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Auf den Spuren der Vernunft VIII

27.07.2014

Im Fall einer akuten psychotischen Episode ist der Patient nicht frei, sein Urteil über das Erlebte einzuklammern, in Frage zu stellen oder zu revidieren. Die Differenz zwischen dem Bild, das sich ihm von der Wirklichkeit als absolut und unbedingt wahr aufdrängt, und dem tatsächlichen Ereignis oder den Varianten der Wahrnehmung und Beurteilung, die das Erlebnis erlaubt, steht seinem Urteilsvermögen nicht zur Verfügung. Diese Differenz mittels empirischer Nachprüfung und nüchterner Abwägung im Falle der kritischen Realitätsprüfung zu öffnen oder im Falle der positiven Bestätigung – wenn auch nur vorläufig – zu schließen, gilt uns als wesentliches Kennzeichen des gesunden Menschenverstandes und der Vernunft.

Ein Patient, der unter einer Psychose mit paranoidem Leitwahn leidet, erblickt in der Putzfrau in seinem Büro eine „falsche Figur“ (Personenverkennung), die zwar so aussieht wie die echte Putzfrau, in Wahrheit aber eine von seiner Ehefrau beauftragte oder gesteuerte Person ist, die den geheimen Auftrag hat, ihn in seinem beruflichen Umfeld zu überwachen und seine Gedanken zu lesen, um ihrer Auftraggeberin von der Schwere seiner geistigen Erkrankung Bericht zu geben. Nach Abklingen der Episode und Bearbeitung des Erlebten in einer psychotherapeutischen Sitzung beginnt der Patient, von der Personenverkennung abzulassen, und kommt zur Realitätseinsicht, was ihre Identität angeht. Das bedeutet freilich nicht, dass er in toto von dem paranoiden Leit- oder Grundwahn, von Personen seines engeren Umfelds, insbesondere seiner Ehefrau, verfolgt und überwacht zu werden, abließe.

Wir sahen, dass die für psychotische Wahnerkrankungen typischen Gefühlsregungen und emotionalen Muster keineswegs pathologisch oder abnorm sind, sondern tief in den Strukturen unserer Lebensform wurzeln: Wir tun gut daran, in fremder Umgebung Vorsicht walten zu lassen, Unbekannten nicht blindlings zu vertrauen und auf abschüssigen Pfaden bei hereinbrechender Dämmerung furchtsam uns voranzutasten. Und bei einem sportlichen oder geistigen Überstieg über unsere Grenzen oder beim Glück zärtlich zugeneigter Liebe zu frohlocken oder die Füße tänzerisch zu heben, steht uns sehr wohl an.

Indes den ungebetenen Gast, den dunklen Schleicher oder den zudringlichen Schmarotzer rührselig zu bewillkommnen oder die Zuneigung echter Liebe durch frostiges Misstrauen und obsessiven Argwohn zu verbittern, heißt das Maß der Vernunft, an dem wir die Zuträglichkeit und Angemessenheit unseres emotionalen Engagements hinsichtlich seiner Objekte bemessen, willkürlich zerreißen.

Wenn Grenzen der Haut – auch die unserer Gefühle und Gedanken –, in denen wir uns oft vor den anderen verborgen wähnen, ebenso die Schwelle von Wohnung und Haus, Garten und Feld, Fluss und Pass, an denen wir als Einzelne oder als Gruppenwesen unsere Identität hängen, verletzt oder überschritten werden, wühlt dies urtümliche Ängste aus dem Innersten und Untersten unserer Natur auf und lässt uns oft rechtens die Hand erheben oder die Waffe zücken.

Patienten, deren akute Wahninhalte limitierende, das Leben einschränkende, beeinträchtigende oder schädigende Faktoren betreffen, verdächtigen Passanten, verleumderisch über sie zu reden, und Fahrgäste im Bus, ihre Gedanken zu lesen und über sie zu lachen; sie fliehen vor vermeintlichen Verfolgern in geschützte Umgebungen und Räume oder in die Arme von Angehörigen; sie bezichtigen Arbeitskollegen, sie ermorden zu wollen; sie ziehen von einer Wohnung in die andere, zunächst in ihrem Viertel, dann in der ganzen Stadt, dann fliehen sie gar vor all den Intrigen, Nachstellungen und Machenschaften in ein anderes Land; sie verdächtigen Arzt und Schwestern, ihnen vergiftete Medikamente und Speisen vorzusetzen; sie zerstören das Telefon oder den Fernseher im Glauben, ihre Verfolger würden sie damit ausspionieren; sie verbarrikadieren sich in der Wohnung und gehen nicht mehr auf die Straße; sie springen aus dem Fenster, weil sie die Zudringlichkeiten und Anschläge ihrer Feinde nicht mehr ertragen können.

