Analogia entis
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die schlichte Tasse ist mittels ihrer Rundung mundförmig, ihres Henkels handförmig gebildet.
So ist der Flügel windförmig, die Flosse wellenartig, das Auge sonnenhaft.
Wir erblicken die Sonne am Himmel, doch das blaue Gewölbe des Himmels ist der Horizont unserer Lebenswelt, in dem wir die Lerche steigen sehen – die Lerche aber sieht ihn nicht.
Das Blatt ist im ununterbrochenen Gespräch mit dem Wind, dem Licht, dem Regen.
Die Form, die Aderung, die Struktur des Blattes ist eine Resonanz, ein Echo, eine Antwort auf den Wind, das Licht, das Wasser.
Die Dinge, mit denen wir umgehen, sind keine neutralen Objekte mit wesentlichen und akzidentellen Eigenschaften, sondern Bedeutungsträger unseres Weltumgangs.
Der Sessel ist eine Resonanz unserer körperlichen Gestalt, des Rückens, der Arme, der Beine.
Der Körper, die Seele, der Geist von Mann und Frau stehen in harmonisch-kontrapunktischer Spannung.
Der Mann versteht die Frau nicht, die Frau nicht den Mann, sondern beider Selbstverständnis und Selbstgefühl wächst und intensiviert sich, je mehr sie vom Gegenpart in sich aufnehmen.
Das Dasein von Biene, Hummel, Falter ist ein Moment im Dasein der von ihnen bestäubten Blüten, die Blütenpflanze ist ein Moment im Dasein von Biene, Hummel, Falter.
Die Sonne des Astronomen und Physikers ist nicht die Sonne des Adlers, des Gärtners, des Malers.
Die Vergangenheit ist keine Vorstufe der Gegenwart, die Gegenwart keine Vorstufe der Zukunft, alle Zeiten schwingen zugleich wie eine Schale unter Schalen, eine mittönende Glocke unter tönenden Glocken in der Ewigkeit einer unendlichen Melodie.
Eine kaum angeschlagene Melodie kann man intuitiv fortsetzen und vollenden.
Eine Betrachtung der Hand ist sinnlos ohne eine Analyse von Begriffen wir Handwerk und Handlung.
Kulturen sind wie Pflanzen, die in ihrem Wuchs, ihrer Blütenform, ihrem Duft ganz verschiedene ökologische Umwelten widerspiegeln.
Man kann Rosen nicht mit Disteln kreuzen; freilich sie mittels Pfropfen veredeln. – So wurde die römische Kultur mittels Aufpfropfen der griechischen veredelt.
Alles Erleben gründet auf Formen des Empfindens, alles Empfinden setzt den Unterschied dessen, der empfindet, vom Empfundenen als mehr oder weniger deutlich voraus. Demnach ist alles Erleben, tierisches und menschliches, in unendlich feinen Abstufungen ichgetönt.
Es ist augenscheinlich, daß sich eine Farbempfindung wie Blau oder Grün innerhalb eines Gesichtsfeldes abspielt; ein Gesichtsfeld aber sprechen wir demjenigen zu, der die Empfindung hat.
Können wir keinen noch so unscheinbaren Subjektpol ausmachen, dem wir ein Gesichtsfeld zusprechen, ist es sinnlos, von einer Farbempfindung zu reden. Es gibt kein Blau oder Grün außerhalb der Erlebniswelt des Lebewesens, das eine solche Farbempfindung hat – ob es nun eine Biene ist oder ein Mensch.
Dies gilt naturgemäß auch für jene Dinge, deren Farbwert wir wahrnehmen; Rosen sind ein unserer Lebenswelt zugehöriger Bedeutungsträger von Farben, Düften, Symbolen der Liebe; die sie bestäubende Biene weiß nichts von ihnen.
Alles Empfundene hat innerhalb eines durch Schwellenwerte abgegrenzten Empfindungsfeldes eine unmittelbare Relevanz oder Lebensbedeutung für den Empfindenden.
Wir beobachten, was der andere empfindet, und lesen es an seiner Mimik und Haltung ab oder entnehmen es schlicht dem, was er sagt. Unsere Beobachtung der Erlebnisweisen des anderen modifiziert unser eigenes Erleben, das sich wiederum in unserer Mimik und Haltung oder schlicht in dem ausdrückt, was wir sagen. So geraten wir in eine reflexive Schleife des Erlebens, die sich in Erregungen steigern oder in Erschöpfung, Redundanz und Langeweile erschlaffen kann.
Die Lebenswelt, in der Hans lebt, mag eine Variation der Lebenswelt sein, in der Hilde lebt; dennoch sind sie nicht vollkommen aufeinander abbildbar oder auseinander ableitbar.
Wenn Hans und Hilde als Paar miteinander leben, ist ein Dritter stets anwesend: das Kind, auch wenn sie keines haben. – Denn Körper und Seele von Mann und Frau sind (mag der Aberwitz des Zeitgeistes es auch stumpfsinnig verkennen oder böswillig abstreiten) kontrapunktisch komponiert, und der Sinn dieser Komposition ist die Möglichkeit des Kindes.
Wir können in den subjektiven Mittelpunkt fremder Lebenswelten nicht eindringen; wir können mit Tieren und Menschen nur in Korrespondenzen leben, so mit dem Hund als Kumpan, dem Mitmenschen als Freund oder Feind, Gatten oder Kind.
