Ästhetische Prädikate
Philosophische Bemerkungen über das ästhetische Sprachspiel
Wir können nicht vor der Sprache („vor“ im logischen Sinne) – gleichsam mit unbefleckten Lippen – von der Sprache reden.
Kann man zum ersten Mal ein Wort, einen Satz, eine Melodie, den Ausdruck eines Gesichts verstehen – oder ist das eine illusionäre Rückerinnerung (gleichsam ein Nachbild) des bereits Verstandenen?
Ein Wort verstehen: es als mögliches Argument in allen möglichen Funktionsausdrücken einsetzen, wodurch sie einen sinnvollen Satz als ihren Wert ergeben.
So können wir lernen, Eigennamen sinnvoll zu verwenden, oder den Sinn von Eigennamen verstehen, wenn wir sie in Ausdrücke wie „… ist verwandt/ist befreundet/ist bekannt mit …“ oder „… ist der Vater/ist die Tochter/ist der Schwager von …“ einsetzen.
Daß Haustiere wie der Hund Fips einen anderen grammatisch-semantischen Status haben als ihre Besitzer wie Peter, merken wir, wenn wir in den ungesättigten Ausdruck „… ist verheiratet mit …“ oder „… ist der Sohn von …“ Fips und Peter einsetzen.
Wir können nicht lernen, den Sinn des Wortes „Rose“ zu verstehen, wenn uns jemand auf die Blume hinweist und das Wort dabei ausspricht; denn wir könnten annehmen, er meine die Farbe Rot oder Weiß. Doch wir verstehen den Sinn, wenn wir lernen, in den Ausdruck „… sind Blumen“ die Namen Rose und Nelke einzusetzen und einen sinnvollen Satz erhalten, durch Einsetzen der Namen Fips und Peter aber einen sinnlosen.
„Rosen sind Blumen“ ist kein empirischer Satz über eine beliebige Eigenschaft von Rosen, sondern ein grammatischer Satz des Sinnes, daß er uns darüber belehrt, wie wir das Wort „Rose“ korrekt verwenden sollen; er impliziert den nicht minder unempirischen Satz „Rosen sind keine Tiere“, der uns darüber belehrt, wie wir das Wort „Rose“ ungrammatisch und daher sinnwidrig verwenden würden. In diesem Sinne sollen wir auch den grammatischen Satz „Tiere sind keine Blumen“ als einschränkende Regel über die Verwendung des Wortes „Blume“ verstehen.
„Rosen sind Blumen“ oder „Peter ist ein Mensch“ sind keine empirischen Sätze über faktische Wahrheiten, auch wenn sie so aussehen; sie gleichen vielmehr Sätzen wie „Vierecke sind flach“ oder „Zylinder sind dreidimensional“.
Wir könnten uns freilich auch eine Sprache denken, in der wir nicht wie in unserer die Ausschlußregel akzeptieren, wonach Blumen keine Menschen sein können; in der Welt des Märchens beispielsweise, in der eine Blume eine verzauberte Prinzessin ist, die durch den Kuß eines Prinzen wieder in ihre ursprüngliche Gestalt verwandelt wird.
Wir lernen den Ausdruck eines Gesichts oder einer Melodie als traurig oder heiter bezeichnen. Diese Weise der Prädikation hat Ähnlichkeit mit der Verwendung von Farbbegriffen, denn ebensowenig wie wir sagen können, diese Rose sei zwar völlig rot, aber auch weiß, können wir von einem Gesicht oder einer Melodie sagen, sie böten uns zwar den Ausdruck vollkommener Traurigkeit, seien aber auch heiter.
Wenn wir die Rose rot nennen, vergewissern wir uns nicht durch Introspektion, daß wir eine Rotempfindung haben, als würden wir mit dem Farbbegriff auf diese Empfindung zeigen und sie benennen.
Dies wird noch deutlicher im Falle der Verwendung psychologischer oder ästhetischer Prädikate wie traurig für ein Gesicht oder heiter für eine Melodie: Wir müssen nicht traurig oder heiter gestimmt sein, um den traurigen Ausdruck einer Miene oder den heiteren einer Melodie richtig zu bestimmen.
Der traurige Gesichtsausdruck mag uns auf den Gemütszustand der betreffenden Person verweisen; obwohl ein Clown oder Schauspieler eine solche Miene ohne innere Beteiligung aufsetzen kann. Daß wir eine Melodie als heiter auffassen, heißt aber nicht, wir könnten sie als Zeichen einer Gemütsbewegung des Komponisten verstehen, die ihn beschlich, als er die Melodie in die Partitur geschrieben hat; denn ebenso wie der Schauspieler verwendet der Komponist seine musikalischen Ausdrucksmittel gleichsam souverän und vermag sie wie Masken aufzusetzen – auch im Zustand der Depression kann er sich dazu durchringen, heitere Melodien zu schreiben.
Wir sagen, die Melodie und ihr ästhetischer Ausdruck stehen in einer internen Relation. – Damit erhalten wir eine wesentliche Auskunft über den grammatisch-semantischen Status ästhetischer Prädikate.
