Auf den Spuren der Vernunft II
„Es hat ihm die Sprache verschlagen.“ „Darauf verstummte sie und starrte ausdruckslos vor sich hin.“ „Die Worte zerfielen ihm auf der Zunge wie platzende Pilze.“
Radikale Skepsis in Bezug auf die Fähigkeit der Sprache, etwas Reales darzustellen und etwas Richtiges darüber zu sagen, führt wie die radikale Skepsis gegenüber unserer Fähigkeit, etwas zu erkennen, was keine Funktion unserer Wahrnehmung oder unseres Interesses ist, schließlich zur Verzweiflung an der Möglichkeit des sinnvollen Gedankens und zur selbstzerstörerischen Selbstaufgabe der Vernunft.
Doch immer ist es die Vernunft, die sich selbst aufgibt – sie erliegt dem Schein, widerlegt worden zu sein oder sich selbst widerlegt zu haben. In Wahrheit setzt sie noch im Schein des Selbstwiderspruchs die Wahrheit der einfachen Position ihrer selbst voraus.
Wir sagen: Die Sprache ist der Körper der Vernunft.
Wenn die Sprache der Körper der Vernunft ist, besteht Hoffnung, bei ihrer einigermaßen bedachtsamen, aufmerksamen, hellhörigen Verwendung nicht gänzlich in die Irre gehen zu müssen.
Wir wissen von keinem Ort vor der Sprache, von keinem Bereich unserer Lebenswelt, den wir diesseits oder jenseits der Sprache betreten könnten. Wer immer zerknirscht und verstört in den Keller und die Unterwelt hinabsteigt, um dort stumm zu vegetieren, steigt in den Keller im Haus der Sprache und die Unterwelt in der Welt der Sprache hinab.
Wer immer durch Krankheit dement, durch Entwürdigung und Folter in den Irrsinn getrieben wird, er fällt nicht aus dem logischen Raum von Sprache und Vernunft, dem er einmal zugehörte – weil er ihm einmal zugehörte.
Wir wissen von keinem Bereich diesseits oder jenseits der Vernunft, den wir wie Freibeuter unter falscher Flagge betreten könnten. Wenn wir annähmen, die Natur oder die natürliche Entwicklung wäre dieser Bereich, müssten wir die Existenz der vernünftigen Rede und die Geltung der durch die vernünftige Rede erzeugten Wahrheiten voraussetzen: Wir müssen annehmen, dass unsere Behauptung, die Vernunft sei ein Produkt der natürlichen Evolution, wahr sei. Also kann Wahrheit, das wesentliche Kennzeichen der vernünftigen Rede, kein Produkt der natürlichen Evolution sein.
Wenn wir annähmen, Wahrheit, die Eigenschaft der vernünftigen Rede, einen bestehenden Sachverhalt in der Welt zu beschreiben, wäre eine Funktion und ein Produkt der natürlichen Entwicklung und der natürlichen Auslese, könnten wir nicht wissen, ob unser Reden Wahres hervorbringt, weil wir zwischen dem subjektiv-evolutionär Vorteilhaften und dem objektiv Wahren nicht unterscheiden könnten. Wir können allerdings annehmen, dass das, was uns als animalischen Subjekten evolutionäre Vorteile einbringt, wie das Gefühl des Wohlbehagens und der Lust, wenn wir etwas Süßes essen oder wenn ein Feind Schaden oder den Tod erleidet, nicht eine objektiv gültige Wahrheit oder einen objektiv gültigen Wert darstellt. Wenn wir aber aufgrund der natürlichen Entwicklung in das Gefängnis subjektiver Empfindungen, Wahrnehmungen und Wertgefühle eingesperrt wären, wäre die Annahme, durch vernünftige Rede und das Erwägen und Abwägen von Gründen etwas über das objektiv Wahre herausfinden zu können, allemal illusorisch. Also kann die Wahrheit oder die Eigenschaft der vernünftigen Rede, mittels guter Gründe wahre von falschen Behauptungen unterscheiden zu können, keine Funktion und kein Produkt der natürlichen Entwicklung und der natürlichen Auslese sein.
