Überm Rath
Ein Gang vom Schönstätter-Kapellchen in Koblenz-Metternich bis zu den Moselfischern von Güls
Wenn du dein Herz der Madonna weihst, findest du Beheimatung in ihrem Herzen. So heißt es, so sagen sie, so steht es geschrieben. Mutter hatte die zerlesenen Broschürchen über den Gründer der Schönstatt-Bewegung, Pater Josef Kentenich, aus Vallendar mitgebracht. Darin las sie, oder vielmehr sie pickte wie ein hungriges Vögelchen die Worte und Buchstaben aus den Zeilen. Und mit den Lippen formte sie die Laute vor sich hin. Und die Laute streute sie wie Küsse in die Luft.
Der Gang zum sogenannten Schlösschen auf dem ersten Eifelhügel in der Trierer Straße, wo es bald abbiegt Richtung Windmühle und zu dem Flecken Bisholder, und die Rosenkranzandacht in der Gnadenkapelle waren Pflicht, zumal im Marienmonat Mai, und waren eine mit künstlichen Perlen und Talmiglimmer ausgezierte Schatulle für ein süß-quälendes Geheimnis. Der Rosenkranz hat zwar 59 Perlen und Stationen, war dir Schlingel aber ein über die Ufer des Traumes schwappendes, lichtschäumiges Wasser, in das du untertauchtest, nach Luft schnappend. Da durftest, kleiner Racker du, mit nichts als Erdbeerkuchen und Durch-den-verwilderten-Garten-Stromern im Sinn, Tapferkeit lernen, bis die Knie wundgescheuert waren – damals liefst du ja, wenn immer es das Wetter erlaubte, erfreulicherweise in kurzen Lederhosen herum.
Mysteria gaudii, mysteria doloris, mysteria gloriae. Geheimnisse der Freude, Geheimnisse des Leidens, Geheimnisse der Glorie. Und ein kleines Geheimnis für das Kind: Die gebeteten „Gegrüßet seist du, Maria“ verwandeln sich in den Händen der Madonna in echte Rosen.
Was ist denn geblieben, mein Herz? Hoffentlich mehr als der betörende Duft des Weihrauchs, den auch der Teufel und seine ausgefuchsten Feuilletonisten nicht aus dem Sinn verbannen können, und die Sehnsucht nach jenem Glück der Entrücktheit von Zeit und Welt, die geschah, sobald der Schmerz in den Knien nachließ und verschwand.
Gehen wir über die Felder, nehmen wir uns Zeit, wenn die Schatten schon länger werden und die Äpfel in der Dämmerung glühen. Gehen wir und reden oder schweigen wir. Du zeigst mir den Obelisken mit dem preußischen Adler und dem Eisernen Kreuz auf dem Kimmelberg, errichtet zum Gedenken an die Gefallenen der Völkerschlacht von Leipzig im hundersten Jahr nach dem Ereignis. „Den Toten zu Ehren, den Lebenden zur Mahnung.“ Hier bist du oft gesessen, auf dem kalten Basalt aus den nahen Steinbrüchen bei Mayen, mit dem Blick ins Tal, drüben Sankt Kastor, Liebfrauen mit der lieblichen Mondsichelmadonna, Sankt Florin, dann die der Stadt Koblenz von der Kaiserin Augusta gestifteten und von Peter-Joseph Lenné ausgeführten Rheinanlagen, die Balduinbrücke, vor dir die Mosel, auf der die römischen Ruderboote Legionen und köstliche Fracht aus dem Süden, aus Gallien und der Provence, brachten (über die Vogesen musste alles über Land geschleppt werden, damals, und erst bei Epinal gingʼs wieder flussaufwärts). Dann kamen die Treidler mit den schweren Kaltblütern, der Erzbischof Balduin kam von seiner Residenz in Trier höchstselbst auf eigenem buntbewimpelten Schiff und ankerte vor seiner Trutzburg, die den Koblenzern unwirsch-düster entgegenblickt.
Auch nach dem Bau der Staustufe fror die Mosel noch zu. Damals, als du mit der Mutter täglich über das Eis gegangen bist, Richtung Krankenhaus Kemperhof, da lag der Vater nach dem schweren Unfall. Es war spät am Abend, ihr kamt vom Fährhaus am Stausee, was hattet ihr zu feiern, der Fahrer beging Fahrerflucht, Mutter lag die ersten Wochen wegen Gehirnerschütterung im verdunkelten Zimmer in der Wohnung der Großeltern. Du durftest nur auf Zehenspitzen dann und wann hineinschauen. „Ja, ist gut, sei schön brav und mach deine Hausaufgaben!“ Vater wollten sie das zertrümmerte Bein amputieren, da half nur noch Beten.
