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Der Kult des Authentischen

19.04.2016

Kurze Anmerkungen zur Theorie der Subjektivität

Wenn du mich mit der Floskel „Wie geht’s, wie stehtʼs?“ begrüßt, sollte ich mich deshalb dadurch zurückgesetzt fühlen, weil du diese selbe Floskel heute schon in den Mund genommen hast, um Krethi oder Plethi zu begrüßen, ja, diese Floskel schon abertausend Mal benutzt hast, um diese und jene mir ganz unbekannten und vielleicht unangenehmen Leute zu begrüßen?

Wenn wir schon geraume Zeit befreundet sind und ich deiner Bitte nachkomme, etwas mehr über das Handwerk der Dichtung zu erfahren, und also treffen wir uns in einer ruhigen Ecke des Parks, wo ich dir ein vorbereitetes Blatt mit einer Ode des Horaz nebst Übersetzung unterbreite, anhand dessen ich mehr oder weniger aufschlußreiche Kommentare zur Gedichtform der antiken Ode, zu Metrik und Wortschatz, zur Verwendung der Mythologie und hoffentlich auch zur Einbettung in die Lebenssituation des Dichters und die geschichtliche Lage zur Zeit des Augustus vom Stapel lasse. „Das ist ja wie in der Schule!“, könntest du sagen, und ich sage nicht nein. Wenn wir also bei dieser Begegnung auf gewisse Zeit in die Rollen von Lehrer und Schüler schlüpfen, wird dadurch das Bild unserer Freundschaft andere Züge annehmen und gleichsam mit Grautönen übermalt, werden wir aufgrund dieses Spiels als Freunde einander entfremdet?

Wir könnten vereinbaren, nur um das scholastische Spiel zu würzen, daß wir während des Unterrichts wie es sich für Erwachsene geziemt einander siezen, während wir natürlich nach seiner Beendigung wieder in den legeren Umgangs- und Plauderton fallen und uns freundschaftlich duzen. Würdest du dann zögern, mich zu duzen, oder würdest du eher zögern, mich im vereinbarten Spielraum zu siezen? Wiese dein Zögern, mich zu siezen, etwa auf den psychischen Umstand hin, daß du mich als Freund nicht wiederzukennen oder gar zu verlieren früchtetest, wenn wir Schule spielen und einander siezen? Empfändest du die Grenze zwischen dem freundschaftlichen Gespräch und dem Unterrichtsgehabe als Grenze zwischen dem eigentlichen und authentischen Bezirk und einem uneigentlichen und nicht authentischen?

Wir bemerken, daß unser alltägliches Leben sich nicht in neutralen Räumen abspielt und nicht von gesichtslosen Agenten betrieben wird, sondern immer in konkreten Situationen und von Mitspielern, die ihre jeweilige soziale Rolle mehr oder weniger geschickt ausüben. Von einer Situation in die andere zu wechseln, die eine Rolle mit der anderen zu vertauschen stellt dabei kein grundsätzliches Hindernis dar.

Zu wähnen, weil mich die Wurstverkäuferin freundlich angelächelt oder finster angeblickt hat, sie habe damit ihre freundschaftliche Zuneigung oder eine feindliche Haltung signalisiert, die mich über die Lokalität des Supermarkts hinaus begleiten, beschäftigen und verfolgen müßte, deutete auf eine Störung meiner Fähigkeit, die Funktion sozialer Rollen im Zusammenspiel des Alltags zu identifizieren. Wir sprechen im Extremfall von einer psychotischen Beeinträchtigung der Subjektivität, wenn ich beispielsweise die Tatsache, daß mein Arbeitskollege mir heute mit Nachdruck nahegelegt hat, den Auftrag endlich zu erfüllen, als Zeichen einer heimtückischen Verfolgungs- und Erniedrigungsabsicht deute, oder die Tatsache, daß mir der Chef heute höflich die Tür geöffnet hat, als Zeichen einer privilegierten Stellung, die mich vor den Kollegen auszeichne und mich berechtige, morgen einmal das Klingeln des Weckers zu überhören.

Wenn der Standesbeamte unter Zeugen die eindeutig geäußerten Willensbekundungen des anwesenden Paares, einander das Eheversprechen zu geben, konstatiert und beurkundet hat, ist die Ehe formal geschlossen, gleichgültig, in welcher seelischen Verfassung sich der Beamte befunden haben oder ob er gar mit aversiven Gefühlen gegen die Anwesenden während der Amtshandlung erfüllt gewesen sein mag.

Wir sehen, das Amt definiert einen Spielraum des Handelns, der von den subjektiven Haltungen, Einstellungen und Gefühlsregungen des Amtsträgers und zumeist auch denen der von der Amtshandlung Betroffenen unabhängig ist. Die von Amts wegen ausgeführten Handlungen und Zeichen behalten unabhängig von der Subjektivität der von der Amtshandlung betroffenen Personen ihre Geltung und Gültigkeit.