Der Flügel ist eine kontrapunktische Komposition auf die Luft und den Wind.
Der menschliche Fuß ist ein analoger Widerpart der Erde, auf die er tritt.
Der Mund steht in Korrespondenz zur Nahrung wie der Fuß zum Erdboden; das Besteck steht in Korrespondenz zum Mund wie der Schuh zum Fuß.
Das Integral des Munds ist der Stoffwechsel, das Integral des Fußes der Weg.
Die Technik steht in Korrespondenz zur Natur; der Leisten, über den der Schuster das Leder schlägt, hat sein Maß am Fuß.
Der blind Geborene weiß nicht, was Dunkelheit ist.
Wir kennen und bezeichnen die Eigenschaften der natürlichen und technischen Dinge gemäß der Bedeutung, die sie in unserer Lebenswelt haben. Die Eigenschaften, die wir dem Wasser zusprechen, stehen in Korrespondenz zu seiner Bedeutung als unverzichtbares Element unserer Lebensform. Ob es chemisch H2O ist oder XYZ, spielt dabei keine Rolle.
Aufgrund angeborener Verfahren der Projektion verwandelt sich der Reiz in ein Bild oder Merkmal; der Reiz auf der Netzhaut verwandelt sich in das Bild des gesehenen Dings. Die Reizverarbeitung ist elektro-chemisch; das Verstehen des Bildsinns ist es nicht, sondern akausal und intentional.
Der ursprüngliche Weg ist der Heimweg, der uns aufgrund erlernter Wegmarken vertraut ist. Geraten diese aus der Sicht oder dem Gedächtnis, irren wir auf Abwegen umher.
Man kann die Reizquelle identifizieren, wie den Lichtpunkt im Gesichtsfeld; aber nur die aufgrund der Reizumwandlung erzeugten Merkmale lassen sich beschreiben. Dazu verwenden wir Merkmalzeichen wie: hier und dort, vorn und hinten, links und rechts, hell und dunkel.
Die vom Geiger erzeugten Töne wirken auf uns als akustische Reizquelle; aber wir hören die Melodie; diese ist ein Komplex akustischer Merkmale, die wir mit mehr oder weniger differenzierten Merkmalzeichen oder ästhetischen Etiketten beschreiben, etwa: laut oder leise, hoch oder tief, hell oder dunkel, sanft oder schrill, heiter oder melancholisch.
Bei den ersten Klängen einer Melodie sind wir geneigt, sie antizipierend fortzusetzen und zu vollenden; nicht so beim Kreischen einer Säge oder dem Lärm eines startenden Flugzeugs.
Die Ignoranz der Philosophen wollte uns weismachen, in der Natur herrsche das planlose Herumtasten oder evolutionäre Chaos von Versuch und Irrtum, Mutation und Anpassung; doch gleicht die Natur (wollen wir denn ein Bild haben) eher einem Konzert, bei dem die Instrumente aufgrund einer genialen, sich gleichzeitig mit der Aufführung verwirklichenden Kompositionstechnik harmonisch zusammenstimmen.
Das Spinnennetz ist eine kontrapunktische Abbildung seiner Beute, der Fliege.
Spinne und Fliege, Blüte und Biene, Mann und Frau stehen zueinander in einer isomorphen Abbildbeziehung oder einer Analogia entis.
Was die Melodie in der musikalischen Komposition, ist der Satz in der menschlichen Sprache.
Der Zusammenhang der Töne, die eine Melodie bilden, ist kein mechanischer oder kausaler; der Zusammenhang der Laute oder Schriftzeichen, die einen Satz der menschlichen Sprache bilden, ist ein grammtisch-normativer.
In begrifflich konfusen Zeiten bedarf es mühsamer Besinnung, um der Wahrheit der klassischen Auffassung, die Natur sei das Paradigma der Kunst, wieder einen Sinn abzugewinnen.
Wir verstehen die Klassik aber besser, wenn wir auch umgekehrt die Kunst als Paradigma der Natur gelten lassen.
Das Bild ist eine Projektion des Reizes; die Melodie ist eine Projektion der Partitur.
Was die Partitur für die Melodie, ist der genetische Code für die Lebensform des Subjekts.
Wir können den uns ansprechenden Bildausschnitt mit kleinen musikalischen Sinneinheiten wie dem Motiv oder dem Akkord vergleichen; die kleinste sprachliche Sinneinheit kann demnach kein Phonem, sondern nur das Wort sein.
Wir gelangen mittels einer solchen Grenzwert- oder Differentialbetrachtung an die tragenden Sinneinheiten des Lebens und des lebendigen Ausdrucks; jenseits liegt das Unsagbare.
Die Noten der Melodie sind nichts anderes als die Aufzeichnung eines musikalischen Gedankens; und dieser kommt, wenn er denn originell ist, durch den Vorgang, den wir Inspiration nennen, aus dem Nichts oder dem Jenseits des Vorstellbaren.
In diesem Sinne entspringen die schöpferischen Gedanken, die sich in den Organismen und ihren Lebenswelten verkörpern, dem Nichts oder dem Jenseits dessen, was wir denken und uns vorstellen können.
Die Analogie bricht ab, wenn wir zur Quelle und zum Ursprung gelangen.
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