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Natur ist alles, was beißt

25.03.2016

Die Sonne verzehrt das Meer.
Das Meer nagt an der Küste.
Der Mond trinkt aus dem Meer.
Die Nacht verdaut den Mond.

Natur ist alles, was beißt –
dich plötzlich heimtückisch anspringt,
kläffend, schnaubend, glotzend,
aus triefenden Lefzen blendende
Elfenbeinfänge dir in die Wade schlägt.
War es ein Hund, ein Werwolf, ein Gespenst,
das sich im grauen Dunst über dem Tal
selbst entzündet und zu deinem warmen Blut
mit rauschlosen Flügeln gefunden hat?

Natur ist alles, was beißt –
alles, was krabbelt und wabbelt,
schnüffelt und schnuppert,
schlabbert, sudelt und schlürft,
alles, was mit Fühlern und Saugern,
Augen und Antennen,
Poren und Ohren
den weichen Rist, die Aprikosenwade
ortet und vermißt –
mit hörnenen Griffeln, mit lurchigen Schnorcheln,
mit Tatzen und Striemen malenden Pratzen
den abgezwackten Brocken, die abgehackte Flosse
in die Höhle der Höhlen stopft.

Natur ist alles, was beißt –
und zerfetzt und zersetzt
im Fleischwolf der großen Analyse,
nach der die schöne Gestalt,
entgliedert, geseiht und entschlackt,
als toter Wurm der Formlosigkeit
in die Nacht der nichtigen Wahrheit klatscht.
Und doch zerlöst der Magensaft
des Sonnentaus nicht dionysisch sich selbst –
die bacchische Träne nährt
die apollinische Eigen-Gestalt
der blühenden Sonne, des Pferdeauges und
eines von dunklen Liedern blutenden Munds.

Natur ist alles, was beißt –
erst Witterung aufnimmt und sich heranpirscht,
Tatze für Tatze, Wirbel um Wirbel,
speicheldrüsig, giftschäumig,
dann sich auf die Lauer legt, spitzen Ohrs,
straffen Lids, mit Blicken tastend, geckend, neckend
– ein Schatten zuckt,
das Gerippe, das Gehäuse, die Kalotte ganz ausgeräumt,
das Aas umgestülpt bis ins leuchtende Gedärm,
wie ist es, ward die Blutkruste aus dem Fell geleckt,
das Pfötchen manierlich trockengezüngelt,
wie ist das Leben friedlich und sanft,
wenn es verdaut,
wenn die überdrüssigen Augen sinnlos
über die graue Schiefertafel des Regens rollen.

Natur ist alles, was beißt –
und du bleibst wach an der Wunde,
das Gedächtnis der Wunde,
und denkst ihrem Glucksen und Raunen nach,
wanderst mit ihr im Traum
über den ganzen Kontinent deines Leibs,
die traurige Heide und das von Menhiren
bewachte Urstromtal,
erwacht in meinen Armen schaust du
mit deinen Ich-armes-Teufeli-Augen,
die sich nur unter den welken Blättern
herabgefallener Küsse einmal schließen,
dabei lockert dich schon ein Kribbeln,
ein fein sich runzelndes Lächeln,
das über der Stelle glänzt,
wo der böse Hund dir
zu einer Narbe verhalf,
eines denkenden Liedes nicht unwert.

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