Dies gilt sensu fortiori vom Amt des Priesters. Wenn der Priester im römischen Ritus die feierlichen Wandlungsworte spricht, durch die Brot und Wein in den Leib und das Blut des Herrn transubstantiiert werden, er aber in diesem Augenblick geistesabwesend ist oder gar von verstörenden, schrecklichen, obszönen Gedanken heimgesucht werden sollte, so bleibt nach katholischer Lehre die heilige Handlung, die von dem geweihten Manne in seiner liturgischen Rolle ausgeübt wird, im geglaubten Ausstrahlungsfeld des Heiligen Geistes unangetastet und wirksam.

Wenn du mich im Schulspiel als Lehrer siehst, so ist die optische Metapher des „Sehens als …“ nur ein Bild für eine soziale Tatsache, die nicht an die visuelle Wahrnehmung gebunden ist, sondern eine Funktion des kommunikativen und sozialen Handelns darstellt: Du siehst mich als Lehrer, will heißen: Du antwortest sachlich auf meine Fragen, arbeitest zu Hause deine Schulaufgaben ab und meldest dich nur, wenn du aufgerufen und gefragt wirst – du handelst so, wie ein Schüler in der Schule zu handeln pflegt (oder sich benehmen sollte).

Die transzendentale Philosophie Fichtes, dem das Verdienst, den epistemischen und ontologischen Sonderstatus der Subjektivität herausgestellt zu haben nicht bestritten sei, hat allerdings auch den schiefen Gegensatz von Subjektivität und Objektivität zur Geltung gebracht, der in der sogenannten Existentialphilosophie eines Heidegger und Sartre zu fatalen Unklarheiten und wirkungsmächtigen Mißverständnissen weitergediehen ist. Um nur dies zu nennen: Nach Heidegger ist das Dasein (wie er neudeutsch die Subjektivität umgetauft hat) in der Gefahr, im Umgang mit den Dingen und Mitmenschen sein eigentliches Sein, das sich ihm in der einsamen Angst vor dem Tod offenbart, zu vergessen. Nach Sartre ist das être-pour-soi (wie er neufranzösisch die Subjektivität umgetauft hat) in der Gefahr, durch den Blick des anderen sein eigentliches Sein, das sich ihm in der Freiheit des immer erneuten Entwurfs offenbart, zu vergessen und zum Ding unter Dingen zu entfremden.

Beide Modelle der Subjektivität kranken an einer mangelnden Bestimmung der Sprache als Medium der Verständigung. Wenn du mich bittest, für dich einen Brief an deinen Geschäftspartner oder ein Amt zu entwerfen, und ich komme der Bitte gerne nach, kann ich ohne Umschweife und innere Barrieren deine Sicht der Dinge auf Zeit übernehmen: Ich kann in deine Rolle und Haut schlüpfen, ich kann Worte in deinem Sinne drehen und wenden, ohne damit Gefahr zu laufen, den Sinn für mein Selbstsein zu verlieren.

Wir bemerken, daß wir im Gebrauch der Worte von anderen unsere Subjektivität nicht preisgeben, denn wir kommen zu dem Schluß, daß wir nicht nur Briefe für andere und in deren Auftrag verfassen oder als ihre Sprecher oder Fürsprecher auftreten können: Vielmehr gebrauchen wir, auch wenn wir im eigenen Namen sprechen, immer und überall die Worte der anderen. Denn die Sprache haben wir nicht gemacht, sondern sind in sie hineingeboren und hineingewachsen: Und es paßt kein Blatt zwischen uns und die Worte, die wir verwenden, um auszudrücken, was wir fühlen und denken, erwarten und beabsichtigen.

Wir schließen daraus, daß der Gegensatz zwischen der Objektivität der Mittel und der Subjektivität ihrer Verwendung, jedenfalls was die Sprache anbelangt ist, schief und mißverständlich ist.

Wenn du im Blick der alten, gebrechlichen Dame die schüchterne Aufforderung liest, ihr die Tür zu öffnen, und du kommst ihrem Ansinnen nach und unterstreichst deine höfliche Geste mit der freundlichen Floskel „Bitte schön! Gern geschehen!“, wurde dann durch den Blick dieses anderen deine Subjektivität eingeschränkt, entfremdet oder verdinglicht? Im Gegenteil, dürfen wir sagen, die kleine Begegnung hat dein Leben ein bißchen reicher gemacht, weil du eine sonst wenig ins Licht gerückte Möglichkeit des Gebarens, Freundlichkeit und Höflichkeit, gestisch und verbal zum Ausdruck bringen konntest. Warst du etwa weniger du selbst, weil du dich der Allerweltsfloskel „Bitte schön! Gern geschehen!“ bedient hast? Aber wir sagen zumeist oder immer das, was andere schon zumeist oder immer im Munde geführt haben, ohne dadurch im mindesten an Eigenart und Eigensinn zu verlieren.

