Subjektivität und Welt
Kurze Skizze ihres internen Zusammenhangs
Ein Beitrag zur Theorie der Subjektivität
Subjektivität ist die transzendentale Bedingung der Möglichkeit, überhaupt Gedanken zu haben (1), sodann Gedanken nach wahren und falschen Gedanken zu durchmustern (2), Gedankeninhalte mit räumlichen Koordinaten oder zeitlichen Indices zu versehen (3) und die Vernetzung von Gedanken auf gültige Inferenzen zu analysieren (4).
(1) Gedanken haben einen propositionalen Gehalt p; der vollständige Ausdruck eines Gedankens lautet: „Ich meine, daß p.“
Gedanken können nur jemandes Gedanken sein; ein Gedanke, der nicht von jemandem gedacht wurde, wird oder werden könnte, ist kein Gedanke.
(2) Zu meinen, daß p, kann implizieren, daß nicht-q; nun wissen wir, daß r und s q implizieren; daher implizieren r, s und q die Tatsache, daß nicht-p; demnach war unsere ursprüngliche Annahme, daß p, falsch, und zu meinen, daß p, war ein falscher Gedanke.
(3) Wenn wir annehmen, daß unter Erdbedingungen sich die Kugel auf der schiefen Ebene zur Zeit t1 am Ort l1befindet, können wir mit Recht annehmen, daß sie sich zu einem Zeitpunkt t2, den wir nach der Messung von l1 ansetzen, am Ort l2 befindet, und die Streckendifferenz durch ein Gesetz bestimmen.
(4) Zu sagen, daß sich die chemischen Elemente in der Reihenfolge ihres Atomgewichts anordnen lassen, ist dasselbe wie zu sagen, daß sich die chemischen Elemente in der Reihenfolge ihrer chemischen Reaktionsfähigkeit anordnen lassen, denn die Reaktionsfähigkeit der Elemente ist eine Funktion ihres atomaren Aufbaus und ihr atomarer Aufbau bestimmt ihr atomares Gewicht. Die durch logische Inferenz gewonnene Einsicht in die Identität der Anordnungsmuster der Elemente ist die Grundlage des periodischen Systems.
Aus der Tatsache, daß wir Gedanken haben können oder kurz denken, schließen wir, daß die Welt, in der wir leben, eine geordnete Welt ist, deren Ordnungssysteme wir in Reihen, Mustern und Gesetzen abbilden. In einer völlig ordnungslosen und chaotischen Welt wäre uns Gedanken zu haben schlechterdings nicht möglich.
Wir gehen aber einen entscheidenden Schritt weiter und sagen, die Möglichkeit einer Welt der Ordnung nach Reihen, Mustern und Gesetzen impliziert das Dasein der Subjektivität als der Fähigkeit, die Welt als geordnetes System zu beschreiben, zu analysieren, zu denken.
Führt diese Annahme nicht zu scheinbar absurden Konsequenzen, als wäre beispielsweise die Ordnung des Periodensystems der chemischen Elemente eine Funktion der Leistung der Subjektivität und in dieser Weise nicht vorhanden, hätte Mendelejew sein Werk nicht geschaffen?
Diese absurde Folgerung vermeiden wir, wenn wir uns der transzendentalen Voraussetzung bedienen, daß die Existenz der Subjektivität einen internen Zusammenhang mit der Tatsache bildet, daß die Welt so ist, wie wir sie erkennen, nämlich als nach Reihen, Mustern und Gesetzen geordnet.
Es gilt demnach beides: Die Welt ist so beschaffen, daß wir als Subjekte existieren können, die ihre Ordnung erkennen, und sie ist so beschaffen, weil wir sie als so und so geordnet erkennen.
Das Zwischenglied, das wir brauchen, um uns diesen internen Zusammenhang zwischen Subjektivität und Welt klar zu machen, ist die Struktur der sprachlichen Aussage, die den Gedanken überhaupt oder den Gedanken, daß die Welt ist, wie sie ist, modelliert.
Die Aussage „Ich sehe einen Lichtfleck in meinen Gesichtskreis“ ist wahr und nicht bloß der Bericht über ein rein phänomenales Vorkommnis oder eine visuelle Halluzination, wenn wir zurecht annehmen können, daß der Fleck die Wirkung von Lichtstrahlen darstellt, die von einer Quelle wie der Sonne emittiert werden, deren Vorhandensein wir beispielsweise mittels Spektralanalyse nachweisen können. Wenn wir die Kausalität der visuellen Wahrnehmung festgestellt haben, können wir den Satz ersetzen durch die Aussage: „Ich sehe die Sonne“ und sie als wahr annehmen.