Die natürliche Entwicklung wird durch physische und psycho-physische Beweggründe – Ursachen und Motive – vorangetrieben und gesteuert. Die vernünftige Rede hingegen wird nicht durch physische oder psycho-physische Beweggründe vorangetrieben und gesteuert, sondern durch logische Gründe strukturiert und entfaltet. Wenn wir annähmen, die vernünftige Rede würde durch Beweggründe und nicht durch Gründe aufgebaut, müssten wir mindestens einen Grund auffinden und benennen, der uns zu dieser Überzeugung gebracht hat und in dieser Überzeugung bestärkt. Denn der Sinn und Zweck der vernünftigen Rede ist es, gute oder hinreichend gute Gründe für unsere Überzeugungen zu finden oder gute Gründe dafür, dass die eine oder andere unserer Überzeugungen falsch ist. Würden wir aber einen guten Grund finden, der die Überzeugung, dass die vernünftige Rede durch Beweggründe und nicht durch Gründe strukturiert und entfaltet wird, bewahrheitet, würden wir mittels einer vernünftigen Rede mit zumindest einer guten Begründung die Geltung und den Anspruch der vernünftigen Rede, Wahres zu finden und auszusagen, bestreiten, also behaupten, die vernünftige Rede sei unvernünftig. Das aber ist offensichtlich falsch, das Gegenteil muss demnach richtig sein. Folglich wird die vernünftige Rede nicht durch Beweggründe, sondern durch rationale Gründe strukturiert und entfaltet.
Wir sagen: Moralisch handelt, wer in wesentlichen Fragen und bei wichtigen Entscheidungen nicht spontan seinen Beweggründen und triebhaften Impulsen nachgibt, sondern mittels der vernünftigen Rede die Gründe seines Handelns abwägt und nach objektiven Maßstäben des Guten und Besseren oder des Schlechten und Schlechteren beurteilt. Wenn die vernünftige Rede eine Illusion und ihr Aufweis von Gründen zur Ohnmacht verurteilt wären, wären wir wie es törichte Menschen und supergescheite Philosophen stets gewünscht oder angenommen haben zu einem zynisch-fröhlichen Immoralismus verdammt.
Doch was tust du, wenn du dein Versprechen einhältst und deinem Lehrer das freundlicherweise entliehene Buch zur ausgemachten Stunde am ausgemachten Ort zurückgibst? Du handelst vernünftig und moralisch gut. Denn geliehenes Gut auszuhändigen, ist nicht nur rechtens oder eine schöne Sitte, sondern moralisch geboten, weil es nicht zu tun auf Betrug und Diebstahl hinausläuft. Du aber handelst gut, einfach aus dem Grund, weil es gut ist, sein Versprechen einzuhalten, und schlecht, es nicht zu tun.
Aber, wendet der Advocatus diaboli, sprich der nietzscheanische Immoralist, der darwinistische Evolutionspsychologe oder der freudianische Seelenzerkleinerer, ein: Du sonnst dich in der Lüge moralischer Perfektion, in Wahrheit handelst du aus Angst vor der Autorität des Lehrers, der dir dein kleines Schüler- oder Studentenleben zur Hölle machen kann, wenn du nicht parierst. Hinter deinen vorgeschützten moralischen Handlungsgründen verstecken sich schamhaft unschöne Beweggründe, die die Freiheit deines Handelns nach Gründen einschränken, wenn nicht aufheben.
Doch bevor du noch das Buch zum rechten Zeitpunkt hast aushändigen können, stirbt der Lehrer. Du aber vergisst dein Versprechen nicht, obwohl du die Lage ausnutzen könntest und den Umstand, dass keiner außer dir und dem Lehrer von der Ausleihe des Buches und deinem Versprechen etwas weiß. Obwohl es dir doch größeres Vergnügen machen sollte, das Buch hinfort ungestraft unter dein Eigentum zu rechnen, wendest du dich zu einem angemessenen Zeitpunkt an die Familie und die Verwandten des Verstorbenen und händigst ihnen zu ihrem Erstaunen das Buch aus.