Die traurige Miene des Schauspielers ist eine mimische Maske (falls er von seiner Rolle hingerissen nicht tatsächlich Traurigkeit verspürt); die strikte Folgerung von der Beschreibung des Gesichtsausdrucks mit dem Prädikat „traurig“ auf den Gemütszustand des Schauspielers ist daher falsch. Wir müssen wie es scheint die Deutung des Gesichtsausdrucks von der Umklammerung empirischer Aussagen über seelische Zustände lösen. Dies gilt wie gesehen auch für die Verwendung ästhetischer Prädikate; die korrekte Zuschreibung des Prädikats „heiter“ auf die Melodie ist insofern notwendig wahr, als sie nicht durch die Entdeckung, eigentlich sei die Melodie traurig, falsifiziert werden kann.
Das ist überaus seltsam; denn gewöhnlich sind nur grammatische Aussagen wie „Rosen sind Blumen“ oder „Vierecke sind flach“ sowie logische Aussagen wie „Wenn Vierecke flach sind, sind Bögen keine Vierecke“ immer wahr oder grammatische Aussagen wie „Blumen sind Menschen“ oder „Geraden sind dreidimensional“ sowie logische Aussagen wie „Wenn keine Blumen Menschen sind, sind einige Menschen Rosen“ immer falsch.
Sind demnach Aussagen über den ästhetischen Ausdruck von Mienen, Gesten, Melodien, Bildern, Plastiken keine empirischen Aussagen?
Betrachten wir den ästhetischen Ausdruck „anmutig“, mit dem wir unseren Eindruck von Helgas Gang beschreiben. Wir können den Satz „Helgas Gang ist anmutig“ nicht empirisch verifizieren, indem wir ihn als korrekten Hinweis auf Helgas Gemütszustand beim Gehen verwenden; Helga wüßte nicht zu sagen, was es heißen soll, sich anmutig zu fühlen.
Wie lernen wir die Verwendung ästhetischer Prädikate? Nun, wir wissen, was es heißen soll, wenn wir einen Gang, eine Haltung, eine Geste als schwerfällig, hölzern, klobig, plump oder als gelöst, flüssig, elegant, harmonisch beschreiben. Wir können uns nicht in dem Sinne irren, daß wir eine plumpe Haltung gelöst, eine gedrungene anmutig nennen; auch wenn wir in manchen Fällen unsicher sind, ob wir die Haltung und Geste der balinesischen Tänzerin eher sublim oder gelöst, das Lächeln der Geisha eher geheimnisvoll oder hintergründig nennen sollen.
„Diese Rosen sind schön“ ist weder eine empirische Aussage über eine Tatsache in der Welt noch ein versteckter oder impliziter Hinweis auf unsere Empfindung und unseren Gemütszustand beim Anblick der Blumen. Welche Empfindung, welche Emotion sollte das sein? Es könnten alle mögliche inneren Erregungen ablaufen, und auch keine. Weil wir unmittelbar an den Dingen keine ästhetischen Werte auffinden, müssen wir den bequemen, aber leider falschen Schluß nicht ziehen, daß ästhetische Prädikate in Wahrheit psychische Eigenschaften seien; auf diese Weise lösten wir ästhetische Prädikate in psychologische auf. – Indes können wir, trotz Schopenhauers Intuitionen, den Sinn der Musik nicht als Ausdruck von Affekten verstehen, denn Töne entbehren der semantischen Dimension, auf der wir eine wenn auch metaphorische Rede über seelische Zustände und Gestimmtheiten aufbauen könnten.
Wir tun besser daran, unsere Zuschreibung ästhetischer Prädikate als aus der Kultur unserer künstlerischen Geschmacksbildung erwachsene Konventionen von Zeichen und Bezeichnungen zu verstehen, nicht unähnlich jenen konventionellen Manieren, denen gemäß wir uns bei der Begrüßung die Hand schütteln und freundlich lächeln oder beim Abschied winken.
Die dorische Säule mögen wir gedrungen heißen, die ionische elegant, die korinthische sublim; in Goethes Werk finden wir rokokohafte Verspieltheit und Ironie, klassische Wucht und Würde, barocke Verschlungenheit und manierierte Verstiegenheit – so bewegen wir uns Zug um Zug, Wendung für Wendung durch die Register und Repertoires des ästhetischen Sprachspiels.
Ja, wir können das Spiel mit allem spielen, was uns begegnet und nicht nur mit den eigens dazu geschaffenen Kunstwerken, sondern jedes Ding wie ein Kunstding oder Gegenstand unserer ästhetischen Anmutung betrachten, die Wolken, die Wellen, die Blumen, die Muschel, den Stein, das spielende Kind, das Antlitz des Toten.
Die ästhetischen Sprachspiele sind vielfältig wie die Notationen der Mathematik, wo wir ohne mit der Wimper zu zucken von der Notation der Arithmetik zu jener der Algebra wechseln.
Was wir arithmetisch notieren, ist nicht richtiger und wahrer als das, was wir algebraisch notieren; ebenso der Übergang vom Schönen zum Erhabenen, vom Graziös-Verspielten zum Grotesk-Manierierten, vom Barock zum Rokoko, von der Klassik zur Romantik, vom Realismus zum Impressionismus.
Das ästhetische Sprachspiel kümmert sich ähnlich wie die Logik gleichsam nur um sich selbst, ungeachtet aller äußeren Zwecke und Rücksichten. Nur angeblich philosophierende Kunstbanausen wollen uns weismachen, Ästhetik sei das schillernde Rad des Pfaus, unter dem sich die Nacktheit des sexuellen Begehrens verstecke, der dekorative Schnörkel am grauen Gewand der Schicksalsgöttin Evolution, die dick aufgetragene Schminke auf dem Antlitz der Muse, die bald unter der Wüstensonne der Wahrheit zerläuft.
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