„Alles fließt“ – die Affen des Heraklit
Der antike sizilianische Komödiendichter Epicharm parodiert im Typus eines Schmarotzers die Lehre des Heraklit, daß nichts bleibe, alles sich ohne Unterlaß verändere und wir nicht in denselben Fluß stiegen, weil sowohl der Fluß als auch der Badende ihre Identität eingebüßt hätten. Der Tunichtgut weigert sich, dem Gläubiger das geliehene Geld zurückzuerstatten mit dem herakliteischen „Argument“, er sei ja wohl nicht mehr mit dem identisch, der das Geld bekomme habe. Daraufhin bezieht er von dem Gläubiger eine Tracht Prügel. Es kommt aufgrund der Tätlichkeit zu einem Gerichtsverfahren: Der angeklagte Gläubiger und Raufbold weist jede Schuld und Strafe mit dem herakliteischen „Argument“ von sich, er sei ja wohl nicht mehr mit dem identisch, der sich an dem Kläger vergangen habe.
Die schillernden französischen Namen der zeitgenössischen Schmarotzer an der Lehre des Heraklit sind in aller Munde. Leider trat kein neuer Epicharm auf, ihr Gewese zu parodieren.
So müssen wir denn statt uns an einer unterhaltsamen Komödie zu delektieren mit einer mehr oder weniger kurz-, mehr oder weniger langweiligen philosophischen Sinnanalyse vorliebnehmen.
Wenn gälte: „Alles fließt“, hätte dieser Satz keinen Bestand und wäre kaum ausgesprochen schon im Wind verweht.
Der Satz des Heraklit ist auf Wasser geschrieben.
Wir sehen, daß der Fluß fließt, wenn wir sehen, wie das Wasser am Ufer entlangströmt, wie es sich durch die Binsen und das Röhricht schlängelt, wie es sich am Felsen bricht. Das Ufer fließt nicht, die Binsen und das Röhricht wanken, aber wurzeln fest, der Fels verharrt an Ort und Stelle.
Die Vorsokratiker sagen mit Sprüchen wie „Alles ist Wasser“, „Alles ist Feuer“, „Alles ist Luft“ oder „Alles fließt“ etwas, was sich nicht sagen läßt, nicht (nur) weil unser empirisches Wissen nicht ausreicht, um alles zu erfassen, sondern weil die Grammatik und Logik ihrer Aussagen schief oder sinnwidrig ist.
„Die Stunden fließen dahin“ – wir verstehen, was gemeint ist, doch könnten wir die Metapher leicht mißverstehen oder wenn wir Philosophen sind das Bild wörtlich nehmen und alsbald blühte der Unsinn. Denn „Zeit“ ist uns nur zur Hand in den Meßverfahren, mit denen wir Abläufe, Geschehnisse und Ereignisse in ihrer zeitlichen Erstreckung messen – und diese Verfahren und ihre Instrumente wie die Sonnen-, Armband- und Atomuhr sind in ihrer Struktur gegenüber demjenigen, was wir durch sie messen, relativ stabil, starr und gleichsam „zeitenthoben“. Zerflösse uns die Uhr unter der Hand wie auf den Gemälden Salvador Dalís, drehte sich der Stab der Sonnenuhr wie ein Wetterhahn im Wind und wären die Abläufe im Innern der Atomuhr chaotisch, könnten wir die Zeit nicht messen und es wäre unsinnig, von „Zeit“ zu sprechen.
Würde sich der Igel, dessen gemächlichen Gang wir beobachten, plötzlich in einen Hasen verwandeln und dieser im Nu im Wald verschwinden, könnten wir nicht sagen, dasjenige, was zuerst als Igel schlich, sei hernach als Hase gerannt – und den ganzen Vorgang anhand einer Stoppuhr messen, denn es war kein kontinuierlicher Vorgang.
Wenn wir nicht wissen könnten, ob der Mann, der jetzt das Haus betritt, derselbe ist, der hernach das Haus wieder verläßt, könnten wir nicht sagen, er habe sich zwei Stunden dort aufgehalten. Und gemäß der Lehre des Heraklit wäre er ja nicht mehr derselbe Mann.
Wenn wir im Sinne Heraklits annehmen, daß alles fließt, könnten wir, was wir erfahren gleichsam in Wellen und Wellenbewegungen auflösen und aneinanderreihen; doch daß eine Welle aus der anderen hervorgeht, könnten wir nicht wissen, ja müßten wir bestreiten.
Du gibst mir eine Ohrfeige, aber ich darf mich darüber nicht beklagen, denn derjenige, der jetzt vor mir steht, weiß nichts von dem, der sie erteilte.