Jetzt erst spürst du mit dem sich erwärmenden Stein, über die Nerven deiner starken Beine spürst du die Verbindung, knüpfst du dich an, weißt dich auf dem Kimmelberg in der Mitte der Welt und des Daseins. Ja und ja! Drüben der Rhein hat über die Donau die Verbindung zum Schwarzen Meer, und auf dem Kimmelberg weht es aus dem Orient zu dir her. Die Mosel verbindet dich über Lothringen mit Gallien und der mediterranen Welt. Ja, erspüre mit dem Allerwertesten den Sinn des Seins und betrachte das Lebensgeflecht deiner Nerven, Adern, Venen, Kapillaren, der Gedanken und dich wie ziehende Wolken beschattenden Empfindungen als göttliches Abbild der Ströme und Winde, der wandernden Vögel, Herden und Fische.
Wie köstlich ist dieses Fühlen, wie selten, wie schnell wird es fahrig, wie schnell übertäubt. Der Dämon der Vernichtung und der Dämon der Taubheit sind Zwillinge, die auf ewig die Heiligkeit des Lebens, die schlichte Freude des Daseins, den rechten Anstand der Liebe bespucken, würgen, niederreißen. Die schwärzeste Welle der Vernichtung riss am 6. November 1944 die altehrwürdige Stadt in Tod und Verwüstung. Kirchen wie Sankt Kastor, Liebfrauen, Sankt Florin, wo der große Nikolaus von Kues ein Kanonikat innehatte, zusammen mit dem Bürresheimer Hof, dem Alten Kaufhaus und dem Schöffenhaus am Florinsmarkt, die Herz-Jesu-Kirche, Klöster wie das ruhmreiche Dominikanerkloster an der Weißergasse, Schulen, auch deine Schule, das Görres-Gymnasium, die ehemalige Jesuitenschule, die Fachwerkhäuser der Altstadt, die prächtigen Bürgerhäuser der Vorstadt, das kurfürstliche Schloss – geisterhaft starrende Ruinen.
Dir geschah die Injektion der Betäubung, du weißt es, hier auf dem Kimmelberg, als du Norbert, des Küsters Sohn, Liebling der Musen, sangesfroh und lebensklar, der mit dir gewandert ist, mit dir gesungen und gebetet hat, mit seelenlosem Pubertätsgewäsche übergangen, vor den Kopf gestoßen hast. Als wäre über Nacht eine gelbliche Reptilienhaut dir über den Augapfel gewachsen, als wären die Poren der Haut mit dem eklem Schleim enthemmter Drüsen versiegelt worden. Mit einem sich verengenden magischen Eisenring um die Schläfen bist du herumgehampelt und am Leben vorbeigestolpert.
Auf jetzt, keine Fissemadenten mehr, zum Weg Überm Rath nach Güls! Du hast doch hoffentlich eine Hasenpfote oder Kastanien in der Hosentasche, die gegen den Kobold und Troll helfen, der hier sein Unwesen treibt? Die Jesuiten, am Studium der Antike ernüchterte heimliche Atheisten, verbreiteten das Gerücht, ein böser Troll treibe auf ihrem Fronhof und den Stallungen zu Güls sein freches Unwesen. So hielt man sich Diebsgesindel vom Halse. Man raunte, der Dämon sei die ruhelose Seele eines gewissen Servatius, eines Treidlers an der Mosel, der im 17. Jahrhundert den Strick nahm. Erst spukte er bei seinem Weib herum, doch die trieb ihn mit Weihrauch aus. Andere meinten, der Troll sei der verstorbene böse Vogt aus dem Mainfränkischen, der in der Mosel ertrunken ist, ein wahrer Menschenschinder und Aasgeier. Auch er ging öfters den Weg Überm Rath, bis er ihn nicht mehr ging. Mancher hört ihn in der Nacht, er schreit, wie die Eule schreit.
Jetzt sind wir bei den Moselfischern und erweisen Respekt vor ihren Fängen: Zander, Stör, Rotauge, Karpfen, Hecht, Meerforelle, Lachs und Aal. Das Wunder der Aale. Sie kommen um die halbe Welt, um in Rhein und Mosel zu wachsen und das Fett für das kommende Abenteuer anzuspeichern. Dann durchschwimmen sie Jahre lang tausende Kilometer gegen den Golfstrom des Antlantischen Ozeans, während ihnen der Darm verkümmert und die Geschlechtsdrüsen sprießen, um in ihrer alten Heimat zu laichen und zu sterben. Und ihre Brut tut es ihnen nach. Bis der Kreislauf des Lebens vollendet ist.