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Auf den Spuren der Vernunft X

05.08.2014

Wenn du dich in einem ernsthaften Gespräch befindest, bist du durch die meisten deiner Äußerungen gebunden und verpflichtet, nach deinem Vermögen vernünftig zu reden. Dich bindet der Anspruch des Hörers, das von dir Gesagte verstehen zu können und durch das von dir Mitgeteilte ein bisschen besser orientiert und informiert zu werden. Dich verpflichtet deine Verantwortung angesichts der Ansprüche des Hörers dazu, das zu sagen, was du für wahr hältst, und es so zu sagen, dass er es gut versteht oder zumindest nicht missversteht, das heißt, ohne ihn mit mehrdeutigen, selbstverliebt-enigmatischen und weitschweifigen oder kurzatmigen Ausführungen zu irritieren, zu behelligen und zu langweilen.

Warum sollte denn dein Gegenüber davon ausgehen, dass du im Regelfall ihn mit deinen Reden nicht hinters Licht führst, sondern ihm klipp und klar, ohne Umstände reinen Wein einschenkst und als wahr behauptest, was du für wahr erachtest? Hier berühren wir den Grund unserer Lebensweise und können nur sagen: So machen es du und ich im Regelfalle, weil wir menschliche Wesen sind und unter Menschen Vertrauen das höchste Gut darstellt, falls man ein gedeihliches und verträgliches Zusammenleben einem Leben unter Argwohn und Zwist vorzieht. Und hier hat die Natur unserer menschlichen Lebensform vorgesorgt und auf die Sprünge geholfen: Neigt sich doch das Kind mit unbedingtem Zutrauen und Vertrauen seinen natürlichen Lehrern und ersten Für- und Vorsprechern, den Eltern, entgegen.

Würden wir uns immerzu verbal foppen und an der Nase herumführen oder würden wir unser Reden immerzu für unverbindliche Verlautbarungen eigenbezüglicher Ideen, wilder Assoziationen und Traumgedanken brauchen, wären weder Haus noch Tempel gebaut, kein Acker bestellt und kein Orchester gegründet, von computergesteuerten Kommunikationssystemen, Raumfahrtprogrammen oder Großkliniken und tausend anderen Technologien und Errungenschaften, die der Kooperation der sich mit- und untereinander oft schwer tuenden Menschen erwuchsen, zu schweigen.

Alle Kooperation beruht auf dem Urfaktum, dass ich verstehe, was du mit deiner verbalen oder schriftlichen Mitteilung mir zu verstehen gibst. Oder vorsichtiger formuliert: dass ich mich zu verstehen bemühe, was du mir sagen willst. Dabei vertraue ich darauf, dass du mich nicht systematisch irreleitest, sondern mich im Normalfall nach deinen Möglichkeiten und im Lichte deiner Einsichten in die Lage mit den gewünschten Informationen ausstattest.

Wer ständig und ohne Not das Vertrauen, die Gutwilligkeit und Kooperationsbereitschaft der Mitmenschen missbraucht, verschwendet sinnlos und unvernünftigerweise das ihm gleichsam seit und mit Aufnahme in die menschliche Gemeinschaft mitgegebene symbolische Kapital an Vertrauen, den Vertrauensvorschuss, mit dem jedermann mittels gemeinschaftsförderlichen Engagements – und das heißt im Normal- und Durchschnittsfall durch Arbeiten und Dienste aller Art – zu wuchern aufgefordert ist.

Sprechen impliziert demnach, sich ursprünglich zu verpflichten und den sprachlichen und sprachgemeinschaftlichen Normen der Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit, Bedeutsamkeit und Klarheit zu huldigen. Aufgrund der menschheitsbegründenden Tatsache, dass wir sprechen, sind wir in das normative Abenteuer der Vernunft verstrickt und können uns nicht als faule Beobachter und vornehme Ästheten an den Rand des Spielfelds stellen.

Wir können uns des normativen Drucks der Sprache der Vernunft und der Vernunft der Sprache nicht dadurch entledigen, dass wir uns als Puppen eines mirakulösen Spiels in der Hand launischer Götter oder als Projektionen neurochemischer Prozesse unseres Gehirns und unseres Organismus ansehen und definieren und solcherart alles Reden von Verbindlichkeit, Verantwortung und Vernunft mit einem Schlag uns vom Halse zu schaffen und als bloßes Gerede abzutun wähnen. Müssten wir dieses Falls unser Reden von Verbindlichkeit, Verantwortung und Vernunft aber nicht auf verbindliche Weise mittels des verantwortungsvollen Gebrauchs unserer Vernunft eben als unverbindliches, unverantwortliches und unvernünftiges Gerede erweisen? Sehen wir nicht in diesem Nebel die dicken Schwaden, die aus des Teufels Küche dringen?

Wir sahen, wie die Psychose die normative Kraft der Sprache schwächt und in vielen Episoden der Krankheit aufhebt: Der Kranke erkennt die Absicht des Sprechers nicht oder verkennt und missdeutet sie in einem Grade, der die Kommunikation unterhöhlt, wenn er die Absichten ihm gewogener Sprecher paranoide verbiegt; der Kranke irrt in der Unterscheidung von intentionalen und kausalen Quellen der Kundgabe und Information, wenn er das Hundegebell als Warnung versteht und das geistesabwesende Lächeln des Kollegen als Ankündigung des nahen Todes; der Kranke verheddert sich in semantische und pragmatische Inkonsistenzen, wenn er etwas akzeptiert oder behauptet, von dessen Nichtexistenz oder Falschheit er eigentlich oder eben noch überzeugt war, oder etwas leugnet, das ihm offenkundig vor Augen schwebt.

Wir können in Anlehnung an das Gesagte annehmen, der Kranke habe das symbolische Kapital des Vertrauens vor der Zeit verbraucht, oder wir müssen angesichts der erblichen Disposition zur Krankheit konzedieren, es sei ihm zu spärlich davon mitgegeben worden. Jedenfalls scheint die Psychose viele Kranke mit Misstrauen, Angst und Argwohn zu vergiften und die Quellen guten Mutes, die unser Gemeinschaftsgefühl stärken und unsere Dialogfähigkeit auffrischen, in einem Maße zu vergiften, dass Verstummen, Erstarren, Teilnahmslosigkeit und Apathie um sich greifen.

Sicher wäre die Liebe die große Macht, das zerrissene Band des Vertrauens wieder anzuknüpfen und die vor Schrecken oder Verzweiflung erstarrte Zunge zu lösen; indes ist diese Macht nicht umsonst die himmlische genannt, lässt sie sich doch wie alles, was von oben kommt, nicht verordnen und häppchen- oder löffelweise verabreichen. Der Arzt ist gehalten, nüchtern seine Pflicht zu tun, er kann sein Erbarmen selten einmal mit in Schwingung bringen. Woher denn Liebe, wenn der Flügel des Engels nicht streift?

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