Nun leuchtet uns unmittelbar ein, daß eine Aussage wie die genannte nur möglich ist in einer Welt, in welcher Subjekte wie du und ich existieren, die sehen und visuell wahrgenommene Objekte als solche unterscheiden und identifizieren können.
Nehmen wir an, statt unser existierten Roboter, die kein Bewußtsein hätten und Aussagen wie „Ich sehe die Sonne“ weder bilden noch verstehen könnten, aber in der Lage wären, physikalische und chemische Informationen zu generieren und anzuwenden, also beispielsweise mittels Spektralanalyse die Identität des Himmelskörpers zu bestimmen, den wir sehen, wenn wir die Sonne sehen.
Unsere starke These ist nun, daß diese Welt einer nicht sichtbaren und nicht in sprachlichen Aussagen oder Aussagen unserer Sprache als Gegenstand vorkommenden Sonne eine andere Welt wäre als die, in der wir sagen: „Ich sehe die Sonne.“
Mithilfe der Betrachtung der sprachlichen Form unserer Gedanke, nämlich „Ich meine (denke), daß p“, können wir die eigentlich unvollständige Satzform „Ich sehe die Sonne“ zu der vollständigen Form „Ich sehe, daß die Sonne scheint“ ergänzen und die Einsicht bestätigen, daß die grundlegenden Einheiten, die wir gedanklich erfassen, keine Phänomene oder Dinge, sondern Tatsachen und Ereignisse darstellen.
Damit können wir die These vertiefen: Die Welt, in der wir leben, ist insofern in singulärer Weise unsere Welt oder die mit der Subjektivität intern verknüpfte Welt, weil nur in dieser Welt Tatsachen und Ereignisse derart vorhanden sind oder stattfinden, wie sie unsere Aussagen über Tatsachen und Ereignisse erfassen.
Wir sagen also, die Tatsache, daß die Sonne scheint, ist eine Funktion der Aussage der Form „Ich sehe, daß die Sonne scheint“, auch wenn die physikalische Realität, auf die sie sich bezieht, von Robotern mittels Instrumentarien wie der Spektralanalyse festgestellt werden könnte, Wesen, die niemals die Sonne gesehen haben und nicht verstehen könnten, was die Aussage „Ich sehe, daß die Sonne scheint“ bedeutet.
Der interne Zusammenhang von Subjektivität und Welt erhellt auch aus den interferentiellen Beziehungen und Mustern, mit denen wir die Ordnung von möglichen und wirklichen Tatsachen und Ereignissen darstellen: Wir können dem Täter nur unterstellen, die Tat begangen zu haben, wenn wir nachgewiesen haben, daß er an dem Ort, an dem er laut seines Alibis gewesen sein will, nicht gewesen ist, denn nur dann kann er am Tatort gewesen sein. Die Tatsache, daß er am Tatort gewesen sein kann, ist eine logisch schlüssige Folgerung in einem Modalkalkül, die keinem objektiven Sachverhalt entspricht.
Die Möglichkeit, Modelle des Realen zu bilden und sie in adäquaten Modalaussagen zu erfassen, ist augenscheinlich eine Funktion der Subjektivität, die gleichsam mit Versatzstücken der Realität hantiert, die sie aber nicht eins zu eins abbilden und von ihr auch nicht zwingend suggeriert werden.
Daß die Welt so beschaffen ist, daß wir ausgehend von unserem subjektiven phänomenalen Bewußtsein wahre Gedanken von ihr haben können, ist ein Rätsel, das wir deshalb nicht ohne weiteres entschleiern können, weil wir uns zu seiner Lösung außerhalb des internen Zusammenhangs von Subjektivität und Welt stellen können müßten – doch dies ist evidenterweise unmöglich.
Manche allerdings, die für die Wahrheit des internen Zusammenhangs von Subjektivität und Welt blind sind, hegen die absurde Hoffnung, eine Wissenschaft wie die Neurobiologie könne uns am Ende das Rätsel lüften. Aber das wäre ähnlich widersinnig wie zu erwarten, ein blinder und sprachunmündiger Roboter könne schließlich nach eifriger Analyse der physikalischen und chemischen Natur der Sonne und des von ihr emittierten Farbspektrums sein Labor verlassen und ausrufen: „Ich sehe, daß die Sonne scheint.“