Schon seit Menschengedenken haben Leute dies und das einander versprochen, mit Worten und Gesten, die wie ein Ei dem anderen gleichen. Aber wenn du mir nun versprichst, mir morgen rechtzeitig das geliehene Buch zurückzubringen, hast du dich mit deinem Versprechen in einem moralisch entscheidenden Sinne gebunden und verpflichtet, durch dein Handeln auszuführen, was deine Worte angekündigt haben. Du allein bist es, der das Gesagte wahr machen kann (auch wenn du einen Freund schickst, weil du selbst verhindert sein solltest: Dann hast eben du ihn geschickt). Dies ist der legitime Sinn von Subjektivität, den wir philosophisch gelten lassen können.

Was hat es nun mit der vielbeschworenen Authentizität auf sich, derer wir uns, wie wir aus dem Munde soignierter Moderatoren vernehmen, im Umgang mit uns selbst und den anderen anheischig machen und befleißigen sollen? Sie ist der Leerformel vergleichbar, wenn du nach der Äußerung deines Versprechens mit Nachdruck sagst: „Das meine ich ernst“ oder „Das kannst du mir glauben“. Doch wenn du dein Versprechen ernst gemeint hast, erübrigt sich der verbale Aufwand, und wenn nicht, helfen alle Beschwörungsformeln nichts.

Authentisch sein zu wollen ist eine Form des sozialen Kitsches, die sich bestimmter Kennzeichen bedient, die den Träger aus der gemeinen Menge herausheben sollen, wie weiland, als man in den angesagten Cafés in Paris mit schwarzem Rollkragenpullover herumsaß, um zu demonstrieren, man habe Sartre gelesen und sei Existentialist. Indes, täglich kamen mehr junge Männer mit schwarzen Rollkragenpullovern in dasselbe Café … Aber kaum einer dieser Burschen hat sich der Mühe unterzogen, die dicken Schwarten Sartres zu lesen, und kaum einer wußte eine sinnvolle Antwort auf die Frage, was er unter Existentialismus verstehe.

Die großen Gesten des Authentischen erweisen sich in diesen Fällen als Gegenteil dessen, was sie sein sollen: Sie sind modischer Firlefanz und Talmi und damit eine Form des uneigentlichen Seins, der mauvaise foi.

Ein häßlicher Zwerg geriert sich als begehrenswerter Beau und unwiderstehlicher Don Juan. Eine dickliche, puterrote Madame, die sich fortwährend mit einem Batisttüchlein den Schweiß von der Stirn wischt, wähnt, wenn am Nebentisch von der bezaubernden Grazie die Rede ist, die heute Abend alle in den Bann schlägt, sie sei gemeint. Ein halbgebildeter, parfümierter Salonlöwe, der glaubt, Vergil sei eine klassische Seifenmarke, dünkt sich einen neuen Poète maudit, weil er manisch zerrissene Zeitungschnipsel willkürlich zusammenleimt und als poetische Kreationen seines sogenannten Unbewußten feilbietet. – Nun, hier würden wir nicht anstehen zu behaupten, daß solche Damen und Herren der Schöpfung des Echtheitssiegels ermangeln. Unecht ist, was sie von sich glauben, was sie von sich geben und was sie kreieren. Aber ihre fatale Erscheinung ist leider alles andere als unauthentisch. Denn so leiben und leben sie allenthalben unter uns.

Vorgeben, jemand zu sein, der zu sein seine seelischen Bestände nicht hergeben, ist kein postmoderner Schick, sondern eine psychische Deformation, für die es allerdings nicht an Beifall von den Logenplätzen jener mangelt, die sich in diesen lächerlichen Komödianten des Seins wiedererkennen.

Entreißen wir die erhabenen Begriffe ihrer falschen Aura und ernüchtern die hitzigen Köpfe, die mit ihnen ihren Kult treiben, indem wir sie auf den Boden des alltäglichen Gebrauchs zurückstellen. Die gefälschte Urkunde ist unecht. Der Heiratsschwindler kein wirklicher Ehemann, sondern ein Betrüger. Der gefälschte Cézanne überhaupt kein Cézanne. Hier greifen wir den sprachlich soliden Sinn des Nichtauthentischen, mit dem wir umgehen und arbeiten können.

Daß wir als Subjekte sind wie alle anderen, die behost und bebrillt, pickelig oder geschminkt daherkommen, und dennoch unvertretbar und einzigartig in dem trivialen, aber elementaren Sinne bleiben, daß du nicht mein und ich nicht dein Versprechen einhalten kann, macht nur überschlauen Philosophen Kopfzerbrechen. Wir anderen können damit ruhig leben.

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