Freilich, die Uhr im Raumschiff, das mit annähernder Lichtgeschwindigkeit fliegt, ginge anders im Vergleich mit unserer Uhr auf der Erde; doch die Ereignisse in seiner Umgebung würde sie in gleicher Weise messen wie wir die Ereignisse auf der Erde mit unserer Uhr.
Wenn wir annehmen, alles verwandle und ändere sich unablässig, nichts bleibe sich selbst gleich, könnten wir von keinem Ding weder sagen, daß es sich gleich bleibe noch sich unablässig verwandle, wir könnten also von nichts reden, oder wir könnten nichts reden.
Etwas ist grundlegend faul mit der sprachlichen Logik und Grammatik von Sätzen wie „Alles fließt“ oder „Es gibt keine Identität“, um es im postmodernen Jargon auszudrücken.
Ich kann mein Versprechen, dir das geliehene Geld nach einem Jahr zurückzuerstatten, nicht mit dem philosophischen Aperçu oder der Ausrede in den Wind schlagen, daß alles fließt und alle Identitäten die Masken wechseln, also seist du nach einem Jahr nicht mehr der Alte und ich längst aus der Haut dessen geschlüpft, der das Versprechen gab und das Geld erhielt.
Unsere sittlichen Begriffe und Verhältnisse (der Humus unserer konventionellen Umgangsformen und des positiven Rechts) wie das Versprechen, die Verbindlichkeit, die Schuld, der Vertrag, die Pacht, das Erbe und manche andere beruhen nicht auf der Illusion der Gleichförmigkeit und Stabilität, die ihnen aus dem steten und starrsinnigen Gebrauch unserer grammatisch gleichförmigen Sätze zuwüchse, sondern sie sind gleichsam die semantischen oder symbolischen Bojen im bewegten Strom unseres Tuns und Lassens.
Der Gläubiger gewährt dem Schuldner einen Kredit; das Geld, das dieser erhält, wird durch die Anwendung des rechtsverbindlichen Kreditvertrags – ob in Schriftform oder mittels der Geste des Handschlags – zur Schuld oder geschuldeten Summe, die abzutragen oder zu erstatten ist. Die Vereinbarung ist ein Rechtsverhältnis auf Zeit, der Zeit der Dauer und Rechtsgeltung des Vertrags. Ist die Schuld beglichen und abgegolten, ist die Vertragsdauer abgelaufen, das Rechtsverhältnis zwischen den Kontrahenten beendet.
Durch die korrekte Anwendung der sittlichen Begriffe wie Schuld, Verbindlichkeit und Vertrag legen wir auch die Dauer und den Zeitrahmen ihrer Gültigkeit fest. Was in der Zwischenzeit an mehr oder weniger einschneidenden Veränderungen im Leben von Gläubiger und Schuldner sich abspielt, ob der eine heiratet, der andere sich scheiden läßt, ist für Geltung und Dauer des Rechtsverhältnisses ohne Belang; sogar wenn einer der Kontrahenten stirbt, können vertraglich geregelte Vereinbarungen über die Verbindlichkeit der Erben oder Rechtsnachfolger zum Zuge kommen.
Zu den sittlichen Begriffen gehört auch der Krieg, der, ist er anders als der Bürgerkrieg und der Partisanenkampf durch rechtliche Bestimmungen eingehegt, einer förmlichen Eröffnung durch den Sprechakt der Kriegserklärung bedarf, die den Zeitpunkt definiert, von dem an die Kriegshandlungen beginnen; wie andererseits der Sprechakt der Friedenserklärung das Ende der Kampfhandlungen und den Beginn von Friedensverhandlungen einläutet.
Wir halten fest: Aufgrund der korrekten Anwendung spezifischer Sprechakte (verbal oder gestisch) legen wir den Beginn oder die Dauer des mit ihnen Geäußerten fest: mit dem Anpfiff beziehungsweise dem Abpfiff den Beginn und das Ende des Fußballspiels, mit der Aushändigung der Urkunde den Eintritt in einen Verein, mit der Taufformel den Beginn der Zugehörigkeit des Täuflings zur Kirchengemeinschaft, mit der Heiratserklärung den Beginn der Ehe, mit der Kriegserklärung den Beginn der Kampfhandlungen, mit dem Versprechen den Beginn und die Dauer seiner Gültigkeit, mit der Unterzeichnung des Kaufvertrags den Beginn von Eigentumstitel und Nutzungsrechten, mit dem Kreditvertrag den Beginn und die Dauer seiner Geltung.