Wir bemerken zunächst, dass all diese wahngetriebenen Reaktions- und Verhaltensweisen dem allgemeinen Schema von Handlungen gehorchen, die von der praktischen Urteilskraft und Vernunft geleitet werden: Handle so, dass du deinen Handlungszweck im Rahmen deiner aktuellen Überzeugungen über die Welt mit Mitteln und Methoden erreichst, die dem Zweck möglichst angemessen und förderlich sind.

Wir können das praktische Schema bekanntermaßen auch in ein Schema zur Erklärung von Handlungen umformen: Wer Z erreichen will und glaubt, dass p, wird M als Mittel wählen, um Z zu erreichen.

Wer sich von bösen, feindseligen Menschen beobachtet und verfolgt weiß, handelt nach diesem Schema gewiss nicht unvernünftig, wenn er den finsteren Gestalten, die nun einmal gemäß seinen aktuellen Überzeugungen über die Welt hinter der Wand lauern, aus dem Wege geht, ihre Intrigen aufdeckt und ihre Machenschaften durch Flucht oder Selbstwehr hintertreibt.

Fluchtreaktionen und Maßnahmen zur Selbstwehr dienen dem Schutz und der Sicherung von Leib und Leben, sowohl der eigenen Person als auch von Angehörigen und Freunden beim offenkundigen Vorliegen schwerwiegender Bedrohungen und Gefahren. Die Maßnahmen können auch eigenes und fremdes Gut mit einschließen. Reaktionen und Handlungen auf der Basis begründeter Überzeugungen vom Vorliegen schwerwiegender Bedrohungen und Gefahren wie Flucht oder Selbstwehr leiten wir aus der Struktur der menschlichen Lebensform ab: Sie sind insofern vernünftig zu nennen. Auch der bewaffnete Angriff zur Selbsterhaltung und Selbstwehr bis hin zur eventuellen Tötung des Aggressors ist im Sinne der individuellen und kriegerisch-kollektiven präventiven Feindabwehr lebensdienlich und sollte die Missachtung der Vernunft nicht fürchten.

Vernunft oder Unvernunft bemessen wir am Inhalt von Glaubensüberzeugungen und sagen: Es ist unvernünftig für eine Person anzunehmen, dass sie von ihren Nachbarn, ihrem Arbeitgeber, ihren Kollegen, dem Arzt oder den Schwestern verfolgt, ausspioniert oder feindlich behandelt wird, wenn wir Gründe haben anzunehmen, dass die Nachbarn, der Arbeitgeber, die Kollegen, der Arzt und die Schwestern dem Betroffenen wohlwollend und freundlich oder zumindest nicht feindlich beziehungsweise gefühlsmäßig indifferent gegenüber eingestellt sind.

Der Inhalt der Überzeugung, verfolgt, ausspioniert und bedroht zu werden, ist nicht prinzipiell unvernünftig, denn es gab und gibt und wird immer wieder Situationen geben, in denen diese Beschreibung zutrifft. Und auch die praktische Folgerung aus dieser Überzeugung, möglichst wirksame Anstalten zu treffen, den vermeintlichen Verfolgern zu entkommen und ihr Intrigenspiel aufzudecken und zu hintertreiben, ist nicht unvernünftig, sondern entspricht wie gezeigt dem bekannten Schema der Handlungsrationalität.

Wir nennen die paranoide Überzeugung und die daraus folgenden Reaktionen und Verhaltensweisen deshalb wahnhaft, pathologisch oder abnorm, nicht weil sie an und für sich unvernünftig wären, sondern weil sie in diesem speziellen Fall und unter diesen aktuellen Umständen nicht zutreffen beziehungsweise nicht angemessen sind.

Wir nennen die Handlungen der Patienten in akuten psychotischen Schüben unvernünftig, weil ihnen die Einsichten in die Gründe ihres Handelns und damit auch die eventuelle Berücksichtigung von Handlungsalternativen verschlossen sind. Gründe für das eigene Handeln in vernünftiger Rede oder vernunftgeleitetem Dialog anzugeben, impliziert, alternative Handlungsgründe in Betracht ziehen und gegebenenfalls die Entscheidung für die aktuelle Handlung revidieren zu können.

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