosum verpflichtet, dem notorischen Lügner und treulosen Brecher von Abmachungen, Versprechen und Verträgen vorläufig oder bei krimineller Widerspenstigkeit ein für allemal aus unserer Dialoggemeinschaft zu verbannen beziehungsweise unsere Mitmenschen vor ihm zu warnen beziehungsweise sie aufzufordern, mit dem unverbesserlichen Tunichtgut dasselbe zu tun.
Natürliche Phänomene lügen nicht, sie hegen überhaupt keine Absichten mit uns – sie sind, was sie sind. Offenbart der Rauch die Wahrheit über die Tatsache, dass es dort drüben brennt?
Deine Tränen gelten mir als Zeichen deiner inneren Erschütterung und sie sind mir umso kostbarer, je weniger du mit ihnen eine Absicht verbunden hast. In dem Maße, in dem du mit deinen Tränen die Absicht verbindest, mich von der Tiefe deines Gefühls zu beeindrucken oder mich zur Anteilnahme zu bewegen, in dem Maße wird mein Eindruck schwächer und kühlt meine Anteilnahme ab.
Wenn wir im Konzertsaal sitzen und du sagst „Mir geht es nicht so gut“ oder „Ich fühle mich schlecht“ und wir vertraulich miteinander umgehen, verstehe ich deine Äußerung, wenn ich deine Absicht verstehe, mich über dein ungutes Befinden in Kenntnis zu setzen. Ich verstehe, was du mit der Äußerung sagen möchtest, nämlich mir den Wunsch oder die Aufforderung mitteilen, ohne weitere Umstände das Konzert zu verlassen und nach Hause zu eilen.
Stünden wir auf weniger vertraulichem Fuße und hätte ich dich in das Konzert eingeladen, verstünde ich deine Äußerung, du fühlest dich schlecht, wenn ich deine Absicht verstünde, mir mitzuteilen, dass du dich nicht wirklich krank fühlst, sondern dass dir die Musik oder die Interpretation furchtbar auf die Nerven geht, du diese unschöne Wahrheit, höflich wie du bist, mir aber nicht unter die Nase reiben möchtest und mir deshalb mit jener unwahren Äußerung den Wunsch oder die Aufforderung mitteilst, ohne weitere Umstände das Konzert zu verlassen.
Die Vernunft der guten Verständigung ist, wie das Beispiel zeigt, nicht auf die unbedingte Beanspruchung und Geltendmachung der Wahrheit verpflichtet; sie lässt es dem höflichen Menschen gern durchgehen, wenn er aus Höflichkeit oder Zartsinn oder einem anderen Respekt das eigentlich Gemeinte hinter dem uneigentlich Gesagten verbirgt – und eben damit zugleich enthüllt.
Wüsste ich in keinem Falle die Absicht deiner Äußerung zu identifizieren und verpasste im schlimmsten Fall deine erstrangige Absicht der wörtlichen Mitteilung, nämlich mir mit dem Satz „Ich fühle mich nicht gut“ mitteilen zu wollen, dass du dich schlecht fühlst, geschweige denn dass mir die genannten zweitrangigen Griceschen Implikaturen aufgingen, nämlich dass du mit dem Gesagten den Wunsch oder die Aufforderung meinst, das Konzert zu verlassen, könnte man von mir annehmen, aus der Dimension vernünftiger Kommunikation herausgefallen zu sein.