Argumentum e contrario
Statt deinem Nächsten Rosen
ins Gesicht zu halten,
zieh ihm lieber die Ohren lang,
auf dass er hellhörig werde!
Du bist in der Welt
und die Welt ist in dir.
Du bist die Welt.
Die Urgründe, die Wurzeln, die Elemente,
die Zahlen, Algorithmen, Strukturen –
die ganze Physik und Kosmologie,
die Chemie und Biologie,
die Mathematik und Logik,
verkörpert, präsent, verdichtet
in dir.
Alles ist akkurat am Leitfaden
des Urfadens entwickelt, verstofflicht,
symmetrisch ausgeformt:
Hirn und Augen, Ohren und Glieder,
Becken und Rippen, Nieren und Lunge,
Hoden und Eierstöcke –
alles im Doppelpack.
Damit du ihn nicht zu voll nimmst
und nicht mit dem einen Maul lästerst,
was du mit dem anderen lobhudelst,
gibt’s nur einen Mund.
Alles ist perfekt
synthetisiert,
akkumuliert,
koordiniert,
synchronisiert.
Die Uhren sind in dir, solang sie ticken,
gut vertaktet.
Alle Sinne und Organe besprechen sich ständig
über die Knäuel und Fasern der Nerven.
Du bist das Einmaleins,
die Quintessenz,
das Kondensat
des Kosmos.
Du bist ein kurzweiliger Essay,
eine gut geschürzte Novelle,
ein doppelsichtiges Poem,
eine kitzlige Kriminalgeschichte,
ein langatmiger Krankenbericht,
eine fatale Pointe
auf das Leben und die Welt.
Wenn du beim amüsanten Reigen der „Stillen Post“
deinem Nachbarn ständig das verstopfte Ohr hinhältst,
staut sich bald der Fluss des Spiels –
mit der Heiterkeit ist es vorbei.
Je komplexer und perfekter eine Welt:
umso fieser hageltʼs Kleckse, Fehler, Patzer.
Du schriebest eine Stunde hastig ein Diktat –
und alle Zeilen blieben lupenrein?
Wundere dich also nicht,
machʼs dir klar mit dem argumentum e contrario:
Wie sollte ein Wolkenkratzer in Japan
durch ein Erdbeben nicht ins Wanken geraten?
Wie sollte ein feinverästelter, feinvernetzter Organismus
wie der deine nicht anfällig sein
für Karzinome und Psychosen –
oder auch heiße Mordimpulse,
wenn der Nachbar rumpelt
und dein Liebster dich scheel anschaut
bei der Umarmung?
Ergo: Leibniz hatte recht.
Quod erat demonstrandum.