Die Formel „Alles fließt“ (Heraklit) ist genauso sinnvoll oder unsinnig wie ihr Gegenteil „Nichts bewegt sich“ oder „Alles ruht“, gleich dem fliegenden Pfeil oder Achill, der auf der Stelle tritt und die Schildkröte niemals einholen kann (Parmenides, Zenon).
Mit Heraklit oder als dessen Parasiten wollen Pseudo-Denker mit dem Hautgout namens „Ich ist ein anderer“ eine Art Schwindelgefühl bei leicht beeindruckbaren Zeitgenossen erzeugen, als würde ihnen der Teppich unter den Füßen weggezogen, als wäre alles auf Sand gebaut (vor allem Moral, Gesetz, Recht und soziale Ordnung), als gähne sie die große Leere zwischen den Zeichen an und als wäre ihr Personenname ein Etikettenschwindel.
Die Affen und Äffchen des Heraklit wollen gern épater le bourgeois, indem sie der Alltagsrede des Common Sense ein dialektisches Schnippchen schlagen, das Subjekt der Aussage guillotinieren und das Prädikat wie eine endlose Glitzerschleife um den Leichnam wickeln.
Die wesentlichen sittlichen Beziehungen sind auf Dauer gestellt und begrifflich mit dem verknüpft, was Goethe „Dauer im Wechsel“ nennt; so die Freundschaft. Alt gewordene Freunde erinnern sich gern der frühen Zeit, als die Zuflucht vor einem Gewitter, ein Fest, eine unerhörte Begebenheit den Grundstein für die Novelle ihrer Freundschaft legte, und auch wenn sie unter ihrem Grauschopf kaum den Jugendlichen von einst ähneln, reden sie von jenen Ferngerückten nicht als von „anderen“.
Wir bemerken: Was in den metaphysischen Formeln wie „Alles fließt“ oder „Alles ruht“ semantisch schief und im Argen liegt, ist das Fehlen der sprachlogischen Möglichkeit des Gegenbegriffs, der durch die All-Aussage ja ausgeschlossen wird. Wir können von Bewegung nur reden im Verhältnis zu einem relativ zu dem sich bewegenden System ruhenden Beobachter, vom Fluß nur, wenn wir am Ufer stehen, vom ruhenden Zentrum nur, wenn wir uns wie Kinder auf dem Pferd des Karussells im Kreise um es herumdrehen, von den alt gewordenen Freunden nur, wenn es sich um eben jene handelt, die sich als junge Männer begegnet sind.
Eine gar trübe Quelle der sprachlogischen Verderbnis der Alltagssprache ist das Einschleusen von Begriffen und Bildern aus dem populären Wissenschaftsbetrieb durch Pseudo-Philosophen.
Es begann, als man gewarnt wurde, sich auf diesen Sessel zu setzen, denn wie die Atomphysik herausgefunden habe, bestehe er fast ganz aus Löchern und undichten Stellen, zwischen den Elektronen und Atomen klafften unheimliche Abgründe der Leere. Als man, zumindest zu dem gedanklichen, Experiment ermuntert wurde, durch die Wand zu gehen, denn sie sei nur scheinbar fest, dicht und undurchdringlich, in Wahrheit aber, vom physikalischen Standpunkt aus gesehen, porös und permeabel wie Schaum.
Neuerdings wird vollmundig verkündet, die Zeit existiere eigentlich nicht, die Physiker rechneten schon lange ohne diesen Faktor, und die Identität der Person oder das Bewußtsein, das ihre Illusion erzeuge, sei selbst eine Illusion, zumindest habe man, ähnlich wie die Astronauten in den leeren intergalaktischen Räumen Gott nicht hatten sichten können, keinen Ort für das Bewußtsein im Gehirn gefunden. – Ist es naive Wissenschaftsgläubigkeit gepaart mit Naivität und Dummheit? Oder doch eher Dummdreistigkeit und Arroganz von Affen des Heraklit, die heute Laborkittel und Professorentitel tragen?
„Alles fließt“ – dies scheint eine tiefe Wahrheit eines tiefen Denkers über das dem gemeinen Verstand verborgene unsichtbare Walten des Universums; enthüllt sich aber als ein Mißbrauch der Sprachlogik, der das Alltagsgrau der gewöhnlichen Wortbedeutung hinter einem farbigen Schleier des Geheimnisses zu verbergen scheint.
Wir können sagen, dies fließt im Verhältnis zu einem anderen, das im Verhältnis zu jenem ruht; aber nicht: Alles fließt, alles ruht.
Wir können sagen, was dies und jenes ist, aber nicht, was alles ist.
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